Außenpolitiker Roth im Interview "Schnelles Kriegsende wäre Ende der freien Ukraine"
24.02.2023, 07:03 Uhr
Roth warb schon früh in der SPD für robuste Militärhilfen für die angegriffene Ukraine.
(Foto: IMAGO/teutopress)
Ein Jahr nach der russischen Invasion der Ukraine warnt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth, vor einem Nachlassen westlicher Militärhilfen. "Ich halte es für naives Wunschdenken, dass wir zu einem gerechten und nachhaltigen Frieden kommen, wenn wir Putin erneut nachgeben", sagt der SPD-Politiker im ntv.de-Interview. "Unsere Aufgabe ist es, die ukrainische Regierung stark zu machen", sagt Roth über mögliche Verhandlungen mit Russland. Zwar könnte auch Peking mit seiner angekündigten Initiative von Putin ein Ende des Krieges erzwingen, aber: "Dass dieser Wille aber vorhanden ist, bezweifle ich."
ntv.de: Der Westen verfolgt faktisch das Ziel, dass Russland sich mindestens wieder hinter die Grenzen vom 23. Februar 2022 zurückzieht. Dass dies durch konventionelle militärische Mittel erreichbar ist, zweifeln aber auch in den Unterstützerländern viele Menschen an. Was sagen Sie?
Michael Roth: Als der Krieg vor einem Jahr begann, sind fast alle Militärexperten davon ausgegangen, dass die Ukraine in kürzester Zeit überrannt wird. Dann sind mehrere Wunder passiert. Das erste und für mich erstaunlichste Wunder ist die unendliche Tapferkeit der Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich partout nicht der russischen Gewaltherrschaft unterordnen wollen. Das zweite ist die Bereitschaft des Westens, auch Deutschlands, rasch aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und der Ukraine politisch, finanziell, humanitär und vor allem militärisch bestmöglich beizustehen.
Eine dritte Überraschung ist, dass Russlands militärische Führung sich als viel unfähiger erwiesen hat als zuvor vermutet. Westliche Regierungen und Geheimdienste hatten wenig Ahnung von den russischen Realitäten.
Ohne die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse aus den USA wären wir damals wohl kalt erwischt worden. Vermutlich hatte Obama doch recht, als er vor einigen Jahren - sehr provokativ und politisch vielleicht auch ungeschickt - Russland als "Regionalmacht" bezeichnete. Die konventionellen Streitkräfte, aber auch die wirtschaftliche, soziale und politische Lage Russlands entsprechen nicht einer Supermacht. Nur sein Atomwaffenarsenal macht Russland zur Supermacht: Kein Land dieser Welt verfügt über mehr Atomwaffen.
Sind wir heute klarer in der Einschätzung, was Russland kann und beabsichtigt, insbesondere in der Bundesregierung? Denn damals hat es offenbar eine Diskrepanz zwischen Realität und Wahrnehmung gegeben.
Ich finde es bemerkenswert, in welch kurzer Zeit insbesondere Deutschland einen Lernprozess durchgemacht hat, der schmerzhaft, aber notwendig war. Nicht nur die SPD, die ganze deutsche Gesellschaft war ja stark von der Vorstellung geprägt, dass es richtig ist, eine dialogorientierte Politik der Verständigung mit Russland zu führen - egal wie groß das Ausmaß an Destabilisierung und militärischer Gewalt ist, das Russland im Osten Europas und anderen Teilen der Welt anrichtet. Der Elefant im Raum ist die Frage: Hätte man diesen Krieg verhindern können?
Und, hätte man?
Ich habe eine zynische und eine harte Antwort. Die zynische Antwort: selbstverständlich hätte man. Putin-Versteher erklären mir immer, er habe 2001 im Bundestag doch eine große, versöhnliche Rede gehalten. Wenn wir danach mit Putin zusammengearbeitet und ohne Wenn und Aber akzeptiert hätten, dass er in Osteuropa das Sagen hat, dann wäre dieser Krieg wohl zu verhindern gewesen. Dann hätten wir aber Länder wie die Ukraine, Georgien und Moldau faktisch Russland auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Für eine solche Friedensordnung hätten die Menschen im östlichen Europa einen furchtbar hohen Preis zu zahlen gehabt. Denen hätten wir nämlich das Recht auf Selbstbestimmung, Freiheit und Demokratie abgesprochen.
Und die harte Antwort?
Wenn der Westen spätestens 2014, nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, geschlossen zu einer Politik gefunden hätte, die Dialogbereitschaft gegenüber Russland mit Härte und militärischer Abschreckung verbindet, wäre es vermutlich ebenfalls nicht zu diesem Krieg gekommen.
