USA, Iran, Saudi-Arabien Dieser Krieg verändert den Nahen Osten für immer
10.10.2023, 17:24 Uhr Artikel anhören
Kämpfer der Hamas führen an der Grenze einen erbeuteten israelischen Panzer vor.
(Foto: picture alliance / AA)
Der Krieg in Israel und im Gazastreifen könnte Spuren im gesamten Nahen Osten hinterlassen. Im Fokus stehen die Palästinenserfrage, die Erzfeinde Iran und Saudi-Arabien und die Terrormiliz Hisbollah. Und wie reagieren die USA?
Welch einen Unterschied 14 Tage machen. Die sich verändernde Lage werde "einen neuen Nahen Osten schaffen", erklärte Benjamin Netanjahu Ende September. Israels Premierminister zielte bei der Generalversammlung der UN mit seiner Aussage auf den "Frieden zwischen Israel und Saudi-Arabien" ab und die jüngsten sogenannten Normalisierungsvereinbarungen der beiden Staaten.
Zwei Wochen später sagt Netanjahu wieder, Israel werde "den Nahen Osten verändern". Doch diesmal geht es um Krieg. Durch den Angriff der Hamas am Wochenende haben sich die Vorzeichen dramatisch verändert - und die diesmalige "Veränderung" als Reaktion auf die Attacken könnte die Region in der Tat komplett umkrempeln und, zumindest mit Blick auf die israelisch-palästinensischen Beziehungen, einen Paradigmenwechsel darstellen. Der Nahe Osten wird wohl nie wieder derselbe sein.
Annäherungen zwischen Israel und arabischen Staaten haben in den vergangenen Jahren zugenommen. Basierend auf verschiedenen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen und in der Hoffnung, einen stabilen Frieden in der Region zu schaffen. Beobachter hofften auf eine neue Chance, auf positive Veränderungen für den historisch kriegszerrütteten Nahen Osten. Der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, sagte wenige Tage nach Netanjahus ersten Aussagen: "Die Region des Nahen Ostens ist heute so ruhig wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr."
Abkehr von den drei "Neins"
Seit dem verheerenden Angriff der Hamas auf Israel ist nichts ruhig, aber dafür alles anders. Israel rief zum ersten Mal seit 50 Jahren den Kriegszustand aus, Bodentruppen könnten bald in Gaza einrücken. Erste Vergleiche zum 11. September 2001 und zu Pearl Harbor wurden bereits gezogen. Manches mag Kriegsrhetorik sein. Doch der Angriff der Hamas war so extrem und grausam, dass Israel kaum zum Status quo ante in Gaza zurückkehren wird und kann.
Es ist noch zu früh, um die geopolitischen Zusammenhänge und Folgen dieses Krieges genau zu verstehen. Viele Fragen bleiben momentan in der komplexen, volatilen und gefährlichen Gemengelage offen. Doch dass sich der Nahe Osten gravierend verändern wird, steht fest. Aber wie und wohin?
Lange hatte ein Großteil der arabischen Länder die Anerkennung Israels von der Gründung eines lebensfähigen palästinensischen Staates mit Ostjerusalem als Hauptstadt abhängig gemacht, wie es in der von Saudi-Arabien angeleiteten Arabischen Friedensinitiative von 2002 formuliert worden war. Gleichwohl wurde die damalige Abkehr von den "Drei Neins" der Khartum-Resolution aus dem Jahre 1967 - "Nein zur Anerkennung Israels. Nein zu Verhandlungen mit Israel. Nein zum Frieden mit Israel" - von palästinensischen Gruppierungen wie dem bewaffneten Flügel der Hamas, dem Islamischen Dschihad und der Al-Aqsa-Märtyrer-Brigade abgelehnt. Doch die Forderungen an Israel änderten, Interessen vermischten sich.
Bereits 1979 schloss Ägypten einen Friedensvertrag mit Israel. Jordanien folgte 1994. Katar hat seit 1993 (mit Unterbrechungen) als einziger Golfstaat eine offizielle Handelsvertretung in Israel. Das Emirat bespielt unter Tamim bin Hamad Al Thani viele Seiten auf flexible Art und Weise, entwickelt immer größere außenpolitische Ambitionen und geht aufgrund der Beziehungen zu Israel auch auf Konfrontationskurs mit anderen arabischen Staaten. Katar gilt seit dem Syrien-Krieg aber auch als wichtiger Verbündeter und Geldgeber der Hamas.
Israelisch-arabische Annäherungen in Gefahr
Ob Katar von den Plänen der Hamas wusste? Das würde die Region weiter destabilisieren, weil die USA reagieren und sich von Doha, das derzeit an einem Gefangenenaustausch von Israelis und Palästinensern werkelt, entfernen müssten.
Das Verhältnis Jerusalems zu anderen arabischen Ländern dürfte sich mit jeder weiteren Rakete verschlechtern, die Gaza erreicht. 2020 wurden in den Normalisierungsverträgen der "Abraham Accords" Dialog und Zusammenarbeit von Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Sudan (das lange als Basis für den Iran bei seinen Waffenlieferungen an die Hamas galt) und Marokko gefestigt. Auch diese Fortschritte sind nun in Gefahr.
Auch Annäherungen Saudi-Arabiens gibt es schon länger, zunächst auf inoffizieller Basis. Mittlerweile auch offiziell. Kein Land könnte arabische Staaten zu einem Frieden mit Israel bewegen wie das mächtige Königreich, Hüter der beiden heiligsten muslimischen Stätten in Mekka und Medina. Besonders der allmächtige Kronprinz, Mohammed bin Salman, trieb diesen Schritt in den vergangenen Jahren voran. "Jeden Tag kommen wir näher", sagte er im September über ein mögliches Abkommen mit Israel. "Ein solcher Frieden wird einen großen Beitrag zur Beendigung des arabisch-israelischen Konflikts leisten", sagte Netanjahu auf der Generalversammlung im September zum Dialog mit Riad.
