Erst Impfung, dann Infektion "Bin ich jetzt durch mit Omikron, Herr Kern?"
29.01.2022, 10:25 Uhr
"Das Corona-Virus werden wir nicht los, aber unsere Abwehr dagegen wird immer besser."
(Foto: imago images/Wolfgang Maria Weber)
Jede Immunantwort ist anders und unser Abwehrsystem lernt ohnehin ständig dazu - am Virus sogar noch besser als an der Impfung. Peter Kern, Leiter der Klinik für Immunologie am Klinikum Fulda, erklärt, warum Antikörpertests nichts bringen und man sich gut geschützt auch mal infizieren darf.
ntv.de: Neulich bin ich geboostert worden und eine Woche später hatte ich Covid, quasi ohne Symptome. Bin ich jetzt durch mit Omikron?
Peter Kern: Mit Omikron vielleicht, mit Corona niemals, aber das besprechen wir gleich. Zunächst mal: Glückwunsch! Die Infektion nach der Booster-Impfung ist der beste Immunisierungsgrad, den man derzeit gegen das Coronavirus bekommen kann. Da müssen wir alle noch hin.
Wirklich alle?

Der Immunologe und Internist Peter M. Kern leitet die Klinik für Immunologie am Klinikum Fulda und lehrt an der Philipps Universität Marburg.
Als Population müssen wir da hin, nicht jeder Einzelne, aber die mit guter Immunisierung. Es wäre zu pauschal, zu sagen: Wer geimpft ist, darf sich infizieren. Jedes Immunsystem reagiert anders. Wir können aber sagen: Wer gut immunisiert ist, darf sich infizieren. Dazu gehört ein starkes Immunsystem, das gut auf Corona geschult wurde: mit der ersten Lektion - bestehend aus Erst- und Zweitimpfung - und mit der zweiten Lektion - das war der Booster. Wurden diese beiden Lektionen gelernt, dann darf auch mal der Erreger selbst kommen.
Aber wenn ich Sie richtig verstehe, lernt - leider - nicht jedes Immunsystem gleich gut.
Es gibt immunologisch alles: Von Menschen mit sehr kompetentem Immunsystem, das schon nach zwei Impfungen oder einer Infektion sehr guten Schutz bietet, bis zu Menschen mit schwachem Immunsystem, das auch nach vier oder fünf Impfungen noch nicht anspricht und die sich deshalb tunlichst nicht infizieren sollten, weil sie wenig geschützt sind. Ein 80-jähriger Asthmatiker unter Kortison darf sich niemals infizieren, auch nach zwei Boosterungen nicht. Ein gesunder und geimpfter 30-Jähriger geht mit einer Omikron-Infektion kein relevantes Risiko ein und belastet das Gesundheitssystem nicht.
Aber woher weiß die Einzelne, ob der Immunschutz ausreicht? Hilft da die Messung des Antikörperwerts? Das bieten manche Apotheken an.
Das bringt überhaupt nichts. Der sogenannte Antikörper-Titer sagt nur etwas über die Menge aus, nichts jedoch darüber, welche Qualität diese Antikörper haben. Die Qualität der Immunantwort ist aber das Entscheidende. Die anhand von Messwerten exakt zu bestimmen, ist möglich aber sehr aufwändig. Mit der Antikörpermenge hat das nichts zu tun. Einen solchen Test kann man sich sparen.
Woher sollen die Leute dann wissen, wie stark ihr Immunsystem ist?
Das ist eine individuelle Einschätzung, die am Besten der Hausarzt vornimmt. Nach einfachen Kriterien: Wie alt ist die Person? Welche Vorerkrankungen hat sie? Welche Medikamente nimmt sie, die eventuell die Immunabwehr unterdrücken? Wie hat das Immunsystem bisher gearbeitet? Anhand dieser Parameter ist eine Einschätzung schon sehr gut möglich.
Wäre es unterm Strich trotzdem sicherer, die Infektion zu vermeiden?
Die Immunisierung gegen Corona, also das, was wir gerade tun, um die Pandemie zu beenden, das ist ein laufendes Verfahren, ein Prozess. Das Immunsystem wird zwangsläufig immer wieder Kontakt haben mit dem Coronavirus - oder freiwillig mit dem Impfstoff - und wird dadurch immer wieder neu geschult und seine Antwort verbessert. Darum ist niemand von uns jemals "durch" mit dem Virus. Sogar beim ersten Kontakt mit ihm baut sich die Immunantwort als Prozess auf.
Wie genau?
Das Immunsystem entwickelt zunächst sehr viele unterschiedliche Antikörper und Kampfzellen, die T-Lymphozyten, gegen den Erreger. In vielen wiederkehrenden Überprüfungsschleifen werden die besten davon ausgewählt und bleiben übrig, die weniger guten werden abgeschaltet. Das dauert zwei bis vier Wochen, dann hat man die zu diesem Zeitpunkt bestmögliche Immunität, die dann auch lange anhält.
Und nun kommt Omikron und ist eine Immun-Escape-Variante.
Nicht wirklich. Die Dreifach-Impfung schützt ja weiterhin sehr gut vor einem schweren Verlauf oder sogar Tod, weil das Immunsystem eben doch einiges auch an Omikron wiedererkennt, was es an anderen Varianten oder am Impfstoff gelernt hat. Wenn nun also Omikron kommt und keine schwere Erkrankung auslösen kann, weil wir durch die Impfungen schon zu gut 80 Prozent geschützt sind, dann kommen wir nach der Infektion vielleicht über 90 Prozent Schutz, weil die Immunantwort weiter optimiert wurde.
Klingt gut.
So steigt der Schutz immer weiter. Und wenn neue Mutationen kommen, ist entscheidend, wie stark sie sich in den immunologischen Angriffspunkten von den vorherigen unterscheiden.
