Corona-Regeln zu Hause Dürfen Polizisten die Zahl der Gäste prüfen?
02.12.2020, 10:35 Uhr
Die meisten Familien werden dieses Weihnachten vermutlich im engeren Kreis verbringen.
(Foto: imago images/MiS)
Das Grundgesetz erklärt die Wohnung für "unverletzlich". Unter Umständen dürfen Ordnungsämter und Polizei dennoch nachzählen, ob jemand gegen die Corona-Auflagen verstößt. So eindeutig gilt dies allerdings nur tagsüber.
ntv.de: Nach der Ministerpräsidentenkonferenz vom vergangenen Mittwoch haben die Bundesländer ihre Corona-Verordnungen mittlerweile aktualisiert. In den meisten Bundesländern dürfen sich von nun an nur noch maximal fünf Personen aus maximal zwei Haushalten privat treffen. Wer ist zuständig dafür, die Einhaltung solcher Vorschriften zu überprüfen, Polizei oder Ordnungsämter?

Sebastian Kluckert lehrt öffentliches Recht an der Bergischen Universität Wuppertal.
(Foto: Ralf Baumgarten)
Sebastian Kluckert: Wenn Rechtsvorschriften nicht eingehalten werden, liegt in der Sprache der Juristen eine Störung der öffentlichen Sicherheit vor. Solche Störungen abzuwenden, ist zunächst die primäre Aufgabe der Ordnungsbehörden. Alle Polizeigesetze der Länder enthalten aber eine Klausel, nach der die Polizei in eigener Zuständigkeit tätig werden darf, soweit ein Handeln der eigentlich zuständigen Behörden nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint. Insbesondere zur Nachtzeit und am Wochenende ist ein rechtzeitiges Handeln von Ordnungsbehörden oftmals nicht zu erwarten. Nur die Polizei verfügt über eine Organisation, die an allen Tagen und rund um die Uhr einsatzbereit ist. Daher kann es passieren, dass auch die Polizei die Einhaltung der Corona-Vorschriften überprüft. Auch wenn das Ordnungsamt selbst tätig wird, kann es im Wege der Amtshilfe die Polizei mitbringen. Die Amtshilfe der Polizei erfolgt meistens zum Schutz der unbewaffneten Behördenmitarbeiter.
Gilt nicht nach Artikel 13 des Grundgesetzes, dass die Wohnung "unverletzlich" ist?
Dass das Grundgesetz die Wohnung für unverletzlich erklärt, soll die besondere Bedeutung des Schutzes der räumlichen Privatsphäre unterstreichen. "Unverletzlich" bedeutet jedoch nicht - wie bei der Menschenwürde - "unantastbar". Als Grundrechtsverletzung bezeichnen Juristen nur die ungerechtfertigte Grundrechtsbeeinträchtigung. So wird im Wortlaut des Artikels 13 des Grundgesetzes bemerkbar, dass es auch gerechtfertigte Eingriffe in das Wohnungsgrundrecht geben kann. Für solche Eingriffe stellt Artikel 13 differenziert nach Durchsuchung und bloßem Betreten der Wohnung besondere Hürden auf.
In Artikel 13 heißt es, dass Eingriffe "zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr" vorgenommen werden dürfen. Kann damit ein Polizeieinsatz in meiner Wohnung begründet werden, wenn ich mehr Gäste eingeladen habe als erlaubt?
Geht es um die Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr, benötigen Behörden keine erst vom Gesetzgeber zu schaffende Ermächtigungsgrundlage. Das Grundgesetz stellt hier ausnahmsweise selbst die Ermächtigungsgrundlage dar. Es hat hier aber Akutsituationen im Blick. Gemeine Gefahr oder Lebensgefahr aufgrund der bloßen Verletzung von Kontaktverboten können bei Covid-19 ohne Entgrenzung des Gefahrenbegriffs kaum hinreichend prognostiziert werden.
Allerdings dürfen die Parlamente nach Artikel 13, Absatz 7 des Grundgesetzes Ermächtigungsgrundlagen für das Betreten der Wohnung durch Ordnungsbehörden oder die Polizei schaffen, wenn es um die Verhütung dringender Gefahren geht. In diesem Zusammenhang nennt das Grundgesetz ausdrücklich die Seuchengefahr. In den Ordnungsbehörden- und Polizeigesetzen der Länder finden sich daher Vorschriften, die unter bestimmten Bedingungen das Betreten von Wohnungen gegen den Willen des Wohnungsinhabers erlauben.
Dann wäre es zulässig, dass Polizisten an Heiligabend an die Tür klopfen und prüfen, ob die Corona-Verordnung eingehalten wird?
Solange sie nur an die Tür klopfen, liegt gar kein Grundrechtseingriff vor. Für das Betreten der Wohnung kommt es zunächst darauf an, wie viel Uhr es ist.
Da gibt es Unterschiede?
