Blick hinter die Glitzerfassade"Der Drogenkonsum in Saudi-Arabien ist stark angestiegen"

Aus dem Treffen mit Donald Trump geht Mohammed bin Salman als Gewinner hervor. Der studierte Politikwissenschaftler und Autor Sebastian Sons, der als Senior-Researcher für den Orient-Thinktank Carpo forscht, erklärt im Interview, warum Saudi-Arabiens Herrscher Israel mehr fürchtet als den Iran, welche akuten Probleme es unter der schillernden Oberfläche im Königreich gibt - und warum der Drogenkonsum steigt.
ntv.de: Unter der Woche kam es im Weißen Haus in Washington zu einem Treffen zwischen dem US-Präsidenten Donald Trump und dem De-facto-Herrscher Saudi-Arabiens, Mohammed bin Salman. Was war das Resultat aus der Sicht des Königreichs?
Sebastian Sons: Grundsätzlich war das für den saudischen Kronprinzen ein extrem wichtiger Besuch. Es war der erste seit 2018, nach den sehr kontroversen Diskussionen über die Ermordung von Jamal Kashoggi. Das heißt, für Saudi-Arabien und für Mohammed bin Salman, für MBS, war das Treffen tatsächlich erst einmal symbolisch sehr bedeutend.
Was stand neben der Symbolik mit Mittelpunkt und wie bewerten Sie die Ergebnisse?
Für Saudi-Arabien sehr positiv. Gerade wenn es darum geht, dass in gewisser Form Sicherheitsgarantien von den USA ausgesprochen wurden, ohne dass auf eine Normalisierung mit Israel gedrängt wurde. Es war für Saudi-Arabien mitentscheidend, dass man sagt, wir wollen die Abraham-Abkommen unterschreiben …
… eine Reihe von Normalisierungsabkommen zwischen Israel und arabischen Staaten, die in Trumps erster Amtszeit im September 2020 unterzeichnet wurden.
... aber nur, wenn es eine wirkliche Chance für einen palästinensischen Staat gibt. Damit hat MBS die Haltung fortgeführt, die Saudi-Arabien in den letzten Monaten öffentlich sehr stark proklamiert hat. Dennoch gab es Sicherheitsgarantien, den Verkauf von F-35-Kampfjets und die Ernennung zum wichtigen Nicht-Nato-Verbündeten der USA. Das sind Punkte, die für Saudi-Arabien in einer fragilen Sicherheitslage wichtig sind.
Was hat Saudi-Arabien dafür angeboten?
Es ging auch um Wirtschaftsdeals. Da hat Saudi-Arabien noch mal seine Ankündigung erhöht. Von 600 Milliarden US-Dollar auf eine Billion Dollar. Das sind gigantische Summen. Wie diese Deals in der jetzigen Lage Saudi-Arabiens umgesetzt werden, steht auf einem ganz anderen Blatt. Aber zumindest ist das etwas, das sowohl der eigenen Bevölkerung als auch der Welt zeigt: Wir arbeiten eng mit den USA zusammen und wir sind weiter ein wichtiger Partner. Aus saudischer Perspektive wird dieser Besuch also als Erfolg gewertet.
Am Rande des Treffens hat MBS die Partnerschaft zwischen den USA und Saudi-Arabien als eine Art Bollwerk gegen Extremismus und Terrorismus beschrieben. Was bedeuten die Worte "Extremismus" und "Terrorismus" für den Kronprinzen?
Für MBS ist Terrorismus all das, was seine eigene politische Legitimität untergräbt. Das kann ganz unterschiedlich bewertet werden. Derzeit besteht in Saudi-Arabien die Wahrnehmung, dass Israel die größere Gefahr ist als etwa der Erzrivale Iran. Man sieht dort Iran derzeit eher als einen Akteur, mit dem man verhandeln und eine Art Modus Operandi finden muss. Vor zwei Jahren hat man schließlich die diplomatischen Beziehungen wieder aufgenommen. Weiterhin gelten nicht-staatliche Akteure wie die Huthis im Jemen oder der Islamische Staat als potenzielle Gefahr für Saudi-Arabien. Diese Äußerung ist, so meine Einschätzung, so zu verstehen, dass jeder daraus machen kann, was er möchte.
Das ist sehr offen. Was bedeutet das genau?
