Masala lobt Pistorius-Vorschlag "Das schwedische Modell ist der einzig gangbare Weg"
18.12.2023, 18:01 Uhr Artikel anhören
Junge Soldatinnen und Soldaten bei einem feierlichen Gelöbnis auf dem Paradeplatz des Verteidigungsministeriums.
(Foto: picture alliance/dpa)
Deutschland muss wehrhafter werden - dafür soll die Bundeswehr in den kommenden Jahren von derzeit 183.000 auf 203.000 Soldatinnen und Soldaten anwachsen. Viele Experten sagen: Das ist nur zu schaffen, wenn wir die Truppe massiv verändern, attraktiver machen, vor allem auch einen neuen Weg finden, um Nachwuchs zu gewinnen. Wäre eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht, wie sie in Deutschland bis zum Jahr 2011 bestand, der einfachste und effektivste Weg?
Verteidigungsminister Boris Pistorius hält die Aussetzung der Wehrpflicht rückblickend für einen Fehler. Dennoch tendiert er jetzt zu einer anderen Strategie: Er hat das "schwedische Modell" in die Diskussion gebracht. In Schweden wird jeder Jahrgang komplett gemustert, aber faktisch werden dann nur diejenigen eingezogen, die sich freiwillig dafür entscheiden. Experte Carlo Masala hält das Modell für gut.

Sicherheitsexperte Carlo Masala ist Professor an der Universität der Bundeswehr in München und Co-Host des Podcasts "Sicherheitshalber", der Fragen der Sicherheits- und Außenpolitik für Laien verständlich bespricht.
(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)
ntv.de: Pistorius schaut auf das "schwedische Modell" - bevor wir das auch tun: Wäre eine Wiedereinsetzung der alten Wehrpflicht heute überhaupt denkbar?
Carlo Masala: 2022 wurden in Deutschland fast 740.000 Kinder geboren. Bei einer wiedereingeführten Wehrpflicht im alten Stil müsste man vermutlich auch Frauen miteinbeziehen, nicht nur Männer. Nehmen wir 240.000 raus, weil sie gesundheitlich nicht in der Lage sind oder keinen deutschen Pass haben. Wenn von den verbleibenden 500.000 vielleicht 250.000 tatsächlich in die Bundeswehr gehen würden, dann wäre das ein Kontingent, das wir strukturell überhaupt nicht bearbeiten könnten. Dafür braucht man Ausbildungskompanien, Kasernen, Material - das haben wir alles nicht mehr. Diese Strukturen wieder aufzubauen, würde so viel Geld kosten, dass ich den dafür nötigen gesellschaftlichen Konsens nicht sehe. Auch nicht die Zustimmung des Bundestages.
Dann schauen wir also - wie Pistorius - nach Schweden: Dort herrscht keine Wehrpflicht, aber die Pflicht, sich mustern zu lassen. Eine kluge, kostensparende Strategie?
Das schwedische Modell ist meines Erachtens der einzig gangbare Weg, wenn man über die Wiedereinsetzung der Wehrpflicht redet. Alle Männer und Frauen erhalten ein Schreiben der Bundeswehr mit der Aufforderung, sich mustern zu lassen. Dadurch werden bei allen Denkprozesse angestoßen, auch bei jenen, die sich derzeit überhaupt nicht mit der Bundeswehr beschäftigen müssen. Mit einer Pflicht zur Musterung müssten sie das. Und von denen, die im Laufe dieses Prozesses feststellen, dass der Wehrdienst für sie interessant wäre, nimmt man dann die - sagen wir mal - 25.000 Besten. Von diesen 25.000 Wehrdienstleistenden entscheidet sich vielleicht ein Drittel, länger in der Bundeswehr zu bleiben. Damit wären die Personalprobleme der Truppe durchaus gelöst.
Und der strukturelle Aufwand?
Für eine verpflichtende Musterung bräuchte die Bundeswehr zwei Strukturen: eine, die es schafft, jeden 18-Jährigen und jede 18-Jährige anzuschreiben. Zum Zweiten Ärzte, um die Musterung durchzuführen. Im Vergleich zu dem, was für eine komplette Wiedereinsetzung der Wehrpflicht notwendig würde, erscheint das sehr machbar.
Aus der FDP kam gegen eine Wehrpflicht das Argument, die Bundeswehr brauche gut bezahlte Leute, die freiwillig und aus innerer Überzeugung Dienst tun.
Dieses Argument geht am schwedischen Modell vorbei. Denn es basiert ja auf Freiwilligkeit. Der Zwang bezieht sich nur auf die Musterung. Von den Gemusterten wird dann abgefragt, wer will und wer nicht will. Wer nicht will, ist automatisch draußen. Die Interessierten kann man dann durch verschiedene Tests und Motivationsprüfungen jagen, und dann werden nur die Besten und Willigsten genommen. Das Argument, dass es ein Zwangsdienst sei, stimmt dann nicht.
Das setzt voraus, dass man die tatsächlich auch für den Wehrdienst begeistern kann. Bei den vielen Mängeln, über die deutsche Soldaten klagen - schlechte Ausstattung, zu viel Bürokratie, um kaputte Socken zu ersetzen, Kasernen ohne WLAN - wäre das so einfach, die Jugendlichen tatsächlich für die Truppe zu gewinnen?
Der entscheidende Punkt ist ein anderer: Wenn Sie einen Brief schreiben, in dem Sie die Leute zur Musterung auffordern, dann sind die gezwungen, sich damit zu beschäftigen. Sie lösen bei den Leuten einen Denkprozess aus, den ich aus meiner Jugend noch kenne. Wir mussten uns alle mit der Bundeswehr auseinandersetzen. Ein 18-Jähriger heute muss die Bundeswehr überhaupt nicht wahrnehmen. Am Ende dieses Denkprozesses würden einige, die nie auf den Gedanken kommen würden, zur Bundeswehr zu gehen, sagen: Vielleicht ist das was für mich? Entscheidend ist: Mit der schwedischen Musterungspflicht erreicht man Leute, die wir heute nicht erreichen.
Genügend Leute?
Rein modellhaft - wenn wir eine Gesamtheit von 500.000 Leuten haben, die angeschrieben werden - werden wir sicherlich 30.000 pro Jahr finden, die für den Wehrdienst bereit sind.
Mit der Erfahrung aus dem russischen Krieg gegen die Ukraine und den Mobilisierungen auf beiden Seiten der Front argumentieren manche Experten, man könne gar nicht genug Leute haben. Sind aus dieser Perspektive betrachtet 30.000 pro Jahr eine gute Zahl?
Man braucht nicht nur Profis, sondern auch Masse, das zeigt der Krieg in der Ukraine tatsächlich: Die erste Welle einer Kriegsführung übernehmen die Profis, in der zweiten und dritten Welle braucht man die Reserve. Allerdings lässt sich die Situation der Ukraine nicht 1:1 auf uns übertragen, weil wir immer im NATO-Gefechtsverbund kämpfen würden. Das heißt, die Masse wäre schon allein durch die 30 NATO-Mitgliedsstaaten gegeben. Aber es ist in der Tat richtig, dass unsere derzeitige Stärke, 180.000 Soldatinnen und Soldaten, für die drittgrößte Volkswirtschaft extrem auf Kante genäht ist. Für die angestrebte Größe von 203.000 gilt das übrigens auch.
Mit Carlo Masala sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de