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Gute Mädchen, böse Jungs? Toxische Weiblichkeit, apokalyptische Männlichkeit

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"Mutti" und "Girl Boss" mit Markus - einem eventuell "apokalyptischen Mann" - auf dem Grünen Hügel.

"Mutti" und "Girl Boss" mit Markus - einem eventuell "apokalyptischen Mann" - auf dem Grünen Hügel.

(Foto: IMAGO/Panama Pictures)

Überstunden im Unternehmen schieben, Mansplaining hinnehmen und die Wäsche des erwachsenen Sohnes waschen - Autorin Sophia Fritz deckt in ihrem neuen Buch weibliches Verhalten auf, das dazu beiträgt, Misogynie aufrechtzuerhalten. Hat die erfolgreiche Powerfrau ausgedient?

Bisher waren die Rollen im Geschlechterkampf klar verteilt: Männer sind die Täter, manipulativ, aggressiv und kontrollierend. Frauen und nicht-binäre Personen sind ihre Opfer. Sie sind betroffen von physischer Gewalt, Sexismus und Unterdrückung. Im heutigen Spätfeminismus geht der Appell zur Veränderung vorrangig an die Männer – auch damit diese selbst weniger am Patriarchat leiden.

Die Autorin Sophia Fritz stellt diesen Grundsatz nun mit ihrem Essay "Toxische Weiblichkeit" infrage. Sie sieht in der Gesellschaft nicht nur toxisch-männliche Verhaltensweisen verankert, sondern auch welche, die explizit als weiblich gelten. Die offensichtlichsten sind "hinterhältig", "berechnend", "verräterisch". Es gibt aber auch Eigenschaften, die auf den ersten Blick geradezu gegenteilig wahrgenommen werden, so etwa "stark", "unabhängig", "unkompliziert". Das sind die Werte der "selbstbewussten Powerfrau" – eines von fünf Stereotypen, die Frauen in einer misogynen Gesellschaft zugeschrieben werden und anhand dieser Fritz auch das Toxische verdeutlicht. Daneben gibt es noch "das gute Mädchen", "die fürsorgliche Mutti", "das hilflose Opfer" und "die egozentrische Bitch".

Die Autorin von "Toxische Weiblichkeit", Sophia Fritz.

Die Autorin von "Toxische Weiblichkeit", Sophia Fritz.

(Foto: Sophia Fritz)

Indem sie auf diese Fremdzuschreibungen zugreift - die durch den Psychologen Carl Jung seit Anfang des 20. Jahrhunderts auch in der Tiefenpsychologie verankert sind und seit noch längerer Zeit in Literatur, Film und Kultur Eingang finden - verdeutlicht sie, wie Frauen ihre Individualität abgesprochen wird und sie auf Prototypen von Weiblichkeit reduziert werden. "Gleichzeitig wollte ich auch bewusst die Ressourcen und Stärken der jeweiligen Stereotypen herausarbeiten, die ja sonst schnell unter misogynem Spott unbemerkt bleiben. Von denen gibt es einige, derer wir Frauen uns noch bewusster werden sollten — das ist für mich Empowerment", sagt Fritz zu ntv.de. Denn so können Frauen und nicht-binäre Personen aktiv zur Beseitigung von Misogynie beitragen und müssen nicht in der unterlegenen Rolle verharren, bis Männer ihr Verhalten ändern.

Das "gute Mädchen" ist nahbar – doch zu welchem Preis?

Das "gute Mädchen" etwa nimmt seine Rolle ein, um möglichst keine Probleme oder Konflikte zu bereiten. Fritz hinterfragt, wie authentisch man selbst ist, wenn man immer nett und vertrauensvoll erscheint. Ist echte Nähe überhaupt möglich oder wird diese nur vorgegaukelt, um nirgends anzuecken und alle zum Freund zu haben? Die Unfehlbarkeit des guten Mädchens kostet Energie und bereitet Stress. Wer immer nur gefallen will, hält eigene Grenzen nicht ein und passt sich so sehr an, bis die eigene Person völlig entfremdet, falsch oder unkenntlich wird.

