Politik

Pistorius nach 100 Tagen im Amt Alles, nur nicht stillgestanden

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Seit Amtsantritt der beliebteste Politiker in Deutschland: Verteidigungsminister Boris Pistorius

Seit Amtsantritt der beliebteste Politiker in Deutschland: Verteidigungsminister Boris Pistorius

(Foto: IMAGO/Political-Moments)

Alle mögen die nette Art von Pistorius - die Truppe, die Medien, die Bevölkerung. Doch gelingt es ihm auch, unbequeme Prozesse anzuschieben, um die Bundeswehr wirklich neu aufzustellen? Eine Zwischenbilanz nach 100 Tagen.

Es ist Boris Pistorius' Amtstag Nr. 98, als den vor dem Verteidigungsminister im Halbkreis versammelten Reporterinnen und Reportern schwanen muss, dass es nun bald vorbei sein könnte mit den lustigen Bundeswehr-Anekdoten. Mit hämischen Geschichten aus dem Soldaten-Alltag, die einen schnöden Artikel über die Probleme der Truppe zu einem Feuerwerk des schwarzen Humors machen.

Um die trockenen Fakten rund um das aufgeblasene Beschaffungswesen und nicht einsetzbares Material zu illustrieren, steht ein Potpourri an Absurditäten aus dem Soldatenalltag bereit: Die Besatzung der Fregatte "Hamburg" stellt Ersatzteile im selbst angeschafften 3D-Drucker her - nur damit das zuständige und als Wasserkopf verschriene Beschaffungsamt in Koblenz auf keinen Fall involviert ist. Schützenpanzer Marder versandeten in Afghanistan ungenutzt im Bundeswehr-Camp anstatt Patrouille zu fahren. Nicht, weil sie tatsächlich kaputt gewesen wären, sondern weil der Dieselruß, den sie hinten rausblasen, nicht die deutschen Abgasnormen erfüllte.

Bundeswehrbürokratie am Limit.

Mit solchen Geschehnissen lässt sich trefflich der permanente Mangelzustand der Bundeswehr darstellen, der seit Jahrzehnten besteht und den ebenso lange Verteidigungsministerinnen und -minister von Union und SPD zu beseitigen versprachen. Nichts anderes sichert an Amtstag 98 in seinem Pressestatement im Bundestag Boris Pistorius zu. Trotzdem scheint alles anders zu sein, anders zu werden.

Denn dem neuen IBuK, dem Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt, gelingt es nicht nur seit Tag 1 seiner Amtszeit, Aufbruchstimmung zu verbreiten, indem er energisch, fordernd und gleichzeitig der Truppe zugewandt auftritt. Er haut darüber hinaus mit seinen Entscheidungen der ersten drei Monate im Bendlerblock bereits derart robuste Pflöcke ein, dass sie auch von weiter weg, etwa aus einer etwas abgelegenen deutschen Kaserne heraus, gut sichtbar sind.

Pflöcke können ganz einfache Sätze sein. "Priorität eins hat ab sofort bei allen Beschaffungen der Faktor Zeit", ist so ein Satz. "Dem muss sich alles unterordnen", sagt Pistorius in die Mikrofone. Und er sagt auch, wie das bei der Beschaffung gehen soll: Künftig werden die truppeneigenen Expertinnen und Experten ihr Wissen früher einbringen, wenn entschieden wird, welche Anforderungen die Bundeswehr an ein neu anzuschaffendes Produkt legt. Einmal festgelegt, sollen diese dann nicht mehr veränderbar sein. Ein "Freeze of Design" für mehr Tempo.

Keine Zusatzwünsche mehr für die Taschenlampe

Es soll verhindern, dass im laufenden Beschaffungsprozess noch allerlei Zusatzwünsche an die gewünschte Waffe, das Fahrzeug, die Taschenlampe erdacht und durchgesetzt werden. So lief es bisher, und der gesamte Prozess geriet dadurch immer wieder für Monate, wenn nicht Jahre ins Stocken. Auch für banalste Produkte zog sich die Beschaffung endlos hin, so als habe man das Kommando "Stillgestanden" in der Verwaltung wörtlich interpretiert.

Schon früh kündigte Pistorius an, mit solch verquasten Abläufen Schluss zu machen, was ihm in der Truppe wie auch von Expertenseite Respekt einbrachte, doch zugleich die Sorge nährte, der motivierte Minister könnte vor allem vom eigenen Haus ausgebremst werden. Denn das BMVg hat unter Sicherheitsexperten den Ruf, dass manche Abteilung in erster Linie an der Selbsterhaltung arbeitet, wenn nicht gar ausschließlich.

