Politik

Putschermittlungen in der Türkei Ankara jagt die Crypto-Gülenisten

Am 15. Juli stellten sich etliche Bürger den Panzern der Putschisten in den Weg. Der Aufstand scheiterte, und nur wenig später begann eine beispiellose Verhaftungswelle.

Am 15. Juli stellten sich etliche Bürger den Panzern der Putschisten in den Weg. Der Aufstand scheiterte, und nur wenig später begann eine beispiellose Verhaftungswelle.

(Foto: AP)

Regierungstreue türkische Medien berichten über eine Smartphone-App namens "Bylock". Das Messenger-Programm soll Putschisten bei den Vorbereitungen ihres Coups geholfen haben. Nutzer geraten unter Verdacht.

Auch zwei Monate nach dem Putschversuch ist es ein ungelöstes Rätsel: Binnen Stunden reagierten die türkischen Behörden mit einer beispiellosen Verhaftungs- und Suspendierungswelle auf den gescheiterten Aufstand. Tausende Türken sitzen deshalb im Gefängnis, sind ihren Job los oder dürfen das Land nicht mehr verlassen. Unklar ist bis heute, wie die türkischen Ermittler in so kurzer Zeit so viele Verdächtige ausmachen konnten.

Es gibt einige Erklärungen: Berichte über paranoide Behördenwillkür machen die Runde. Angeblich reicht es mittlerweile, die Initialen des Exilpredigers Fethullah Gülen, der für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird, als Autokennzeichen zu haben, um verdächtig zu wirken. Auch wer die Gülen-nahe Tageszeitung "Zaman" abonniert hat, seine Kinder auf die sogenannten "Hizmet"-Schulen Gülens geschickt hat oder ein Konto bei der Asya-Bank unterhält, wird demnach schnell zum Ziel der Ermittler.

Abgesehen von dieser absurd wirkenden Beweisführung gilt als sicher, dass es schon lange vor dem Putsch Ermittlungen gegen ein Netzwerk angeblicher oder tatsächlicher Anhänger Gülens gegeben hat, und dass die Putschpläne und beteiligte Personen zumindest in Teilen lange vor jenem 15. Juli bekannt waren. Demnach lagen schon vor dem versuchten Staatsstreich lange Listen mit Verdächtigen vor.

Türkische Medien liefern jetzt ein Erklärungsmuster, wie die türkischen Geheimdienste frühzeitig an diese Informationen gekommen sein könnten. Echte Beweise gibt es allerdings noch nicht, genauso wenig wie für die Behauptung, dass der Putschversuch tatsächlich von Fethullah Gülen orchestriert wurde.

Gülen-Anhänger verzichteten auf konventionelle Kommunikation

Im Fokus jener Berichte türkischer Medien steht der Mitteilungsdienst "Bylock". Tenor der Artikel, die sich in den vergangenen Tagen häuften: Die Beteiligten des Putsches hätten "Bylock", eine Software zur anonymen Kommunikation, genutzt, um ihren Aufstand vorzubereiten. Angeblich wurde die Software eigens für diesen Zweck von Gülen-Anhängern entwickelt. Dem türkischen Geheimdienst MIT sei es jedoch gelungen, die Server des Anbieters zu hacken und Zugang zu Nutzerdaten zu erlangen.

Die App "Bylock" verspricht sichere, anonyme Kommunikation. Die Hacker des türkischen Geheimdienstes konnten die Server des Dienstes eigenen Angaben zufolge knacken.

Die App "Bylock" verspricht sichere, anonyme Kommunikation. Die Hacker des türkischen Geheimdienstes konnten die Server des Dienstes eigenen Angaben zufolge knacken.

Besonders detailliert schildert das englischsprachige Webportal "Hurriyet Daily News" diese Ereignisse, die der türkische Vizepremierminister, Numan Kurtulmus, als eine Jagd auf "Crypto-Gülenisten" beschreibt.

Diese begann dem Bericht zufolge bereits kurz nach jenen Zeiten, in denen Gülen und die türkische Staatsführung um Präsident Recep Tayyip Erdogan sich noch nahe standen. 2013 kam es zum Bruch zwischen dem einstigen Imam und dem Machtpolitiker, dem der Einfluss Gülens, der auf der ganzen Welt Schulen betreibt und unzählige Anhänger in der Türkei hat, angeblich zu groß wurde. Gülen-nahe Ermittler und Juristen befeuerten demnach die Ermittlungen in einem Korruptionsskandal, der bis in die Familie Erdogans hineinreichte. Die türkische Staatsführung reagierte mit einer ersten "Säuberungswelle" in den Behörden.

