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Was dafür spricht, was dagegen Omikron einfach durchrauschen lassen?

Maske ab und durch? Experten zweifeln, ob dies für Deutschland ein gangbares Szenario ist.

Maske ab und durch? Experten zweifeln, ob dies für Deutschland ein gangbares Szenario ist.

(Foto: picture alliance / greatif)

Das Auftauchen der Omikron-Variante ist aus Sicht von Experten ein möglicher Ausweg aus der Pandemie. Eine breite Durchseuchung könnte die endemische Phase einleiten. Doch ist Deutschland schon bereit dafür, sich dem Virus zu öffnen? Vor allem wegen einer Tatsache gibt es Bedenken.

Mittlerweile verzeichnet auch Deutschland Corona-Fallzahlen im sechsstelligen Bereich, was vor einigen Monaten noch undenkbar schien. Wie zuvor in anderen Ländern treibt die Omikron-Variante die Infektionskurve auf immer neue Höchststände. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte gewarnt, dass sich in wenigen Wochen über die Hälfte der Menschen in Europa mit Omikron infiziert haben könnte.

Da Omikron als "milde Variante" von Sars-CoV-2 gilt, erscheinen die hohen Fallzahlen allerdings in einem neuen Licht. Virologe Christian Drosten sieht im häufig milderen Verlauf sogar eine "Chance", in den endemischen Zustand zu kommen - "breite Immunität vorausgesetzt", wie er dem "Tagesspiegel" sagte. Alle Menschen müssten sich früher oder später mit Sars-CoV-2 infizieren. "Ja, wir müssen in dieses Fahrwasser rein, es gibt keine Alternative." Der Eintritt in eine Endemie bedeutet, dass das Virus bleibt, aber für die Gesamtbevölkerung weniger gefährlich ist.

Warum also versuchen, Omikron weiter aufzuhalten? So scheint etwa Großbritannien die Omikron-Welle vergleichsweise glimpflich überstanden zu haben. Dort traf die ansteckendere Variante Ende November auf eine Gesellschaft fast ohne Beschränkungen und breitete sich in Windeseile aus. Nach einem zunächst steilen Anstieg hatte die Fallkurve Anfang Januar ihren Höhepunkt erreicht und geht seitdem deutlich zurück. Nun sollen dort auch die letzten Corona-Maßnahmen fallen.

Krankenhäuser zeitweise am Limit

Allerdings sah es zwischenzeitlich so aus, als hätte sich die britische Regierung verzockt: In den ersten Januarwochen riefen Dutzende britische Krankenhäuser den Ernstfall aus. Vor allem mangelte es an Personal, da viele Krankenhausmitarbeiter ausfielen, die wegen einer Corona-Infektion in Quarantäne saßen. Das Militär musste einspringen. In Turnhallen oder Bildungszentren wurden Mini-Notfallkrankenhäuser aufgebaut, um notfalls Patienten aufnehmen zu können.

Doch die Zahl der täglichen Krankenhauseinweisungen von Corona-Infizierten im Vereinigten Königreich fiel vergleichsweise gering aus. Mitte Januar erreichte sie ihren bisherigen Höhepunkt bei knapp über 2000, geht seitdem aber wieder zurück, wie aus dem Dashboard der britischen Regierung hervorgeht. Zum Höhepunkt der Alpha-Welle im vergangenen Winter waren es mit täglich bis zu 4000 neuen Covid-19-Patienten fast doppelt so viele.

Zudem werden viele Infizierte nicht wegen Covid-19, sondern einer anderen Erkrankung ins Krankenhaus eingewiesen, wie die BBC berichtet. Besonders auffällig: Die Zahl der Corona-Patienten, die künstlich beatmet werden müssen, blieb während des Omikron-Peaks stabil und erreichte nicht ansatzweise das Niveau vorangegangener Wellen. Auch die Zahl täglich gemeldeter Todesfälle blieb vergleichsweise niedrig.

So ganz ohne Maßnahmen hatte Großbritannien die Omikron-Welle allerdings nicht über sich ergehen lassen - im Dezember hatte der britische Premierminister Boris Johnson den "Plan B" für England verkündet, unter anderem mit Maskenpflicht im Einzelhandel. Doch das soll ab dem 27. Januar wieder Geschichte sein. "Da Corona endemisch wird, müssen wir die gesetzlichen Verpflichtungen durch Ratschläge und Empfehlungen ersetzen", sagte Johnson im britischen Parlament. Für März plane die Regierung sogar das Ende der Isolation für positiv getestete Menschen. Auch Schottland und Wales wollen bestehende Beschränkungen wieder aufheben.