Wo greift unsere Abwehr das Virus denn an?
Das Coronavirus hat vier große Bauproteine - das Spike-Protein, über das alle reden, und noch drei weitere. Jeder dieser vier großen Bausteine hat etwa 1000 Unterbausteine, die Aminosäuren. Und kleine Gruppen dieser Aminosäuren sind die Ebene, auf der das Immunsystem das Virus erkennt.
Und die Immunabwehr attackiert zunächst ganz viele dieser Aminosäure-Gruppen? Und dann wird ausgewertet?
Dazu baut es Antikörper und T-Lymphozyten gegen diese Aminosäuregruppen, aber die funktionieren nicht alle gleich gut, genau. Das Immunsystem fängt mit einer großen Zahl an, filtert dann vieles raus und lässt am Ende nur drei, vier, fünf Antworten übrig, die besonders gut waren. Der Infizierte, dessen Immunsystem am ganzen Coronavirus gelernt hat, der hat danach Immunantworten gegen alle vier Proteine zur Verfügung, also eine sehr breit aufgestellte Abwehr.
Und wie läuft es, wenn unsere Abwehr nicht am Virus lernt, sondern nur an der Kopie, der Impfung?
Die derzeitigen Impfstoffe imitieren nur das Spike-Protein, also nur eines von vieren, und auch davon nur einen Teil. Das Immunsystem des Geimpften lernt nur die Unterbausteine dieses einen Proteins kennen, es hat eine geringere Auswahl als bei der Infektion und weniger Zeit zum Optimieren, weil der Impfstoff viel kürzer im Körper verweilt als der Erreger. Darum ist die Immunisierung des Genesenen besser, sie ist einfach breiter aufgestellt als nach einer Impfung und hält auch länger.
Warum setzen alle Impfstoffe auf das Spike-Protein?
Einige Aminosäuregruppen dort sind ganz besonders wichtig, denn mit ihnen dockt das Virus an die menschliche Zelle an und dringt ein. Wenn die durch die Antikörper zerstört werden, ist das eine besonders gute Schutzwirkung. Das kann die Impfung.
In ein paar Monaten kommt vermutlich die nächste Mutation. Wie reagiert unsere Abwehr dann?
Wenn das Virus mutiert, verändern sich einige Unterbausteine. Wenn ausgerechnet genau die verändert sind, gegen die das Immunsystem seine Antwort entwickelt hat, dann hat man verloren. Wenn das Immunsystem Antworten gegen, sagen wir mal, drei Unterbausteine übrig behalten hat, und bei einer neuen Variante sind alle drei Stellen anders, dann sieht das Immunsystem nichts mehr. Dann fängt es von vorne an.
Na toll.
Das ist aber extrem unwahrscheinlich. Wenn wir Omikron anschauen: Von den 1000 Unterbausteinen des Spike-Proteins haben sich von Delta zu Omikron 30 verändert. 30 von 1000. Da ist die Wahrscheinlichkeit nicht sehr groß, dass eine auf Delta geschulte Immunantwort gar nichts mehr erkennen kann, weil ihre Abwehrmechanismen nur auf Unterbausteine ausgerichtet waren, die unter den 30 veränderten sind. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass jemand, der die Infektion mit Omikron jetzt durchläuft, auch gegen eine Variante, die dann im Herbst kommt, noch eine gewisse Immunantwort hat. Diese Wahrscheinlichkeit ist größer als bei einem Geimpften.
Das klingt, als wäre Infektion statt Impfung auch eine Option, um immun zu werden.
Davon würde ich dringend abraten. Ja, die effektivsten Lerneinheiten passieren durch Infektion. Das sind aber auch die gefährlichsten, deswegen sollten die nicht ohne Impfschutz passieren. Irgendwann kommt das Virus, das erleben gerade Millionen Menschen, die sich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen und Impfung infizieren. Das ist aber auch nicht schlimm, sondern der natürliche Verlauf. Das wird eine noch bessere Immunantwort hinterlassen, und wenn durch Zeit oder Mutationen deren Qualität wieder abnimmt, können wir sie durch Impfungen wieder auffrischen. Wer da jetzt das Verfahren mit der Grippe raushört, der hat es verstanden.
Hätte meine durchgeimpfte Familie die Gelegenheit nutzen sollen, als ich infiziert war, um sich per Ansteckung mit Omikron auch auf den Goldstandard zu heben? Statt auch zu Hause Maske zu tragen?
Das kann man nicht generell sagen. Wenn ich in einem Haushalt mit einem alten oder immungeschwächten Menschen lebe, sollte ich das auf keinen Fall machen. Ich persönlich arbeite in einem Schwerpunktklinikum. Natürlich bin ich exponiert und weiß, dass ich mich mit einiger Wahrscheinlichkeit trotz Booster und aller Schutzmaßnahmen anstecken kann. Meine Frau und ich haben für uns zu Hause beschlossen: Wir werden uns intern dann nicht isolieren, sondern stehen es gemeinsam durch. Wir sind gesundheitlich gut aufgestellt, noch nicht so furchtbar alt und dreifach geimpft. Da denken wir, ist der Immunschutz gut genug, um uns einen schwachen Verlauf zu sichern. Das kann man individuell entscheiden, das halte ich nicht für fahrlässig.
Und als Gesellschaft? Wie gehen wir da klug vor?
Je stärker wir uns alle unterscheiden durch zunehmend individuelle immunologische Profile und individuelle Risikofaktoren für eine schwere Erkrankung, desto weniger sinnvoll ist eine allgemeine, für alle gültige Regel. Wir müssen stärker differenzieren in unseren Maßnahmen. Und da können mittlerweile auch erste gute Therapieansätze mit einbezogen werden.
Mit Peter Kern sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de