Als im Westen der Groschen fiel Die Russen sagten dem CIA-Chef: "Putin fährt auf Sieg"
25.02.2023, 13:49 Uhr
Ein HIMARS Raketenwerfer feuert während einer Übung.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
Erst spät verstand der Westen, dass Putin siegen will. Militärexperte Gustav Gressel erklärt, was sich danach verändert hat, und warum ein LKW von Rheinmetall für die Ukraine fast ebenso wertvoll ist wie HIMARS und der Flakpanzer Gepard.
ntv.de: Ein Jahr Krieg bestätigt, was viele Fachleute sagen: Es gibt keine Wunderwaffe, das Zusammenspiel muss funktionieren, um Erfolg zu haben. Sehen Sie dennoch Dreh- und Angelpunkte im letzten Jahr, über die Sie sagen: "In diesem bestimmten Moment war dieses bestimmte Waffensystem entscheidend"?
Gustav Gressel: Unter allen Systemen, die geliefert wurden, steht sicherlich HIMARS raus als eines der wichtigsten.
HIMARS, der US-Mehrfachraketenwerfer, den die Ukrainer mit Raketen erhalten haben, die 80 Kilometer weit fliegen. Die können sie weit hinter die Frontlinie schicken. Das hat im Spätsommer sehr geholfen, oder?
HIMARS hat die Russen dazu gezwungen, alle ihre Logistikketten neu zu organisieren. Größere Lager mussten sie immer weiter weg von der Front bewegen, um sie vor den Raketen zu schützen. Das hat sie enorm behindert und aufgehalten, und damit wurde die ganze Feuerunterstützung für die russische Seite schwieriger und problematischer.

Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Er ist Experte für Russland und Osteuropa, Militärstrategie und Raketenabwehr.
(Foto: ECRF)
HIMARS ist jetzt auch eine Bedrohung gegen russische Reserven. Es wird dadurch viel komplizierter, hinter der Frontlinie die Kräfte vor einem Angriff zusammenzuziehen, ohne dass sie sofort beschossen werden. Unter allen gelieferten Waffensystemen ist HIMARS eines der wichtigsten. Nicht zu unterschätzen ist aber auch der Gepard.
Der deutsche Flakpanzer, der also auf das zielt, was durch die Luft fliegt.
Der Gepard ist das zweite Gerät, das in der Ukraine eine Art Sonderstatus hat, obwohl es nur wenige gibt, 32 Stück inzwischen. Die Treffsicherheit der Kanone ist sehr hoch, und die Russen schaffen es nicht, den Gepard elektronisch zu stören. Wenn bei einem ukrainischen Angriff der Gepard mitfährt, kann er die russischen Aufklärungsdrohnen vom Himmel holen. Selbst sehr kleine, funzige Drohnen sieht der Gepard noch und trifft sie recht gut. Dann bekommen die Russen also nicht mit, wo genau die Ukrainer angreifen und wo man sie jetzt mit Artilleriefeuer beschießen müsste, um das abzuwehren. Viele Sorgen, die man auf ukrainischer Seite bei einem Angriff so hat, erübrigen sich, wenn der Gepard mit am Start ist.
Hat die Bundeswehr den nicht schon ausgemustert?
Der wurde in Deutschland ausgeschieden, weil er zu teuer war und angeblich auch nicht mehr zeitgemäß ist. Wer auch immer das damals unterschrieben hat, beißt sich wahrscheinlich jetzt in den Hintern.
Kommen die westlichen Waffenlieferungen eigentlich immer durch bis zum Ziel?
Die Russen haben schon vielfach versucht, Waffenlieferungen aus dem Westen anzugreifen. Da werden Hallen und Hangars angegriffen, aber oft zum falschen Zeitpunkt. Zwei Wochen vorher haben dort vielleicht noch Waffen gelagert, aber zum Zeitpunkt des Angriffs ist nichts mehr drin, aus zwei Gründen: Die Russen haben ein Problem damit, die Aufklärung, die sie zum Beispiel über Satelliten bekommen, zeitnah auszuwerten. Und die Ukrainer sind enorm mobil. Dabei hilft ihnen ein LKW von Rheinmetall, und der wäre neben HIMARS und Gepard meine dritte Waffe, die in diesem Krieg einen Unterschied macht.
Ein Wunder-LKW.
Das Tolle an dem LKW ist sein automatisches Containerladesystem. Damit kann ich den Container relativ schnell aufladen, irgendwohin transportieren und wieder abladen. Das ist perfekt für die Logistik der Ukrainer, die nie irgendwo ein großes Lager betreiben, sondern alles flexibel und mobil handhaben. Sie verschieben Waffen, Munition, Ersatzteile, Treibstoff immer in kleinen Dosen, dezentral und über verschiedene Wege. Dafür ist dieser deutsche LKW ideal, denn mit ihm geht das irrsinnig schnell. Und gute Logistik ist im Krieg ein wichtiger Faktor.
Sie haben schon im vergangenen Herbst den Vorschlag gemacht, dass westliche Länder sich zusammenschließen sollten, um Leopard-Panzer zu liefern. Mit fast einem halben Jahr Verspätung passiert das nun tatsächlich. Kommt der Westen nach einem Jahr langsam auf Augenhöhe mit der Herausforderung Krieg?
