"Schädling!" "Schämen Sie sich!"Fünf Aufreger prägen Debatte um die große Merz-Rede
Sebastian Huld
Der Bundeskanzler zieht in der Generaldebatte des Bundestags eine erste Zwischenbilanz. Im Plenum geht es hoch her: Die Opposition greift Merz scharf an. Härter ist nur der Schlagabtausch zwischen der AfD und den übrigen Fraktionen.
Bis Freitag will die Regierungskoalition aus CDU, CSU und SPD den zweiten Bundeshaushalt binnen weniger Wochen durchs Parlament bringen. Zur Haushaltswoche gehört traditionell die Generaldebatte, wenn der Etat des Bundeskanzleramts besprochen wird. Der hat auch eine Mengen Themen mitgebracht: seine bisherige Regierungsbilanz, die Verhandlungen über eine Waffenruhe zwischen Russland und der Ukraine sowie den Rentenstreit in der eigenen Partei. Wie so oft aber prägt die Auseinandersetzung zwischen AfD und den übrigen Fraktionen die Debatte, wobei der Ton vier Wochen vor Weihnachten besonders giftig ist.
Hintergrund ist die Verabschiedung des 524 Milliarden Euro schweren Etats für das kommende Jahr, der mit einem Rekordwert von 180 Milliarden Euro Neuverschuldung einhergeht. Für die Regierung ist damit ein kraftvolles Signal verbunden, dass das Land 2026 aus dem wirtschaftlichen Niedergang der letzten drei Jahre herausfinden mögen. Linke und Grüne betrachten die Verausgabungspläne eher als vertane Chance, die AfD gar als blanke Verschwendung.
1. Kanzler Merz stemmt sich gegen Vertrauenskrise
Nach der traditionell beginnenden Oppositionsführerin- derzeit AfD-Chefin Alice Weidel, tritt der Bundeskanzler ans Rednerpult. Friedrich Merz sagt, er wolle "die Gelegenheit nutzen, heute eine erste Zwischenbilanz zu ziehen". Kurz: Merz sieht nach 204 Tagen im Amt mehr Licht als Schatten. Die Koalition habe nicht nur zwei Haushalte für 2025 und 2026 verabschiedet, sondern auch eine ganze Reihe an Gesetzen, die den Unternehmen das Wirtschaften erleichtern und Innovationsanreize setzen sollen. Mit dem Industriestrompreis und der Gaskraftwerkstrategie kündigt er weitere Vorhaben an. Der Streit um die Rente ist ein Thema für sich.
Merz positive Rückschau beißt sich mit der Stimmung im Land: "Weniger als ein Viertel der Menschen in unserem Land haben Vertrauen in diese Regierung", sagt Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann. "Und, Herr Merz, das hat auch was mit Ihnen zu tun, mit dem Chaos in dieser Regierung, mit dieser Führungslosigkeit der Fraktionen." Im RTL/ntv Trendbarometer äußerten sich nur 23 Prozent der Befragten zufrieden mit Merz - dabei waren die Erwartungen an Merz sicher nicht übertrieben hoch nach der desaströsen Ampelkoalition von Olaf Scholz.
"Wie leichtsinnig und wie leichtfertig haben Sie dreieinhalb Jahre so getan, als könnten Sie das alles besser, als wäre alles so einfach", sagt Haßelmann. Linke-Fraktionschef Sören Pellmann befindet mit Blick auf die "Stadtbild"-Debatte und Merz unglücklichen Bemerkungen über Brasilien, die "Reihe von Ausfälligkeiten sind ja nicht nur Ausweis von fehlendem Format", sondern sollten davon ablenken, dass Merz "bisher nicht geliefert" habe.
SPD-Fraktionschef Miersch findet die Kritik überzogen. Schwarz-Rot habe "in kürzester Zeit große Gesetze beschlossen". Auch der Unions-Fraktionsvorsitzende Jens Spahn sieht die koalition im Lot: "Wir debattieren in dieser Koalition, so wie immer schon in Koalitionen debattiert wurde", sagt Spahn. Ein Kredit, den er der Ampelkoalition nie gewährt hatte. Mit gutem Grund, wie Spahn findet: "Was uns von der Vorgängerregierung unterscheidet: Wir führen jede Debatte auch zu Entscheidungen."