Es bleibt sehr viel im Vagen und das ist auch ganz bewusst so, das macht auch Saudi-Arabien sehr taktisch. Es ist geschickt, dass man ein bestimmtes Framing verwendet, um sich am Ende alle Optionen offenzuhalten, in welche Richtung das bewertet werden kann. Sicherlich ist die Feindpriorisierung anders, als das noch vor ein paar Jahren war. Da ist Israel aufgrund der Vorkommnisse in den letzten zwei Jahren weiter nach oben gerückt. Das will man aber in den USA so offen nicht sagen.
Wie sieht man in Saudi-Arabien die Annäherung an Israel vor dem 7. Oktober 2023?
Nach dem 7. Oktober sind die Normalisierungspläne, die es in Saudi-Arabien durchaus gab, erst einmal auf Eis gelegt. Das ist auch ziemlich klar gesagt worden. Alles andere erscheint mir auch eine naive Wunschvorstellung in der jetzigen Situation. Das heißt nicht, dass es nie kommen wird. Es heißt aber, dass es unter der jetzigen Voraussetzung unter der Netanjahu-Regierung schwieriger geworden ist.
Was ist für Saudi-Arabien in diesem Prozess wichtig?
Zwei Dinge: Das erste ist Glaubwürdigkeit in der islamischen Welt und das zweite sind Sicherheitsgarantien. Und auch wenn Trump jetzt bestimmte Sicherheitsgarantien oder bestimmte Abmachungen im Sicherheitsbereich getroffen hat, ist in Saudi-Arabien trotz dieser Nähe und trotz dieser öffentlich zur Schau gestellten "Bromance" ein gewisser Restzweifel gegenüber der Trump-Administration gegeben.
Woher kommen diese Zweifel?
Auch Saudi-Arabien hat schon am eigenen Leib erfahren, dass Trump nicht immer das hält, was er verspricht. Das war in seiner ersten Amtszeit bereits so. Vor allen Dingen hat aber auch der Angriff Israels auf die Hamas-Offiziere in Katar Zweifel gesät. Das war für Saudi-Arabien ein Schock. Netanjahu ist und bleibt ein unberechenbarer Akteur für Saudi-Arabien, auch für andere Akteure in der Region. Man würde derzeit eben schlichtweg seine Glaubwürdigkeit verlieren, wenn man mit einer solchen Regierung ein Normalisierungsabkommen schließt. Deswegen versuchte MBS, bei dem Besuch in Washington das Bestmögliche herauszuholen, ohne eine klare Zusage zur Normalisierung mit Israel zu treffen.
Sie reisen seit 2009 nach Saudi-Arabien. Wie hat sich aus Ihrer persönlichen Erfahrung das Land verändert?
Oberflächlich gesehen hat es sich massiv verändert. Das geht einher mit den ganzen Investitionen in Infrastruktur, in Entertainment, in Sport, in die Kulturindustrie. Das geht ebenfalls einher mit gesellschaftlichen Veränderungen: Man hat viel mehr öffentliche Räume, wo sich etwa Frauen und Männer treffen können, und Frauen spielen eine viel präsentere Rolle in Saudi-Arabien als vorher. Diese gesellschaftliche Öffnung und diese wirtschaftliche Diversifizierung sind bei jedem Besuch mit Händen zu greifen.
Wie sieht es unter der Oberfläche aus?
Bestimmte Dinge haben sich nicht verändert. Saudi-Arabien ist weiterhin eine konservative Gesellschaft, in der die Menschen ihre kulturellen Wurzeln nicht verlieren möchten. Und ich glaube, darum wird es in Zukunft noch viel stärker gehen: Modernisierung, aber nach eigenen Regeln. Alte Werte bewahren und durch neue Entwicklungen ergänzen. Saudi-Arabien möchte seinen eigenen Weg gehen und damit tatsächlich "ein neues Saudi-Arabien" - ein Schlagwort, was man immer wieder hört - aufbauen.
Ein großes Unterfangen.
In den nächsten Jahren wird man sehen, welche dieser Entwicklungen wirklich nachhaltig sind. In den letzten Jahren ging es vor allen Dingen darum, Aufmerksamkeit zu generieren, auch bei der eigenen Bevölkerung Euphorie zu schüren, viel Dynamik reinzubringen, auch den Menschen mitzugeben: Ihr seid hier, um dieses Projekt mit voranzutreiben. Da ist eine hohe Erwartungshaltung geschürt worden. Gerade bei jungen Menschen, denen neue Perspektiven, neue Jobs und neue Karrieremöglichkeiten versprochen wurden. Diese werden sich nicht bei jedem einstellen.