Die Powerfrau dagegen ist unabhängig, selbstbewusst und versucht primär, mit den Männern im Patriarchat mitzuhalten, sie ist auch bekannt als "Girl Boss" oder "Working Mom". Fritz sieht die Kraft der Powerfrau in der Selbstkontrolle, um wenig angreifbar zu sein. Sie versteckt Emotionen, Schwächen und Fehler. Keine Aufgabe ist ihr zu groß oder zu viel, der Kapitalismus freut sich so lange über ihren Elan, bis die Powerfrau erschöpft und ausgebrannt ist. Dennoch scheint "ihr Weg im Patriarchat oft die einzige Strategie für Sicherheit und Unabhängigkeit zu sein", wie Fritz in ihrem Buch schreibt.

Apokalyptische Männlichkeit

Toxische Weiblichkeit kann jedoch nicht auf eine Stufe mit dem männlichen Pendant gestellt werden. Laut Fritz begehen Männer häufiger Suizid, sterben früher, sind suchtgefährdeter und werden im Falle einer unnatürlichen Todesursache häufiger von anderen Männern umgebracht. Doch während Männer ausschließlich unter ihrer eigenen Prägung leiden, leiden Frauen unter Männern und unter sich selbst: "Toxische Weiblichkeit schadet in erster Linie den Frauen", ist sich die Autorin sicher. Frauen beuten sich selbst aus, wenn sie im Arbeitsleben zu jeder Aufgabe Ja sagen, um nicht als leistungsschwach zu gelten und übernehmen im Privaten sämtliche Care-Arbeit, um eine fürsorgliche Mutter zu sein. "Der Unterschied ist gravierend in dem Sinne, dass toxische Weiblichkeit nicht dem Erhalt einer Machtposition dient. Es ist eine Notlösung, der Versuch, aus einer unterdrückten Position heraus Kontrolle, Sicherheit oder Macht zu generieren", sagt Fritz.

Eine Gleichstellung sei auch deshalb nicht möglich, weil dem toxisch Weiblichen unterbewusst sogar mehr Substanz zugesprochen werde. "Der Soziologe Andreas Kemper sagt, dass wir das Toxische, Giftige seit Jahrhunderten mit Weiblichkeit verbinden, mit Hexen und Giftmörderinnen. Viele Tiere, die mit Gift töten, haben weibliche Pronomen, wie die Spinne oder die Schlange. Während Tiere, die mit brachialer Gewalt töten, häufig männliche Pronomen haben, etwa der Tiger, der Eisbär. Er plädiert deshalb, nicht von toxischer Männlichkeit, sondern von brachialer oder apokalyptischer Männlichkeit zu sprechen", erklärt die Autorin.

Manchen Feministen und Feministinnen mag allein die Idee von toxischer Weiblichkeit misogyn erscheinen. Auch der Autorin war bei dem Gedanken zunächst unwohl, da sie mit dem Konzept selbst zur Angeklagten werden könnte und Frauen die Opferidentität absprechen würde. Doch Fritz plädiert für eine angemessene Reflexion des eigenen Selbstverständnisses und der eigenen Verantwortung, "um ein grundlegend neues gesellschaftliches Miteinander zu schaffen, das auf essenziellen zwischenmenschlichen Werten wie Liebe und Vertrauen beruht", wie sie in ihrem Buch schreibt. Die Kritik richtet sich auch nicht allein an Frauen, sondern an alle, die diese Eigenschaften besitzen – und das kann, ähnlich wie bei toxischer Männlichkeit, auch das andere Geschlecht sein.