In Nordrhein-Westfalen und Berlin ist man bei Verstößen gegen wohnungsbezogene Kontaktbeschränkungen zwischen 21 und 6 Uhr vor einem "Hausbesuch" der Polizei sicher, solange man keinen Lärm macht. Hier scheiden jedenfalls alle Tatbestände aus, die ein jederzeitiges Betreten der Wohnung ermöglichen. Das dürfte wohl auch in den anderen Bundesländern gelten. Das Betreten zur Nachtzeit würde voraussetzen, dass Tatsachen die Annahme nahelegen, dass sich ein Kranker, Krankheitsverdächtiger oder Ansteckungsverdächtiger in der Wohnung befindet. Nur dann kann der Einsatz die Verhütung einer dringenden beziehungsweise gegenwärtigen schweren Gesundheitsgefahr bezwecken.
Welche Voraussetzungen gelten für das Betreten zur Tageszeit?
Nach Erscheinen dieses Interviews haben Leser uns darauf aufmerksam gemacht, dass die Coronaschutzverordnung des Landes NRW keine Regelung zu Kontaktbeschränkungen in Wohnungen vorsieht. Sebastian Kluckert hatte darauf schon in einem Artikel für den Verfassungsblog hingewiesen. Im Interview bezog er sich exemplarisch auf das Polizeigesetz von NRW, um die Befugnisse der Polizei zum Betreten von Wohnungen zu erläutern.
Wir haben die Hinweise zum Anlass genommen, um beim nordrhein-westfälischen Sozialministerium nachzufragen. Ein Sprecher des Ministeriums schrieb uns dazu, im privaten Raum werde "eine entsprechende Beachtung der Regelungen der Coronaschutzverordnung dringend empfohlen". Dies schließe ausdrücklich die Empfehlung ein, Kontakte zu reduzieren beziehungsweise diese möglichst infektionssicher zu gestalten. "Dieser Appell ergibt sich aus § 1 (2) Coronaschutzverordnung: 'Jede in die Grundregeln des Infektionsschutzes einsichtsfähige Person ist verpflichtet, sich so zu verhalten, dass sie sich und andere keinen vermeidbaren Infektionsgefahren aussetzt.'" Zudem weist das Ministerium darauf hin, dass die örtlichen Ordnungsbehörden "nach § 28 IfSG, § 3 Absatz 1 IfSBG NRW" Regelungen erlassen könnten, die über die Coronaschutzverordnung hinausgehen.
Dann dürfen Ordnungsbehörden oder die Polizei die Wohnung zusätzlich betreten, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich in der Wohnung eine Person befindet, die in Gewahrsam genommen werden darf. Personen dürfen unter anderem in Gewahrsam genommen werden, wenn das unerlässlich ist, um die Fortsetzung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern. Da Verstöße gegen die wohnungsbezogenen Kontaktbeschränkungen bußgeldbewehrt sind, handeln Wohnungsinhaber und Besucher ordnungswidrig. Angesichts des Umstandes, dass in einer Wohnung ausgelöste Infektionsketten sich nicht auf den vorstehend genannten Personenkreis beschränken würden, und mit Blick auf die wirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Nachteile der Corona-Epidemie wird man es wohl als vertretbar ansehen können, den betreffenden Ordnungswidrigkeiten eine erhebliche Bedeutung für die Allgemeinheit zuzusprechen. Allerdings würden sich Fragen nach der Verhältnismäßigkeit stellen, da mit dem Eindringen in den privaten Kreis der Wohnung und der Familie an Heiligabend tiefgreifende Grundrechtseingriffe verbunden sind. Ich bin hier skeptisch, ob dies mit der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes vereinbar ist.
Bundeskanzlerin Merkel betont stets, die Corona-Maßnahmen seien "geeignet, erforderlich, verhältnismäßig". Sind sie das?
Dies lässt sich nicht pauschal beantworten. Die Maskenpflicht in geschlossenen Räumen ist als leichter Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit sicherlich verhältnismäßig. Absolute Versammlungsverbote, wie sie wohl am Anfang von den Landesregierungen intendiert waren, sind es jedenfalls nicht. Dazwischen hängt die Antwort von vielfältigen Fragen ab, zum Beispiel: Können immer härtere Maßnahmen verhältnismäßig sein, wenn auch in der Ausnahmelage einer Pandemie der ruhende Verkehr weiterhin besser überwacht wird als die Einhaltung von einfachen Hygieneregeln? Können immer härtere Maßnahmen dort verhältnismäßig sein, wo Gesundheitsämter sich weigern, auf Bundeswehrsoldaten zur Unterstützung zurückzugreifen? Überall dort, wo schwerwiegende Maßnahmen - wie entschädigungslose Betriebsschließungen für einen längeren Zeitraum - sich im Falle des Fehlens eines nachweisbaren und spürbaren Nutzens als Schuss in eine Nebelwand erweisen, wird man große Fragezeichen machen müssen. Die Schwere der mit einer bestimmten Gefahrenabwehrmaßnahme verbundenen Belastung bei Grundrechtsträgern kann den Staat dazu zwingen, einen legitimen Zweck mit Mitteln zu verfolgen, die milder, aber nicht genauso wirksam sind wie das gegebenenfalls epidemiologisch gebotene Mittel. Dass das Verhältnismäßigkeitsgebot mit einer effektiven Gefahrenabwehr kollidieren kann, ist vom Grundgesetz so gewollt, denn der legitime Zweck heiligt im Rechtsstaat nicht alle Mittel.
Mit Sebastian Kluckert sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de