Politik

Berlin Tag & MachtMit Alice Weidel auf dem Buzzword-Dancefloor der Polit-Plattitüden

27.11.2025, 10:21 Uhr MARIE-VON-DEN-BENKEN-N-TV-LIZENZFREIE-BILDER-01Marie von den Benken
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Als Oppositionsführerin sprach Alice Weidel in der Generaldebatte als erste Rednerin. (Foto: picture alliance / Anadolu)

Weihnachtsmarkt-Ängste, Krisen-Dancefloor, Kabarett-Einlagen und Apokalypse im Sonderangebot: Die Generaldebatte im Bundestag liefert alles, was Politik spannend macht. Pointen garantiert, Lösungen optional. Ein Tag voller politischer Showeinlagen.

Ein Mittwoch der großen Schlagabtäusche liegt hinter uns. Es galt zu klären: Wie präsentiert sich Deutschland? Schafft die Führungsetage den Befreiungsschlag? Kann sie ihrer Mannschaft endlich das taktische Rüstzeug für erste Erfolge mit auf den Weg geben? Wird sie die Nation glücklich machen? Freude auf die Zukunft entfachen? Gibt es den lang ersehnten Turn-Around für die Republik? Oder gibt es wieder nur eine ruppige Schlacht um jeden Zentimeter Boden, gespickt mit rüden Fouls, selbstverliebten Einzelaktionen - und ständig steht jemand im Abseits?

Aber genug von der UEFA Champions League. Kommen wir zum zweiten Highlight der Woche, der Generaldebatte im Bundestag. Ein Feuerwerk der Diskurskultur, das sich für gewöhnlich als generelle Status-Quo-Einordnung und Grundsatzkritik zur Regierungspolitik entpuppt. Als zweitwichtigste polit-journalistische Vordenker-Ikone nach Dieter Bohlen habe ich selbstverständlich fleißig mitgeschrieben, um für routinierte Stammtisch-Philosophen wie auch interessierte Quereinsteiger ein lückenloses Protokoll präsentieren zu können.

Merz beim Aufwärmen: der Bundestrainer des politischen Muskelkaters

Der Bundestrainer des Koalitionskaders tritt in der Generaldebatte traditionell als Zweiter ans Rednerpult. Wie sehr sich Julian-Friedrich Merz-Nagelsmann in der Rolle des Debattenanregers gefällt, zeigen nicht zuletzt seine jüngsten Ausflüge in die Stadtbild- und Belém-Revision. Entsprechend motiviert und mit einem Potpourri an Kanzler-Erfolgen im Redegepäck legt Merz los. Es folgt eine hochemotionale Detailbeschreibung aller Errungenschaften der besten Bundesregierung seit Olaf Scholz: Wehrdienst, AfD und die Reformlust der Regierung. So mitreißend präsentiert wie die Uhrzeit unter der Hotline zur automatischen Zeitansage. Die große Welt der öffentlichen Impulsgebung - von jeher Merz' natürlicher Lebensraum.

Der Selfmade-Kanzler und Ex-Merkelvertraute Merz fordert das nach klarer politischer Linie, Koalitionseinigkeit, Führungskompetenz und Zukunftsperspektive gierende Volk zunächst auf, sich an den Gedanken zu gewöhnen, "Frieden und Freiheit gibt es nicht umsonst". Und einen "Diktatfrieden" dürfe es auch nicht geben. Zwar hört man in diesem Kontext oft, Diktatfrieden sei immer noch besser als Diktaturfrieden. Andererseits fast ausschließlich von Menschen, die auch eine Stunde Richard David Precht bei Tilo Jung anschauen und hinterher immer noch glauben, "Philosoph" und "Journalist" seien geschützte Berufsbezeichnungen.

Von Brandmauern, Reformlust und Koalitions-Yoga: Merz erklärt die Weltlage

Vor den territorialpolitischen Solidaritätsappellen an die "gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Verantwortung" und seinen Ausführungen über den "geopolitisch verdunkelten Horizont" hatte Merz sich einer weiteren dunklen Episode aktueller Politik-Realität zugewandt: seiner Vorrednerin von der AfD. Als Baumeister der Brandmauer gibt er zu Protokoll, die Politik der AfD sei "nicht ansatzweise zustimmungsfähig". Gut, das sehen knapp 30 Prozent der Wählerinnen und Wähler anders. Aber warum gleich in Panik verfallen? Fast so viele finden ja die CDU/CSU zustimmungsfähig.

Kurz scheint Merz sich an diesen Umstand zu erinnern. Geistesgegenwärtig simuliert er spontan einen Augenblick der Kritikfähigkeit und gesteht, die Reformerwartungen an die Koalition wären "zum Teil größer, als wir sie im Augenblick erfüllen". Das scheint jedoch erklärbar, denn er wolle "nichts übers Knie brechen". Da besteht allerdings auch keine Gefahr. Seine Regierung ist momentan nämlich hauptsächlich damit beschäftigt, sich gegenseitig in den Rücken zu fallen.

Apokalypse im Sonderangebot: Alice Weidel und der Krisen-Mehrkampf

Um jedwede zart aufkeimende Aufbruchstimmung gleich im Keim zu ersticken, hatte die AfD ihre floskelrhetorische Geheimwaffe aus der Schweiz auf die Bühne geschickt: Alice Weidel, als Vertreterin der größten Oppositionsfraktion erste Rednerin in der Generaldebatte. Und die Abrissbirne der vernunftorientierten Debatte liefert. Sie diagnostiziert, die Koalition führe ein "Narrentheater" auf und befinde sich sieben Monate nach Dienstantritt bereits im "Endstadium". Auf dem Buzzword-Dancefloor der Polit-Plattitüden folgt der gängige Rechtspopulisten-Engtanz mit der gesamten Krisen-Klaviatur: "Migrationskrise", "Energiekrise", "Wirtschaftskrise", "Staatsschuldenkrise" und "Finanzkrise". Gäbe es die Vokabel "Krise" nicht, wären Reden von Alice Weidel durchschnittlich 80 Prozent kürzer.