2. Kanzler verspricht die ganz große Rentenreform im Sommer
Und damit zum großen Aufregerthema, das Spahn dringend einer Entscheidung zuführen muss: die Verabschiedung des Rentenpakets. Die sollte noch dieses Jahr über die Parlamentsbühne gehen, womit nur noch die erste und dritte Dezemberwoche für eine Abstimmung bleiben. Doch noch immer wollen die jungen Unionsabgeordneten ihre für eine Mehrheit notwendigen Stimmen nicht zusichern, weil sie zwar ausufernde Kosten aber wenig Reformwillen in der Koalition ausmachen.
Ein Irrglauben, wie Merz beteuert. "Wir werden die überfällige Aufgabe angehen. Wir werden einen neuen Konsens der Generationen aushandeln", sagt der CDU-Chef. Die eingesetzte Rentenkommission sei "keine Strategie der Politikvermeidung oder -verzögerung". Schon im Sommer solle es "umfassende Entscheidungen" geben, wie die Alterssicherung auf Dauer finanziert werden kann. Spahn umschmeichelt gar die Rebellen, die ihm das Dasein als Fraktionschef derzeit so schwer machen: Die Abgeordneten mahnten "mit gutem Grund zu mehr Tempo und zu mehr Mut". Beim Koalitionsgipfel am Donnerstag soll eine Einigung her, die auch die jungen Abgeordneten zurück ins Boot holt.
Der Zweifel in der Jungen Union gilt aber auch mehr dem Reformwillen des Koalitionspartners als den eigenen Regierungsmitgliedern. Sozialdemokrat Miersch beteuert, die Rentenkommission sei "kein Arbeitskreis, den wir gründen, weil wir nicht weiter wissen". Nein, die Experten sollten "die großen Linien" klären, dann gehe es an die Umsetzung: "Wir werden gemeinsamem die Dinge auf die Tagesordnung setzen, die dort besprochen werden." Als etwas später allerdings Tim Klüssendorf spricht, klingt der schon weniger anschmiegsam: "Wir wollen keine keine Absenkung des Rentenniveaus in diesem Land", sagt der SPD-Generalsekretär.
Während die Parteichefs Lars Klingbeil und Bärbel Bas in ihren Bundesministerien arbeiten, wälzt Klüssendorf jede Woche im Willy-Brandt-Haus die neuesten Umfragewerte und sieht die Linke mehr oder weniger gleichauf. Und beim Thema Rente hat die so gar keine Beißhemmungen. Auftritt Heidi Reichinnek: Die Union gönne den einfachen Rentnern im Land "nicht einmal den Dreck unter den Fingernägeln", sagt die Linke-Fraktionschefin in der Generaldebatte. Die SPD legt besser schon mal Dehnübungen ein für den Spagat zwischen ihrer Regierungsrolle und dem Wettstreit mit der Linken.
3. Berlin will weiter Kiew unterstützen
Weil die Generaldebatte aber keine innenpolitische Nabelschau ist, geht es natürlich auch um die Verhandlungen über eine mögliche Waffenruhe zwischen Russland und Ukraine. Zumal Bundeskanzler Merz für sich in Anspruch nehmen kann, die europäische Position koordiniert und kraftvoll bis nach Washington vorgebracht zu haben. "Europa ist kein Spielball sondern souveräner Akteur für seine eigenen Interessen und Werte", sagt Merz im Bundestag. Der von Trump vorgelegte "Friedensplan" enthielt eine ganze Reihe von Punkten, die für Europa so nicht annehmbar waren und offenbar auch größtenteils vom Tisch sind.
Bemerkenswert: Von Linke und Grüne kommt keine nennenswerte Kritik zum Vorgehen des Kanzlers, was nach der Logik von Regierung und Opposition beinahe einem Lob gleichkommt. CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann geht derlei leichter über die Lippen, weshalb er "ein herzliches 'Vergelt's Gott, Herr Bundeskanzler!'" in Richtung Regierungsbank schickt.
Dabei bleibt Merz durchaus vage, was er nun zu tun gedenkt. Jedenfalls nicht aufstecken. "Damit echte Verhandlungen überhaupt erst möglich werden, muss Putin die Aussichtslosigkeit seines Kriegstreibens vor Augen geführt werden und deshalb sage ich: Wir werden in der Unterstützung der Ukraine nicht nachlassen", so Merz. Die von der EU eingefrorenen Russen-Milliarden sollen umfangreiche Kredite für die Ukraine absichern. Trump hätte das Geld lieber für den Wiederaufbau der Ukraine durch US-Firmen verwendet - womit der US-Präsident mal eben in europäischen Binnenangelegenheiten ein- und herzhaft zugreifen wollte.