Impflücke in Deutschland noch groß

Doch das britische Beispiel ist nicht ohne Weiteres auf Deutschland übertragbar. Denn es gibt Unterschiede bei Impfquote, Altersstruktur der Bevölkerung, Eindämmungsmaßnahmen und Grad an bereits durchgemachten Infektionen. "Die Immunität in der Bevölkerung ist in Großbritannien bereits vor der Omikron-Welle höher als in Deutschland gewesen. Durch höhere Impf- und Booster-Raten und durch die vorhergegangenen schweren Infektionswellen", sagte die Münchener Virologin Ulrike Protzer dem ZDF.

Die in Deutschland immer noch große Impflücke ist es daher, was Experten mit Blick auf Omikron Sorgen bereitet. Vollständig geimpft sind bisher nur rund 73 Prozent der Bundesbürger, knapp die Hälfte geboostert. Von den 79,2 Millionen Menschen ab fünf Jahren, die geimpft werden können, haben bisher 13,2 Millionen noch keinen Piks erhalten. Darunter sind fast 3 Millionen über 60-Jährige, die aufgrund ihres Alters ein deutlich höheres Risiko haben, schwer an Covid-19 zu erkranken.

Und schwere Erkrankungen sind auch mit Omikron noch möglich. Mehrere Studien haben zwar bestätigt, dass der Anteil schwerer Verläufe geringer ist als bei Vorgänger Delta. Dennoch handele es sich nicht um eine "harmlose Erkältung", warnte der in Südafrika tätige Omikron-Mitentdecker und Virologe Wolfgang Preiser gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. In Südafrika würden vor allem Ungeimpfte in Krankenhäusern behandelt, berichtet er. "Omikron durchrauschen lassen ist also keine gute Idee."

"Ein bisschen im Blindflug"

Die große Unbekannte ist also, wie sich bei einer unkontrollierten Omikron-Ausbreitung die Lage in Deutschlands Krankenhäusern entwickeln würde. "Viele Kennzahlen zu Omikron, die wir für gute Prognosen bräuchten, sind noch unklar", sagte der Greifswalder Bioinformatiker Lars Kaderali. "Die Preisfrage ist, wann die Ansteckungen auf die Krankenhauseinweisungen durchschlagen." Der Vorteil der wohl weniger schwerwiegenden Omikron-Verläufe - wodurch das Gesundheitssystem höhere Inzidenzen als bisher verkraftet - könne früher oder später durch die schiere Zahl an Fällen aufgewogen werden.

Davor warnt auch der Hamburger Klinikdirektor Stefan Kluge. "Wenn ich durch Omikron 20-mal so viele Infektionen wie vorher habe, sind irgendwann auch die Kliniken stark belastet", sagte er dem "Tagesspiegel". Auch Drosten betonte, dass im Moment noch unklar sei, ob man sich in Deutschland angesichts der Impflücken leisten könne, das Virus "laufen" zu lassen. "Da sind wir ein bisschen im Blindflug."

"Es ist eine Illusion, dass wir jetzt quasi in kurzer Zeit die Bevölkerung durch natürliche Infektionen immunisieren", sagte der Berliner Infektionsimmunologen Leif Erik Sander in einer Videokonferenz des Science Media Centers. Wenn das passiere, breche nicht nur das Gesundheitssystem, sondern auch die gesamte kritische Infrastruktur zusammen, warnte der Experte. "Das ist überhaupt keine Strategie."

Impfquote muss erst noch steigen

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Auch die Bundesregierung hält wenig von einer schnellen Durchseuchung. Gesundheitsminister Karl Lauterbach will vielmehr alles dafür tun, um die Omikron-Welle möglichst flach zu halten. "Wenn die Älteren sich auch infizieren und die Krankenhauseinweisungen steigen würden, gerade bei den Ungeimpften, dann wird es brenzlig", warnte der SPD-Politiker im Deutschlandfunk. Zwar glaubt auch Lauterbach, dass "irgendwann der Tag kommt, an dem man es laufen lassen kann". Allerdings erst, wenn die Impfquote hoch genug ist. Ohne eine allgemeine Impfpflicht sei dies aber nicht zu erreichen.

Doch womöglich ist Omikron schneller und breitet sich unter Ungeimpften aus, bevor eine mögliche Impfpflicht Wirkung zeigt. Für das Ziel Endemie könnte das aber eher hinderlich sein. "Der Ungeimpfte, der jetzt eine Omikron-Infektion bekommt, wird im Herbst gegen andere Varianten wenig Schutz haben", warnte Lauterbach auf Twitter. Neue Infektionswellen könnten bevorstehen - und die ersehnte Endemie weiter aufschieben.

Quelle: ntv.de, mit dpa

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