Zuständigkeiten seien die Währung im Haus: Wer ist auf welchen Email-Verteilern, wie viele Vorgänge darf wer mit abzeichnen? Nach dem 24. Februar 2022, als schon einmal alles schneller und schlanker werden sollte im Bendlerblock, sei in Wirklichkeit die Leitungsebene unter der damaligen Ministerin Christine Lambrecht nochmals aufgeblasen worden, heißt es. Fachkenntnis sei bei Neueinstellungen kaum gefragt gewesen, einige vorzeigbare Karriereschritte innerhalb der SPD schon eher.

Verwaltungen, die einen Status Quo erhalten wollen, müssen gar nicht laut "nein" sagen zu neuen Ideen. "Solche Leute sind länger dabei als der neue Minister, sie kennen die internen Abläufe besser, sie kennen die Rechtslage, und an der entlang ziehen sie ihre Verteidigungslinie", sagt der Militärhistoriker Gustav Gressel. "Es heißt dann: 'Tolle Idee, bloß sind wir als Verwaltungsbehörde leider an Gesetz X und Vorschrift Y gebunden'."

Ein nächster Schritt der Profi-Selbsterhaltungs-Abteilung, um eine neue Idee ins Aus zu befördern: Die Gründung einer Arbeitsgruppe, die Für und Wider im Vergleich mit der bisherigen Praxis herausarbeitet, sowie die Einsetzung eines weiteren Gremiums, um mögliche Fallstricke anhand der Rechtslage abzuwägen. Und wäre das denn alles mit EU-Richtlinien vereinbar? Gressel, der am European Council on Foreign Relations forscht, kennt die Mechanismen. "Aus dieser Wagenburg heraus kann man dann sagen: 'Wir arbeiten dran, und mit zusätzlichen Ressourcen, mehr Geld und noch mehr Bürokraten können wir das Problem ganz sicher lösen - langfristig, versteht sich'."

Die Formulierungen, die Boris Pistorius am Amtstag 98 wählt, klingen hingegen sehr danach, als seien aufkommende Fragen bereits sämtlich gelöst. "Unser Bündel an Vorgaben ist ab sofort wirksam", sagt der Minister. "Die Erlasse, die interne Weisung sind rausgegangen."

Zeit als entscheidender Faktor bedeutet zukünftig auch, mehr von der Stange zu kaufen - Geräte, die auch in anderen Armeen erfolgreich genutzt werden, die robust, erprobt und schnell zu haben sind. "Marktverfügbarkeit hat Priorität", sagt Pistorius und zack - steckt ein zweiter Pflock neben dem ersten.

"Er hat in diesen Maßnahmen unsere volle Unterstützung", sagt Johann Wadephul, Vizechef der Unionsfraktion im Bundestag ntv.de, denn auch die Opposition erkennt an, dass sich etwas bewegt im Bendlerblock. "Die Ansätze des Ministers sind richtig", glaubt der CDU-Verteidigungspolitiker, "die Richtung stimmt". Zugleich macht Wadephul Druck: "Wir brauchen jetzt halt konkrete Ergebnisse. Im Sommer müssen wir die ersten Verträge unter Dach und Fach haben."

Warum Pistorius es jetzt offenbar schafft, Dinge anzuschieben, die jahrzehntelang unter CDU-Führung unmöglich schienen? Aus Wadephuls Sicht hat der Minister dafür Rückendeckung, die in der Vergangenheit gefehlt hat. Vor der Zeitenwende, vor der russischen Invasion in die Ukraine war der Leidensdruck für Reformen demnach nicht stark genug. "Wir wollten eine Beschaffungsagentur, wir wollten die Beschaffung teilweise privatisieren, das hat die SPD in den Koalitionsverhandlungen abgelehnt", sagt Wadephul.

Am Montag sagen, dass am Donnerstag Feierabend ist

Kritisch sieht der CDU-Mann Pistorius' Umgang mit dem Spitzenpersonal. Im Hauruck-Verfahren tauschte der Minister eine Staatssekretärin, die Chefin des Beschaffungsamts in Koblenz und mit Eberhard Zorn den Generalinspekteur der Bundeswehr aus, den ranghöchsten deutschen Soldaten. "Dem Generalinspekteur nach fünf Jahren Dienstzeit und ohne begründbaren Vorwurf am Montag zu sagen, dass am Donnerstag für ihn Feierabend ist, finde ich nicht in Ordnung", sagt Wadephul.