Saudi-Arabiens Deal mit Israel
Aber 14 Tage können viel verändern. Saudi-Arabien machte dieser Tage Israel für den Angriff der Hamas mitverantwortlich, die Beziehungen und Friedensbemühungen dürften damit vorerst auf Eis gelegt sein. Die saudische Bevölkerung ist ohnehin größtenteils gegen Israel und die Bemühungen um eine Annäherung. Wünschte sich Netanjahu noch im September, ein Deal mit Saudi-Arabien werde "andere arabische Staaten ermutigen, ihre Beziehungen zu Israel zu normalisieren", wirkt dieser Plan nun fast unmöglich.
Ein Sieg für die Hamas? Vielleicht. Der Angriff der Gruppe wird auch als eine Reaktion auf die zunehmenden Beziehungen Israels zur arabischen Welt, zum Nachteil der Palästinenser, gedeutet. Als Statement, dass die Palästinenserfrage nicht einfach beiseite gewischt werden kann. Denn während etwa Saudi-Arabien früher noch auf eine Zweistaatenlösung pochte, schienen bin Salman zuletzt die nationalen Sicherheitsinteressen (Schutz durch die USA) wichtiger geworden zu sein. Für ein Abkommen mit Israel forderte Saudi-Arabien lediglich einen stabilen Status quo für die sich immer isolierter fühlenden Palästinenser.
Des Weiteren hatten die USA gehofft und geplant, sich etwas vom Nahen Osten abzuwenden. Vor allem, wenn eine direkte iranische Verbindung nachgewiesen wird, dürfte dieser Schritt nicht mehr zu vollziehen sein. Und so stellt sich die Frage, inwieweit der Iran, einer der größten Unterstützer der Terrorgruppe, den Hamas-Angriff unterstützt und möglicherweise sogar mitorchestriert hat. Das "Wall Street Journal" berichtete am Montag, dass Agenten der iranischen Revolutionsgarden bei der Leitung des Angriffs geholfen haben, obwohl der Iran diese Behauptung bestreitet und US-Beamte sagen, sie hätten "keine Beweise" für eine direkte Verbindung gefunden.
Irans Rolle im Israel-Krieg
Offizielles Ziel des Iran ist weiterhin, dass der Erzfeind Israel von der Weltkarte entfernt wird. Wie reagieren Israel und die USA, wenn klar ist, dass Teheran Drahtzieher des Angriffs ist? Weitere Sanktionen, zusätzlich zu denen, die wenig Wirkung zeigen? Ein Krieg? Für den Westen gibt es keine guten Optionen und Teheran weiß das.
Auch aus iranischer Sicht steht hinter dem Angriff der Hamas womöglich das Bestreben, die Chance auf einen Handschlag zwischen Netanjahu und bin Salman zu mindern. Saudi-Arabien wollte den Israel-Deal auch, um damit den Einfluss des Iran in der Region einzudämmen. Teheran und Riad sind seit Langem verfeindet. In den letzten zehn Jahren hatte der Kampf um die Vorherrschaft im Nahen Osten zwischen beiden Seiten Einfluss auf fast jede regionale Angelegenheit, hatte internationale Allianzen zerbrechen lassen und Kriege in der Region ausgelöst - Stellvertreterkämpfe, unter anderem im Jemen und Libanon. Nachdem sich die Länder kürzlich auf die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen geeinigt hatten, könnte dieser Konflikt wieder neu aufbrechen.
Auch die Frage nach den weiteren Handlungen der Hisbollah im Israel-Krieg spielt eine wichtige Rolle für die Situation im Nahen Osten. Die libanesische Terrormiliz, die unter direktem Einfluss des Iran steht, zögert derzeit noch mit der Eröffnung einer echten zweiten Front zu Israel, hat aber schon seit einiger Zeit signalisiert, dass ein Einmarsch in den Gazastreifen für sie eine rote Linie wäre. Der Erzfeind Israels im Libanon soll Zehntausende Raketen besitzen.
Politische Lösung für Palästinenser?
Nicht zuletzt werden die vielen Angriffe und Toten in Israel und Gaza die Palästinenserfrage wohl für immer ändern. Ob es zu einem echten Paradigmenwechsel kommt? Es schien in der israelischen Regierung lange keinen politischen Willen gegeben zu haben, die Politik der Demütigung und Enteignung der Palästinenser zu beenden, auch wenn viele in der israelischen Gesellschaft eine dauerhafte Zwei-Staaten-Lösung unterstützten. Jerusalem agierte, als ob dieser Konflikt isoliert und beherrschbar wäre. Nun zeigt sich, dass er vielleicht niemals komplett in Grenzen gehalten werden kann - zumindest nicht militärisch.
"Es gibt bereits eine Menge Druck für einen groß angelegten Einmarsch, um 'die Hamas komplett auszuschalten', aber ich glaube nicht, dass das auf lange Sicht irgendetwas lösen wird", sagte Mark Heller, ein leitender Forscher am israelischen Institut für nationale Sicherheitsstudien, der "New York Times". Der Ausgangspunkt für einen neuen Nahen Osten: Er könnte nun eine israelische Wiederbesetzung des Gazastreifens sein statt einer israelischen Botschaft in Saudi-Arabien. Mit offenen Folgen.
Der Krieg macht deutlicher als jemals zuvor, dass es keinen dauerhaften Frieden im Nahen Osten ohne eine Lösung des langjährigen Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern geben kann. Und diese Lösung kann letztlich nur eine politische sein.
Quelle: ntv.de