Übrig bliebe dann nur, was Weidel als Schlüsselelemente der Deutschen Zukunft skizziert: Menschen an Grenzen zurückweisen sowie Gas und Öl da kaufen, wo es am günstigsten ist: "in Russland". Nebenbei will sie noch schnell "die Antifa verbieten" und die "GEZ-Gebühren abschaffen". Und das "aus Liebe und Verantwortung für Deutschland". Ziemlich patriotische Worte für eine Partei, bei der vor der Liebe zu Deutschland zunächst noch die Liebe für Russland steht.

Wen oder was genau sie im Rahmen dieser Liebeserklärung als Antifa definiert, bleibt unerwähnt. Aus der Perspektive von Alice Weidel gehört aber vermutlich bereits Julia Klöckner zum erweiterten Kreis linksradikaler Staatsverräter. Die Bezeichnung "GEZ" gibt es übrigens schon seit Januar 2013 nicht mehr. Aber egal. Im Januar 2013 war vieles besser. Beispielsweise gab es noch keine AfD. Nach diesem skurrilen Auftritt jedenfalls keimt ein böser Verdacht auf: Ist Alice Weidel womöglich gar nicht die Jeanne d’Arc der Bundespolitik, sondern nur die Daniela Katzenberger für seichtintellektuelle Antidemokraten?

Kabarett-Einlage der Koalition: Matthias Miersch versucht’s mit Humor

Um die hier bereits zahlreich in eine Art kognitiven Stromsparmodus gefallenen Zuschauer für den Rest des Debattenmarathons zurückzugewinnen, wird das Diskussionsplenum für einige Minuten unterbrochen. Dafür steht der hauptberuflich als Comedian tätige Matthias Miersch, in seiner Freizeit ehrenamtlich Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, mit einer Kostprobe aus seinem Kabarett-Programm: "Die Koalition hat schon viel geschafft!" auf der Bühne. Bei einigen spektakulären Punchlines wie "Wir haben in Infrastruktur und Bildung investiert" oder "Wir machen die Kommunen handlungsfähig" brandet sogar Szenenapplaus auf.

Draußen an den TV-Geräten spielen die Lokalpolitiker des Landes derweil Realpolitik-Bingo: Jedes Mal, wenn ein Regierungsmitglied die Worte "Kommune" und "handlungsfähig" in einem Satz nennt, meldet irgendwo ein Bürgermeister Insolvenz für seinen Stadthaushalt an.

Im Verlauf der Generaldebatte glänzen noch weitere Starspieler mit ihrer Einschätzungspoesie zur Erfolgskurve der aktuellen Regierung. Der Lyrikbeauftragte Tino Chrupalla etwa verspricht, die AfD werde "spätestens nach der nächsten Bundestagswahl den Klima- und den Investitionsfonds auflösen". Bei der Anti-Gender-Partei ist man sich offenbar sicher, demnächst bundesweite Regierungsverantwortung zu tragen. Gut, Lars Ricken, Sebastian Kehl und Aki Watzke sind sich auch sicher, der Kader von Borussia Dortmund wäre optimal aufgestellt, aber das ist eine andere Geschichte.

Von Reichinnek bis Gottschalk - die Kabarettbühne Bundestag

Die Beliebtheits-Chartstürmerin aus der Linksfraktion, Heidi Reichinnek, setzt indes auf den Hebel Angst. Sie appelliert an das Schreckgespenst Altersarmut: Rentner hätten heutzutage "nicht mal genug Geld, um mit dem Enkel auf den Weihnachtsmarkt zu gehen". Der Gedanke, Rentner könnten eventuell Weihnachtsmärkte weniger aus Budgetgründen, sondern vermehrt aufgrund von Sicherheitsbedenken meiden, kommt Reichinnek nicht.

Zum Abschluss gibt es dann aber einen weiteren versöhnlichen Angriff auf die Lachmuskeln des Auditoriums. Erneut aus der wohl für den Koalitions-Humor verantwortlichen SPD. Diesmal in Person von Wiebke Esdar, der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. Sie lobpreist die bisherige Regierungsarbeit in noch höheren Tönen als Thomas Gottschalk sein eigenes Lebenswerk. Die GroKo hätte "in Brücken, Straßen, Schienen und digitale Infrastruktur investiert". Vor Lachen fallen den Bahnfahrern im Publikum reihenweise die Fahrgastrechte-Formulare aus der Hand.

Alles in allem geht damit ein gelungener Tag der Parteienpositionierung zu Ende. Es gab Streit, Anfeindungen, Lacher und Vorwürfe. Im Prinzip wie "Gute Zeiten, Schlechte Zeiten", nur ohne die guten Zeiten. Im Grunde fehlt für eine rundum perfekte Analyse jetzt nur noch eine Folge "Sandra Maischberger", in der Deutschlands wichtigste Polit-Koryphäen Sky du Mont, Jörg Pilawa, Roland Kaiser, Howard Carpendale und Joachim Llambi der Nation erläutern, wie diese die Erkenntnisse aus der Generaldebatte einzuordnen hat. Ich hoffe, hier dazu vielleicht schon in der kommenden Woche einige hochkarätige Einschätzungen präsentieren zu können.

Quelle: ntv.de

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