
Auf dem Parteitag sagt Habeck über die medial verbreiteten Vorwürfe einer Ego-Show: "Ich hasse das wie die Pest."
(Foto: picture alliance / Chris Emil Janßen)
Im Jubelrausch wird Robert Habeck Kanzlerkandidat. Waren die Grünen nicht eben noch in der Krise? Und waren da nicht Vorbehalte in der Partei, Habeck sei zu dominant, zu konservativ? Beobachtungen von einem sehr eigenen Parteitag, wo man sich sorgt, ob der "Habeck-Hype" hält.
Wenig ist so erhebend wie das Gefühl, sich in einer großen Menge an Gleichgesinnten wiederzufinden. Fußballfans kennen das, auch Besucher von Konzerten und Kirchentagen. Bei den Grünen geht das noch weiter: Sie leben ein Stück weit von und für dieses Gefühl. Mag die Mehrheit im Land sie für weltfremde Ökospinner halten und diese Zeiten gab es lange und gibt es jetzt wieder: In der Gemeinsamkeit dreht sich der eigene Eindruck vom verlorenen Posten zuverlässig hin zur Selbstwahrnehmung als starke Bewegung. Bundesdelegiertenkonferenzen (BDK), wie die großen Grünen-Parteitage heißen, sind trotz aller Heftigkeit vieler Programmdebatten immer auch Quelle von Kraft und Hoffnung für die Grünen. So auch an diesem Wochenende in Wiesbaden, als die Partei in aussichtsloser Lage einen Kanzlerkandidaten kürt: Robert Habeck.
Habecks offizielle Ernennung kommt aber erst ganz am Schluss dieser dreitägigen BDK. Diese findet keine zehn Tage nach dem so plötzlichen wie heftigen Auseinandergehen der Ampelkoalition statt. Vorgezogene Neuwahlen stehen ins Haus. In allen Parteizentralen des Landes laufen deshalb nun die Apparate auf Hochtouren. Nicht so bei den Grünen: Sie müssen erst den Parteitag über die Bühne kriegen - auch weil der erst die neue Führungsmannschaft festlegt, die den Bundestagswahlkampf managt. Der bisherige Vorstand um Ricarda Lang und Omid Nouripor war im Herbst nach reihenweise enttäuschenden Wahlergebnissen zurückgetreten.
Neuwahlen können Grünen-Rituale nicht erschüttern
Wer aber meint, in dieser Lage würden sich die Grünen auf die schnelle Klärung von Personalfragen und auf die Wahlkampfvorbereitung konzentrieren, kennt die Partei schlecht: Allein die Verabschiedungen des alten Vorstands sowie von verdienten Spitzen-Grünen wie Jürgen Trittin, Reinhold Bütikofer, Ska Keller und des verstorbenen Wolfgang Wieland dauern zusammengenommen mehrere Stunden. Rückschauen in Wort und Film, immer wieder Momente tränenreicher Rührung. Ricarda Lang vergießt besonders viele Tränen, hinterlässt der Partei aber auch bemerkenswerte Einsichten. Die vielen Zuneigungsbekundungen würden außerhalb dieses ganz eigenen Kosmos Irritationen hervorrufen. Hier aber gehören sie zum Wesenskern. Grünen-Parteitage sind in erster Linie für die grünen Herzen und Köpfe gemacht.
Zu den Verabschiedungen summieren sich mitunter endlose Programmdebatten, teils über Komma-Fragen in Antragstexten. Deren Einigung ist mitunter so mühselig, dass kaum einer die finale Version kennt, die schließlich zur Abstimmung kommt. Egal, Parteitagsbeschlüsse sind keine Wahlprogramme und erst recht keine Koalitionsverträge. Wichtig ist in der noch immer basisdemokratischen Partei, dass sich die verschiedenen Gruppen und Strömungen mit ihren Anliegen Gehör verschaffen. Die Inhalte dieser Partei von unten mitzubestimmen, ist machbar - aber immer auch irre Kärrnerarbeit für Menschen mit Idealismus und noch mehr Sitzfleisch, aber ohne großen Schlafbedarf.
It's Habeck time!