Wäre eine Politik der Härte 2014 durchsetzbar gewesen - in der SPD, in der Bundesregierung und in der Öffentlichkeit?
Wohl eher nicht. Dafür war auch die deutsche Gesellschaft zu stark von russischen Narrativen durchdrungen. Zum Beispiel die Erzählung, dass Russland der Nachfolgestaat der Sowjetunion sei und wir uns aus historischer Verantwortung gegenüber Russland besonders zurückhalten müssen. Dabei gilt das mindestens genauso für die Ukraine, die auch unter dem Vernichtungskrieg der Nazis gelitten hat. Oder, dass die NATO eine Mitverantwortung für Russlands Verhalten gegenüber der Ukraine trage, weil sie sich angeblich zu aggressiv nach Mittel- und Osteuropa ausgedehnt habe. Aber wir hätten diesen Staaten doch nicht ernsthaft sagen können, dass sie akzeptieren müssen, dass ihre Geschicke weiter von Moskau bestimmt werden.
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Die Deutschen sind bei der Dringlichkeit von Friedensverhandlungen gespalten, jede Seite verweist dabei auf hehre Prinzipien: Die eine Seite erinnert daran, dass jedwede Hinnahme der russischen Gebietseroberungen die Staatenordnung untergraben würde, die unser aller Sicherheit schützt, und dass die dort lebenden Ukrainer so der russischen Gewaltherrschaft preisgegeben würden. Die Gegenseite will durch eine Waffenruhe das Töten beenden sowie Europa und die Welt vor einer direkten NATO-Russland-Konfrontation schützen. Haben beide Lager gleichermaßen Recht?
Für diesen Krieg hat niemand eine Blaupause in der Schublade. Beide Ansätze sind mit Risiken verbunden, auch meine Strategie der Wehrhaftigkeit und der Solidarität mit der Ukraine. Vermutlich wissen wir erst in einigen Jahren, was der richtige Weg gewesen wäre. Ich halte es für naives Wunschdenken, dass wir zu einem gerechten und nachhaltigen Frieden kommen, wenn wir Putin erneut nachgeben. Wenn er jetzt nicht gestoppt wird, wird er seine imperialistisch-kolonialistische Politik fortsetzen. Er hat kein Interesse daran, dass in unmittelbarer Nachbarschaft ein "Brudervolk" in Demokratie und Freiheit lebt, gepaart mit Wohlstand für viele. Dann würde auch den Russinnen und Russen deutlich, dass es eine Alternative zu Russlands perversem Staatskapitalismus gibt, der wenige sehr reich gemacht und viele in Armut und Perspektivlosigkeit gelassen hat.
Nach dieser Lesart gibt es eigentlich keine Chance auf substanzielle Friedensverhandlungen ohne eine vollständige militärische Niederlage Russlands.
Kriege werden in der Regel am Verhandlungstisch beendet, aber entschieden werden sie auf dem Schlachtfeld. Mir ist klar, dass es für viele unzumutbar klingt, wenn ich darüber spreche, Frieden mit Waffengewalt durchzusetzen. Aber im Moment wäre ein schnelles Ende des Kriegs auch das Ende der freien, demokratischen Ukraine. Niemand will Russland in irgendeiner Weise zerstören. Wir streben auch keinen Regimewechsel in Moskau an, darüber entscheiden die Russinnen und Russen selbst. An Russland haben wir nur die schlichte Erwartung, dass es die Souveränität und die territoriale Integrität seiner Nachbarländer ohne Wenn und Aber respektiert. Eine Friedenslösung scheint mir nach wie vor möglich zu sein. Aber dafür ist unabdingbar, dass die Ukraine zu gegebener Zeit aus einer Position der Stärke heraus in Verhandlungen gehen kann.
Wann wird Putin dazu bereit sein?
Das ist die Eine-Billion-Euro-Frage. Putins Ziel ist es, den Westen zu spalten, die Ukraine militärisch, wirtschaftlich und sozial zu zerstören und auch die Bevölkerung mental kaputt zu machen. Das dürfen wir nicht zulassen. In Russland sehe ich derzeit keine signifikante Opposition, die gegen diesen Krieg aufbegehrt. Es ist ein gleichgeschaltetes Land ohne freie Medien, insofern muss Putin nicht so viel Rücksicht nehmen. Andererseits: Als der begnadete Propagandist, der er ist, könnte Putin daheim auch eine Niederlage in einen Sieg umdeuten.