Wir holen gerade auf. Im ersten Halbjahr 2022 gab es ja noch große Hoffnungen im Westen, dass es zeitnah zu Verhandlungen kommen würde, sobald sich die russische Angriffskraft mal erschöpft hat. Im April sprach US-Präsident Biden nicht von Sieg, nicht von Rauswurf der Russen oder kompletter Wiederherstellung der territorialen Integrität. Er und viele andere, eigentlich die ganze politische Rhetorik, bis auf die Balten, klang so: Ein Siegfrieden Russlands muss vermieden werden und die Ukraine gestärkt in baldige Verhandlungen gehen.
Dann war die russische Angriffskraft im Spätsommer tatsächlich geschwächt.
Aber statt Verhandlungsbereitschaft zu zeigen, hat Putin mobilgemacht und vier besetzte Gebiete annektiert. Als Folge dessen haben wir im Herbst/Winter einen Wechsel in der westlichen Zielsetzung gesehen.
Was genau hat sich verändert?
In allen Telefonaten, die Biden, Scholz und Macron mit Putin zuvor geführt hatten, haben sie immer versucht, ihn zu warnen: Nicht annektieren! Auf keinen Fall annektieren, das macht jede Verhandlungslösung noch unwahrscheinlicher. Putin wurde aber noch starrköpfiger, er hat sich auf nichts eingelassen. Der letzte Gesprächsfaden war dann im November die Istanbulreise von William Burns, dem Direktor des CIA, des amerikanischen Geheimdienstes. Er traf in der Türkei seinen russischen Kollegen, den Geheimdienstchef Sergei Naryshkin und russische Unterhändler. Alle sollen Burns unisono gesagt haben: "Putin fährt auf Sieg."
"Vergiss Verhandlungen"?
Das haben sie gesagt. Und Putin hatte da bereits annektiert und die Mobilmachung lief.
Also Putins Handeln spiegelte wider, was die Unterhändler gesagt haben: "Er setzt auf Sieg."
Ich glaube, in jener Zeit ist in Washington der Groschen gefallen. Da haben die USA verstanden, dass es keine Verhandlungen geben wird und haben entschieden, den Schützenpanzer Bradley zu liefern.
Bekannt gemacht wurde die Entscheidung für den Bradley erst vor kurzem, im Januar.
Ja, aber sie liefern jetzt schon aus, die Panzer stehen schon fahrbereit in Deutschland. Wenn man berechnet, wie viel Zeit nötig ist, um einen Panzer, der im Depot gestanden hat, einsatzbereit zu machen, dann passt das zeitlich. Dann könnte Washington im November entschieden haben, dass die Ukraine auch in der Offensive gestärkt werden muss. Damit sie die Russen wirklich rauswerfen kann und die mal anfangen, gesprächsbereit zu werden.
Was wir in den kommenden Wochen sehen werden, entspricht dann bereits der geänderten Haltung des Westens?
Genau. Über den Winter hat der Wechsel in der westlichen Zielsetzung stattgefunden, nun werden wir im Verlauf des Jahres sehen, wie er materiell unterfüttert wird. Allerdings muss ich sagen, Boris Pistorius ist relativ schnell mit dem, was er da alles zusammengesucht hat und aufstellt. Lob an den Minister.
Bei aller Unterstützung des Westens: Kämpfen müssen die Ukrainer. Wäre irgendeine europäische Armee, jenseits der russischen, in der Lage zu leisten, was Kiews Truppen leisten?
Es gibt Alleinstellungsmerkmale der ukrainischen Armee: Das eine ist: Sie ist groß. Sie ist jenseits der russischen vor allem die größte Landarmee in Europa. Die Vorkriegsarmee, vor dem 24. Februar 2022, die bestand schon aus 27 stehenden Brigaden. Inzwischen liegt sie bei über 60 Brigaden, aber die Kader, die Führungseinrichtungen, um eine so große Struktur zu haben, die waren schon da.
Zum Vergleich: Wie viele Brigaden hat die Bundeswehr?
Wenn wir die deutsch-französische und die deutsch-niederländische mit einrechnen: zehn.
Aber solche Strukturen wie in der Ukraine gibt es in keiner anderen europäischen Armee. Weil die Ukraine schon seit acht Jahren Krieg führt im Donbass. Da hat man einen enormen Erfahrungsschatz aufgebaut und sich auf eine große Invasion vorbereitet. Einfach, weil die Ukraine damit rechnen musste.
Von der Bundeswehr heißt es, sie hätte Munitionsvorrat für ein paar Tage. Wie war das in der Ukraine?
Sie hatte zu Beginn des Krieges sechs Wochen Munitionsvorrat. Und selbst, wenn das Munition für alte, schlechte, sowjetische Waffen war - sie konnte erstmal sechs Wochen schießen. Ein anderer Punkt ist ein Spezifikum dieses Krieges: Die Ukrainer stehen mit dem Rücken zur Wand. Sie haben in Butscha gesehen, was mit ihren Landsleuten passiert. Wenn die eigene Existenz auf dem Spiel steht, dann wachsen auch kleine Staaten über sich hinaus. Das würde wohl für jede Armee gelten.
Mit Gustav Gressel sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de