"Hürriyet Daily News" zufolge stellten die türkischen Geheimdienste in dieser Zeit fest, dass immer mehr Gülen-Anhänger darauf verzichteten, konventionelle Kommunikationsmittel wie SMS, Whatsapp oder Sprachtelefonie zu nutzen.

Zugleich wurden die MIT-Mitarbeiter auf den Mitteilungsdienst "Bylock" aufmerksam, der angeblich in den USA registriert ist, seine Server aber in Litauen stationiert. Der Clou der Software: Nutzer treten nicht mit Klarnamen oder einer konkreten Telefonnummer in Erscheinung, sondern nur durch einen individuellen ihnen zugewiesenen Zahlencode.

Sind alle "Bylock"-Nutzer verdächtig?

Dem MIT gelang es den Berichten zufolge, die Server in Litauen zu hacken. Auffällig, so sagt ein Geheimdienstmann "Hürriyet Daily News" sei gewesen, dass 99 Prozent der Nachrichten, die über den Dienst versandt wurden, auf Türkisch waren.

Nach und nach gelang es dem MIT laut dem Webportal über die IP-Adressen der Nutzer, Rückschlüsse auf deren Sim-Karten, Internetanschlüsse und letztlich ihre Person zu ziehen. Im Mai, also einen Monat vor dem Putsch, waren den Behörden angeblich 40.000 Personen bekannt, die den Mitteilungsdienst nutzten. Mittlerweile sollen mehr als 160.000 von insgesamt rund 200.000 Nutzern dem Geheimdienst namentlich bekannt sein.

Dem "Hürriyet"-Bericht zufolge schickten die MIT-Leute Listen mit den Namen der Verdächtigen an andere türkische Behörden, um Ermittlungen anzustoßen. Die Putschplaner bekamen das aber angeblich mit. Dieser Umstand fügt sich ein in eine der beliebtesten Deutungsversuche für den Dilettantismus, mit dem der Putschversuch umgesetzt wurde. Im Wissen um die Listen aus dem "Bylock"-Hack hätten die Putschplaner die Umsetzung des Aufstandes vorgezogen, um den Ermittlern zuvorzukommen, heißt es bei "Hürriyet Daily News". Die Vermutung, dass die Putschisten voreilig zur Tat schritten und deshalb schlecht vorbereitet waren, war zuvor schon von etlichen Beobachtern in Erwägung gezogen worden.

Laut "Hürriyet Daily News" wechselten die Putschisten kurz vor dem geplanten Staatstreich den Mitteilungsdienst, um wieder im Geheimen kommunizieren zu können. Die Staatsführung konnte den Putschversuch deshalb nicht gänzlich verhindern, da es den MIT-Experten demnach erst nach dem Coup gelang, den neuen Mitteilungsdienst, zu hacken.

Ist diese Darstellung glaubwürdig? "Hürriyet Daily News" galt einst als regierungskritisches Medium in der Türkei. Nach diversen Drohungen und Repressalien berichtet die Redaktion mittlerweile aber wie die meisten türkischen Journalisten weitgehend im Sinne der Regierung. Unabhängig davon ist es allerdings naheliegend, dass die Putschisten sich darum bemüht haben dürften, geheime Kommunikationsmittel zu nutzen. Das große Dilemma: Auch Vertreter der kritischen Zivilgesellschaft fühlen sich zusehends genötigt, auf besonders geschützte Kommunikationsmittel zu setzen. Kritik an Erdogan und seiner Staatsführung in sozialen Medien wie Twitter und Facebook, aber auch nach Abhörmaßnahmen privater Kommunikation haben schon wiederholt zu Ermittlungen, Anklagen und Verurteilungen geführt. Auch bei den Ermittlungen gegen die Nutzer von "Bylock" besteht die Gefahr, dass Menschen unter Verdacht geraten, die nichts mit dem Putschversuch zu tun haben.

Die türkischen Gefängnisse sind schon jetzt derart überfüllt, dass die Regierung Mitte August ankündigte, fast 40.000 Häftlinge, darunter Diebe und Gewaltverbrecher, frühzeitig zu entlassen, um Platz für Putschverdächtige zu schaffen. Experten wie etwa der bekannte türkische Autor Ahmet Sik bezweifeln, dass es tatsächlich so viele Beteiligte gegeben haben könnte.

Quelle: ntv.de

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