"Die Mutti" braucht nicht mal Kinder

Ein weiterer, weiblicher Prototyp ist "die Mutti", die jedoch keine Kinder haben muss, um diesen Titel zu bekommen - siehe Angela Merkel. "Die Mutti hat eine natürliche Machtstellung innerhalb der Familie und stellt gleichzeitig durch die tiefe Verwurzelung im Patriarchat keine Gefahr für die Grundstrukturen der Gesellschaft dar", schreibt Fritz. Anders als die Powerfrau rennt die Mutti nicht gegen die Grenzen des Patriarchats an, sondern schafft sich ein gutes Leben innerhalb ihres Hauses, in dem sie die Kontrolle, Übersicht und Macht behält. Die Fürsorge der "Mutti" geht weit über ihre persönlichen Grenzen hinaus, negative Emotionen äußert sie nicht durch ehrliche Kommunikation, sondern durch häusliche Tyrannei und Vorwürfe an Mann und Kinder.

Die Frau als das schwächere Geschlecht: Sie ist das Opfer vom Patriarchat, von fremdgehenden Männern oder den Strukturen am Arbeitsplatz. Laut Fritz kann "die Opferrolle der ultimative Joker sein, um sich vor jeder Art von Konfrontation zu drücken. Das Opfer trägt keine Schuld und keine Verantwortung. Das Opfer ist Opfer." Wer sich immer nur als Opfer sieht, wird nicht aktiv Verantwortung für das eigene Leben übernehmen.

Frauen hassen Frauen

Wer das dagegen tut, ohne Rücksicht auf Verluste, ist "die Bitch" oder zu Deutsch "die Schlampe". Sie mag laut Fritz zwar "erfolgreicher, anziehender und souveräner sein" als man selbst, aber durch die eigene moralische Überlegenheit zur Bitch degradiert ist dieses Denken Misogynie in ihrer reinsten Form. Das Erotische an ihr ist billig und zieht fragwürdige Männer an, deren Gesellschaft sie jedoch ablehnt.

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Fritz legt an dieser Stelle auch ihre eigene Frauenfeindlichkeit offen: "Ich verspüre dann diesen Impuls, Frauen das Erotisierende austreiben zu wollen, ihnen ihre unpraktischen Gelnägel abzuschneiden, das kaputte Blond auszuwaschen, die falschen Wimpern abzuziehen, damit sie sich endlich mal beherrschen." Feministinnen versuchen den Begriff für sich zu beanspruchen, etwa mit "Boss Bitch", die radikal auf Selbstverwirklichung setzt. Doch die "Bitch" gilt weiterhin als illoyal gegenüber anderen Frauen, desinteressiert an der Veränderung des Patriarchats und manipulativ, um ihre Ziele zu erreichen.

Dem Begriff der toxischen Weiblichkeit ist Fritz zum ersten Mal im Internet begegnet. Dort wird er hauptsächlich von rechten und ultrarechten Anhängern genutzt, die ein Pendant zur toxischen Männlichkeit schaffen wollen und ihre Abneigung gegenüber Feminismus deutlich machen. Auch deshalb schrieb Fritz dieses Buch: "Ich möchte nicht, dass der Begriff von misogynen Gruppierungen geprägt wird, sondern dass wir ihn uns selbstbewusst und feministisch aneignen und schauen, wie das Sprechen über toxisch weibliche Prägungen zu mehr Solidarität und Vertrauen unter Frauen führen kann." Die 26-Jährige distanziert sich davon, Frauen für ihr Verhalten zu beschämen und an den Pranger zu stellen, ihr geht es vor allem um die Reflexion dieser Verhaltensweisen, die sie im Buch auch an sich selbst vollzieht. So plädiert sie dafür, "Mansplainern" kein Interesse mehr vorzugaukeln, Konflikte auch unter Freundinnen offen anzusprechen und toxische Situationen oder Umstände zu verlassen – um endlich auf Augenhöhe miteinander zu sprechen, anstatt sich immer wieder unterzuordnen.

Quelle: ntv.de

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