Wo es Gewinner gibt, gibt es Verlierer?
Auch in Saudi-Arabien wird es Verlierer geben. Jetzt betritt das Land eine Phase, in der sich der Staub setzt und in der man genauer hinschaut. Was funktioniert bei der Vision 2030 und was funktioniert nicht? Es gibt gerade einen Realitätscheck für Saudi-Arabien - auch und besonders bei den Menschen, die derzeit sehr viel leisten müssen. Die Herausforderungen an den Einzelnen sind enorm gewachsen. Insbesondere junge Menschen müssen viel mehr arbeiten, sie müssen sich viel mehr auf dem Arbeitsmarkt behaupten. Männer haben auf einmal Konkurrenz von Frauen. Das gab es zuvor nicht. Es gibt enormen Druck vom Staat, von der Familie und von einem selbst, dass man jetzt effizient und erfolgreich arbeiten muss. Das sind massive Änderungen, die fernab sind von dem, was man in der Öffentlichkeit wahrnimmt, und das führt dazu, dass es in zwei bis drei Jahren eine Welle von Burnouts in Saudi-Arabien geben könnte. Der Drogenkonsum, Captagon als Beispiel, ist stark angestiegen, weil es mittlerweile diese fordernde Leistungsgesellschaft gibt.
Über Syrien ins Land geschmuggelt soll Saudi-Arabien weltweit den größten Markt der Aufputschdroge darstellen und bis zu 50 Prozent des weltweiten Konsums ausmachen.
Die Leistungsgesellschaft bringt wie in jeder anderen Gesellschaft Vor- und Nachteile mit sich. Bin Salman lebt diese vor als Workaholic, als jemand, der quasi nie schläft, der immer aktiv ist. Das schürt eine Erwartung bei seinen Untertanen, ähnlich zu agieren wie er. Doch dazu ist logischerweise nicht jeder in der Lage. Das ist also eine verdeckte Kehrseite der Medaille.
Wie lange kann sich MBS halten, lauern Gefahren auf ihn?
Derzeit sehe ich keine Gefahren, die seine Macht gefährden könnten. Bisher hat er es sehr gut hinbekommen, seine Macht zu konsolidieren. Und er hat insbesondere bei der Zielgruppe, die für ihn am wichtigsten ist, die Menschen unter 40, die Generation MBS, immer noch einen großen Rückhalt. Gerade bei Frauen und bei gut ausgebildeten Menschen aus der urbanen Mittelschicht, die er mit seiner Vision als Allererstes anspricht. Sozioökonomische Herausforderungen und regionale Instabilität sorgen also nicht automatisch dafür, dass das Vertrauen in die Führung in Saudi-Arabien verloren geht.
Wer könnte ihm gefährlich werden?
Historisch gesehen gab es in Saudi-Arabien, was die Opposition angeht, zwei Strömungen, die das Königshaus herausgefordert haben. Entweder es waren Mitglieder der Königsfamilie, die aufbegehrt haben, oder es waren islamistische Oppositionelle. Und beides ist momentan in Saudi-Arabien nicht zu erkennen. Außerdem waren die saudischen Herrscher in der Vergangenheit immer sehr gut in der Lage, sich an die Gegebenheiten anzupassen. Das kann MBS auch in gewisser Form. Er schafft es, sich mal zu verändern und sogar Fehler zu erkennen, die er nicht zwingend eingesteht, ihn aber zumindest Konsequenzen daraus ziehen lassen.
Welche Fehler hat er behoben?
Die saudische Regionalpolitik hat sich unter ihm von einem eher interventionistischen, aggressiven Vorgehen verändert zu einer ausgleichenden Außenpolitik, um Konflikte zu managen. In allererster Linie, weil MBS genau weiß, mit Brandherden in Gaza, Syrien, Jemen oder Irak können wir unser Businessmodell nicht erfolgreich umsetzen. Je größer die Instabilität in der eigenen Nachbarschaft, desto weniger Investoren und Touristen kommen ins Land, desto weniger Jobs werden geschaffen. Das ist die Kernwährung, an der sich auch der Erfolg von MBS messen lässt. Inwiefern ist er in der Lage, Saudi-Arabien von einem Ölproduzenten zu einem Nicht-Ölstaat umzubauen? Schafft er das, werden die Leute ihn auch weiterhin unterstützen. Wenn er das nicht schafft, muss er die Strategien anpassen.
Mit Sebastian Sons sprachen David Bedürftig und Stephan Uersfeld