Sollte der Westen die Ukraine dazu drängen, auf die Krim zu verzichten?
Keine Demokratie der Welt hat die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 anerkannt, auch Deutschland nicht. Für uns bleibt die Krim ukrainisches Territorium. Die Erwartungshaltung an den ukrainischen Präsidenten, die Krim jetzt aufzugeben, ist deshalb hochgradig seltsam. Selenskyj muss von seiner Bevölkerung tagtäglich eigentlich Unmenschliches verlangen. Dafür muss er ihnen ein Licht am Ende des Tunnels zeigen. So wie der Bundeskanzler völlig zurecht für sich in Anspruch nimmt, auch die Sorgen und Bedenken in unserer Bevölkerung ernst zu nehmen, sollten wir auch dem ukrainischen Präsidenten nicht das Recht absprechen, Erwartungshaltungen seiner eigenen Gesellschaft in sein politisches Handeln mit einzubeziehen.
Selbst die Unterstützerländer signalisieren der Ukraine, dass eine militärische Rückeroberung der Krim eher skeptisch gesehen wird. Das gilt nach meiner Wahrnehmung auch für das Kanzleramt. Warum ist das so? Wenn Putin den Verlust der Krim fürchten müsste, wäre das doch ein Druckmittel für Verhandlungen.
Ich teile Ihre Wahrnehmung nicht. Die Bundesregierung - auch der Bundeskanzler - hat deutlich gemacht, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer selbst darüber zu entscheiden haben. In der Wissenschaft und in Expertenkreisen kann man darüber diskutieren, welche Gebietsverluste für die Ukraine zumutbar wären. Ich rate aber den politisch Verantwortlichen dringend davon ab, sich an solchen Debatten zu beteiligen. Unsere Aufgabe ist es, die ukrainische Regierung stark zu machen und ihr eine mögliche Lösung am Verhandlungstisch nicht zu erschweren.
Aber kann sich die Ukraine jemals sicher fühlen, solange die Krim russisches Aufmarschgebiet ist und das Land von Norden, Osten und Süden umklammert bleibt?
Auch darüber müssen die Ukrainerinnen und Ukrainer befinden. Verhandlungen werden sich natürlich auch um Garantien drehen, dass sich ein russischer Angriff nicht wiederholt. Und unsere Unterstützung wird mittel- und langfristig darauf abzielen, dass die Ukraine so wehrhaft wird, dass Russland nie wieder wagt, ihre Sicherheit, Unabhängigkeit und territoriale Integrität zu gefährden. Dafür ist eine moderne, gut ausgebildete und konventionell auf höchstem Niveau ausgestattete ukrainische Armee die beste Garantie.
Können Europa und die USA die Beziehungen zu Russland auch nur ansatzweise normalisieren, solange das Land nicht viele Milliarden Euro schwere Reparationszahlungen leistet und die Verantwortlichen für die Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt werden? Und wenn nicht: Warum sollte Putin Kampfhandlungen einstellen, wenn das Land auch danach ein Paria-Staat bleibt?
Russland hat sich ja selber zum Paria gemacht und sich in eine wirtschaftliche und politische Sackgasse begeben. Für Putin und seinen Großmacht-Anspruch ist das eine schwere Demütigung. Mir fehlt momentan die Fantasie, mir vorzustellen, dass Russland unter Putin wieder in den Kreis der geachteten Staaten zurückkehrt. Deswegen ist das eine sehr akademische Debatte, wann und wie und ob man Sanktionen zurückfährt.
Ich finde die Debatte gar nicht so akademisch: Wenn Russland nicht vollständig einknickt und für diese schrecklichen Verbrechen büßt, lebt Europa noch auf Jahrzehnte Tür an Tür mit diesem Paria, der unsere Sicherheit gefährdet.
Erst einmal muss die Ukraine diesen Krieg gewinnen. Das heißt, sie muss ein souveränes, demokratisches Land bleiben, das unter Wahrung seiner territorialen Integrität frei über die eigene Zukunft entscheidet. Natürlich hoffe auch ich, noch ein Russland ohne Putin zu erleben, das den mühseligen Weg zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit endlich einschlägt. Das sollten wir nach Kräften unterstützen. Bei den Reparationen bin ich ganz bei Ihnen. Deswegen fordere ich ja, dass wir kreative und rechtssichere Lösungen finden, um die riesigen eingefrorenen Auslandsvermögen Russlands und auch die Vermögen der russischen Oligarchen für den Wiederaufbau der Ukraine zu verwenden. Und natürlich müssen wir auch die Verantwortlichen für diesen brutalen Vernichtungskrieg zur Rechenschaft ziehen.