Als Signal mag der rigorose Schritt dennoch funktionieren. Wer bis dahin noch Zweifel daran hatte, dass der neue IBuK auch bereit ist, hart durchzugreifen und notfalls Leute vor den Kopf zu stoßen, der wird die Entscheidung über Zorn genau studiert haben. Darüber hinaus werden die Umbrüche in Truppe und Verwaltung so brachial sein, dass die neue Führungsmannschaft wohl speziellere Fähigkeiten benötigt als nur, bislang nichts falsch gemacht zu haben. Dass Pistorius hier sorgfältig bis knallhart auswählt, scheint nachvollziehbar.

Militärexperte Gressel begrüßt die Strategie, die Personalentscheidungen an der Spitze an den Anfang des Prozesses zu stellen. Denn vergangene Reformversuche krankten aus seiner Sicht häufig daran, "dass die Spitze des Apparates sich gut verteidigen kann, weil sie näher am Minister ist. Die Truppe nicht. Einsparungsgebote aus dem Finanzministerium rauschten oft wie am Blitzableiter nach unten durch". Pistorius zeigt gerade, wie es andersherum gehen kann.

Der Minister nutzt die knappe Zeit, um alles, worauf es ihm ankommt, in seinem Statement einmal anzureißen: Mehr Risikofreudigkeit wünscht er sich bei Entscheidungen, größere Verantwortung für den einzelnen und eine neue Fehlerkultur. Wer denn aber den Kopf hinhalte, wenn es juristisch schieflaufe und zu Klagen kommt, will jemand wissen. "Die Frage, wenn ich das so sagen darf, beschreibt genau das Problem", antwortet Pistorius. Es werde nicht als Erstes gefragt: Warum ist ein Fehler passiert und wie lernen wir daraus? Sondern: Wer hält den Kopf dafür hin? Es müsse aber möglich sein, "aus den Fehlern zu lernen und nicht diejenigen zu köpfen".

Nicht weniger als einen Apparat voller souveräner und loyaler Mitarbeiter und Soldaten will Pistorius offenbar schaffen, und wer genauer hinguckte, konnte schon ab Tag 1 seiner Amtszeit, im Februar, anschauen, wie er das wohl ungefähr meint. Da traf der neue Minister direkt nach seiner klirrend-kalten Amtseinführung im Bendlerblock den amerikanischen Verteidigungsminister Lloyd Austin, und Gerüchten zufolge klirrte es nicht zwischen den beiden, sondern es krachte. Der Grund: die deutsche Weigerung, Kiew mit Kampfpanzern zu unterstützen.

"Offensichtlich, wie stark Pistorius Scholz da massiert hat"

"Ich glaube, Pistorius hat vor seinem Amtsantritt nicht geahnt, wie stark es da krachen würde zwischen Deutschland und den USA", mutmaßt Gressel. Davon musste der Neue Kanzler Olaf Scholz berichten und einen Tag später in Ramstein, als so viele auf eine deutsche Entscheidung drängten, auf Zeit spielen. Nach weiteren drei Tagen gab der Kanzler sein Go. "Das ist schon recht offensichtlich, wie stark Pistorius Scholz da massiert und ihm klargemacht hat, wie man international so denkt."

Pistorius fiel seinem Chef nicht in den Rücken, kuschte aber auch nicht, sondern machte seinen gerade erworbenen Einfluss geltend, um die aus seiner Sicht falsche Haltung der Regierung zu ändern. Ein Paradigmenwechsel im Vergleich mit Christine Lambrecht. Bei Pistorius' direkter Vorgängerin rätselten Beobachter während der gesamten Amtszeit, ob ihre Weigerung, beim Kanzler mal irgendetwas für die Truppe durchzusetzen, auf falsch verstandener Loyalität fußte oder auf Langeweile.

In jeder Hinsicht wirkt Pistorius wie ein Gegenentwurf zu Lambrechts Auftreten: engagiert, neugierig, meinungsstark, authentisch. Nicht ohne Grund machen die Deutschen ihn schon seit Amtsantritt in jeder Umfrage zum Ampelkabinett zum Mitarbeiter des Monats. Eine 100-Tage-Bilanz, die kaum besser ausfallen könnte und mit Spannung erwarten lässt, wie er die Hürden meistern wird, wenn all die Vorhaben konkret werden und sich in der Fläche durchsetzen müssen. Grund zur Hoffnung besteht zumindest, dass sich Grundlegendes in der Bundeswehr ändern kann und man sich in einer - noch fernen - Zukunft die absurden Bundeswehr-Beschaffungs-Bürokratie-Anekdoten mit der Einleitung "Weißt Du noch, damals ...?" erzählt.

Quelle: ntv.de

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