4. Die AfD teilt aus - und gerät unter Druck
Einzig die AfD findet nichts als Lob für Trumps Plan. Ihre Redner betonen stolz ihre "mittlerweile sehr, sehr guten Kontakte" zum Team des US-Präsidenten. "Wir haben immer das gefordert, was Donald Trump heute umsetzt", sagt Weidel. Die AfD sei die "einzige Fraktion mit offenen Kanälen" zu den USA und Russland. Das deckt sich mit einem von Weidel vorgetragenen 12-Punkte-Regierungsplan. Einer der ersten Punkte darin ist der Import von billigem Gas aus Russland. Ein AfD-Klassiker, genauso wie der Ruf nach geschlossenen Grenzen, neuen Atomkraftwerken, einem Ende der GEZ-Gebühren und dem Aus aller Klimaschutzmaßnahmen. Und wie Trump erklärt Weidel antifaschistische Gruppen zu Terrororganisationen.
Ihr Co-Partei- und Fraktionschef Chrupalla fordert zudem eine Ende der deutschen Milliardenhilfen für die Ukraine. "Sie finanzieren dort ein korruptes System", hält er der Bundesregierung vor. Ein kritisches Wort in Richtung Russland kommt keinen der beiden über die Lippen, auch nicht auf Nachfrage. "Sie sollten sich schämen", befindet deshalb SPD-Fraktionsgeschäftsführer Dirk Wiese. Chrupalla habe sich mit seiner Rede "einen Ehrenplatz in der russischen Staatsduma" verdient.
Bundestagspräsidentin Julia Klöckner ruft indes die AfD-Fraktion wiederholt zur Mäßigung auf. Als von deren Bank der Bundeskanzler während seiner Rede als "Aggressor" und "Kriegstreiber" beleidigt wird, sagt Klöckner: "Dieses intellektuelle Niveau sollte wirklich jeder und jedem hier im Haus zu niedrig sein." Ist es aber nicht: Nach Klöckners Ermahnung ist es Fraktionschef Chrupalla, der Grünen-Fraktionschefin Haßelmann als "Schädling" für die deutsche Wirtschaft bezeichnet.
Das ist nahe am NS-Vokabular, ist aber vielleicht auch Hinweis darauf, wie sehr der harte Umgang des Bundestags Teilen der AfD zusetzt. CDU und CSU setzen sich in ihrer Regierungsrolle vor allem mit der AfD auseinander, nachdem sie bis Februar noch viel Energie auf Kritik an den Ampelparteien verwendet haben. Die AfD fühlt sich im Bundestag mehr denn je wie ein Haufen Aussätziger. Da sind auch 26 Prozent Zuspruch in den Umfragen kein Trost.
5. Grüne stänkern, SPD übergeht Weimer-Affäre
Zwei weitere Themen sind in der Generaldebatte zwar Randaspekte, aber nicht uninteressant: Als die Linke-Fraktionsvorsitzende Reichinnek spricht, stellt Grünen-Fraktionsvize Andreas Audretsch eine überraschende Zwischenfrage: "Erkennen Sie an, dass die Linke Verantwortung dafür trägt, dass Menschen jetzt in Berlin in Schimmelwohnungen zu Höchstpreisen leben?" Reichinnek windet sich nicht und nennt die Privatisierung landeseigener Wohnungen durch die damalige rot-rote Landesregierung einen "riesigen Fehler". Erkenntnisgewinn: Die Grünen spüren den Umfragedruck der seit Monaten in etwa gleich starken Linkspartei und fangen an zu sticheln.
Und: Weil im Zuge des Kanzleretats auch über seinen Kulturstaatssekretär Wolfram Weimer gesprochen wird, geht es am Rande auch um den von Weimers Firma veranstalteten "Tegernsee Gipfel". Der parteilose Weimer sieht sich scharfer Kritik ausgesetzt, dass seine Firma teure Ticketpakete für den Gipfel mit dem Versprechen exklusiver Zugänge zu Regierungsmitgliedern vermarktet hat. Redner von AfD, Grünen und Linke fordern Aufklärung. Die SPD aber übergeht das Thema geflissentlich. Der kleine Koalitionspartner hat offenbar kein Interesse, das nächste Koalitionsproblem noch größer zu machen als es schon ist.