Die Bundesregierung galt in den vergangenen Monaten immer wieder als Zauderin, im Inland wie bei den internationalen Partnern. Seit Kurzem steht der Kanzler an der Spitze einer internationalen Koalition zur Lieferung von Kampfpanzern, erhält aber kaum Unterstützung aus Kontinentaleuropa. Warum?
Ich bin dem Bundeskanzler dankbar, dass er sich jetzt in diese besondere und auch schwierige Führungsverantwortung begeben hat. Dass es bei einigen Staaten, die immer wieder öffentlich erklärt hatten, einer europäischen Panzer-Allianz beitreten zu wollen, nun doch länger dauert, enttäuscht mich. Die meisten Staaten, die über moderne Leopard-Kampfpanzer verfügen, lehnen eine Lieferung ja nicht grundsätzlich ab, sondern verweisen auf technische oder logistische Probleme. Die hätte man auch schon vor Monaten klären können.
Gilt das nicht auch für Deutschland? Olaf Scholz beteuert stets, sämtliche Lieferentscheidungen seien gründlich vorbereitet und unter den Partnern abgestimmt. Nun fiel die Leopard-Entscheidung eher kurzfristig und der Kanzler musste hernach feststellen, dass andere nicht mitziehen. Was sagt das über Scholz‘ Regierungsführung aus?
Die entscheidende Bedingung für den Bundeskanzler war, dass sich die USA an der Panzer-Koalition beteiligen. Das ist ihm gelungen. Daraufhin hat er das klare Signal gesendet, dass Deutschland gemeinsam mit anderen den Leopard 2 in seiner moderneren Variante schickt. Zudem stellen andere NATO-Staaten um Polen ein Bataillon der älteren Leopard-2A4-Variante. Das ist sicherlich noch ausbaufähig, aber das kann man beim besten Willen nicht der Bundesregierung zum Vorwurf machen.
Ist es mit der vielbeschworenen europäischen Geschlossenheit gegenüber Russland doch nicht so weit her?
Einige Länder kommunizieren gut, andere handeln gut. Beim deutschen Engagement passen Worte und Taten am Ende zusammen: Kein anderes Land der EU liefert der Ukraine so viele Waffen wie Deutschland. Aber wir müssen uns auch ehrlich machen: Ohne die herausragende militärische Unterstützung der USA hätte die Ukraine den Krieg vermutlich schon längst verloren. Das zeichnet ein düsteres Bild von der Verteidigungsfähigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten.
Bis US-Präsident Biden die Abrams freigab, bestritt der Kanzler mit Verve, dass es ein solches "Junktim" geben würde. Muss ein Bundeskanzler in Zeiten des Krieges auch mal die Öffentlichkeit täuschen, um deutsche Interessen durchzusetzen?
Es geht mitnichten um Täuschung, sondern darum, im Team das Bestmögliche für Ukraine zu erreichen, ohne dass wir selbst in diesen Krieg hereingezogen werden. Der Ukraine beizustehen, erfordert von ihren Partnerländern ein Höchstmaß an Fingerspitzengefühl und gegenseitige Rücksichtnahme. Der enge Schulterschluss mit den USA sorgt dafür, dass der Ukraine am Ende deutlich mehr Panzer für ihren Befreiungskampf zur Verfügung stehen werden.
China hat eine diplomatische Friedensinitiative angekündigt. Was ist davon zu halten?
Jedes Bemühen um Frieden hat eine Chance verdient. Wenn China eine konstruktive Rolle bei der Beendigung dieses Kriegs spielen will, ist das zu begrüßen. Es war ja schon ein diplomatischer Erfolg von Kanzler Scholz, dass Peking Putin ein Stoppschild beim Thema Atomwaffen gezeigt hat. Aber man muss auch realistisch darauf blicken: Die Chinesen verhalten sich in diesem Krieg nicht neutral, sondern unterstützen Russland politisch und wirtschaftlich. Sie liefern etwa zivile Produkte, die auch militärisch verwendet werden können, so genannte Dual-Use-Güter. Deshalb bin ich sehr skeptisch, ob China glaubwürdig eine Vermittlerrolle einnehmen kann. Andererseits bin ich mir sicher, dass China zu den wenigen Staaten gehört, die Putin zum Einlenken bewegen könnten, wenn sie es denn wollten. Dass dieser Wille aber vorhanden ist, bezweifle ich.
Mit Michael Roth sprachen Sebastian Huld und Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de