In der Personalfrage schließlich folgt die Partei am Samstag weitgehend geschlossen den inoffiziellen Parteigremien, die ein neues Team um Franziska Brantner und den aufstrebenden Partei-Linken Felix Banaszak ausverhandelt und vorgeschlagen haben. Es gibt ein paar Gegenkandidaten ohne nennenswerte Unterstützung. Kaum wer benutzt diese Kandidaten, um etwaigen Frust auf die Partei-Eliten zu artikulieren. Keine 100 Tage vor dem 23. Februar tritt der von den Parteispitzen erhoffte Effekt ein: Die Reihen schließen sich. Mit knapp zweistelligen Zustimmungswerten in eine Bundestagswahl zu gehen, ist auch ohne öffentlich ausgelebte Streitigkeiten schwer genug. It's Habeck time!
Der designierte Kanzlerkandidat nimmt die reibungslose Neubesetzung der Parteispitze erleichtert zur Kenntnis. Viel ist im Vorfeld geredet worden, ob sich da einer die Partei untertan machen will für den eigenen Bundestagswahlkampf. Gerade die Personalie Brantner wird von einigen in diesem Sinne gewertet. Sie ist Staatssekretärin in Habecks Wirtschaftsministerium und enge politische Mitstreiterin.
Auf dem Parteitag sagt Habeck über die medial verbreiteten Vorwürfe einer Ego-Show: "Ich hasse das wie die Pest." Und: "Das bin ich nicht, das will ich nicht, das kränkt mein ganzes politisches Ich." Er verstehe sich als jemand, der im Team führe. Wer etwas anderes vermute, solle ihn bloß nicht zum Kanzlerkandidaten küren. Brantner als Habecks "Sprachrohr" zu titulieren, sei Macho-Sprech. "Franziska, jetzt bist du meine Vorsitzende, also sag mir, was ich tun soll."
Baerbock: "Ich will dich als Kanzler"
Dass Habeck seit Jahren offen darüber spricht, dass er gerne Kanzlerkandidat und womöglich auch Regierungschef sein will, stößt manchen Grünen übel auf. Zumal Habeck als Vertreter des Realo-Flügels von Partei-Linken ohnehin stets skeptischer beäugt wurde. Diese Skepsis ist mit Habecks Posten als Bundeswirtschaftsminister und Chef-Kompromissaushandler der Grünen in der Ampelkoalition nur gewachsen. Habeck hat als Minister seiner Partei viel zugemutet: längere Atomkraftwerk-Laufzeiten, das Abbaggern des Dorfes Lützerath durch den Kohlekonzern RWE, Flüssiggas-Terminals in Naturschutzgebieten, die Zustimmung zur Reform des europäischen Asylsystems. Baerbock hat diese Entscheidungen mitgetragen und vor der Partei vertreten, aber sie gingen mit Habeck nach Hause.
Das Befremden beruht aber durchaus auf Gegenseitigkeit: Habeck wird eine gewisse Distanz zur Partei nachgesagt. Baerbock ist seit Jugendtagen in grüner Wolle gewaschen und versiert in Parteiarbeit. Habeck zog sich erst als Erwachsener, Vater und Buchautor den Grünen-Pullover an, um in der Partei Ämter zu übernehmen. Entsprechend war sie 2021 Favoritin der Partei, als die damaligen Co-Parteivorsitzenden Habeck und Baerbock gleichermaßen die Kanzlerkandidatur wollten. Baerbock und die Parteizentrale versemmelten den Wahlkampf. Hernach war die Beziehung zwischen Habeck und Baerbock belastet. Auf dem Parteitag in Wiesbaden zeigen sie sich als Freunde, die als Spitzenteam gemeinsam Bundestagswahlkampf machen. "Ich will dich als Kanzler", sagt Baerbock. Sie verspricht, sich hinter, neben und - wenn nötig - auch vor Habeck zu stellen. Noch so ein Gefühlsmoment.
Wer will, kann die verbliebene Skepsis gegenüber Habeck und Brantner daran ablesen, dass sie mit 76 Prozent das schwächste Wahlergebnis im neuen Vorstand einfährt. Es ist aber nicht schwach und es ist erwartbar, dass die Habeck-Fans um der lieben Geschlossenheit willen auch die Kandidaten der Parteilinken mitwählen. Auch zu den politischen Zielen sind fast überall Formelkompromisse gefunden worden, die bis zur Bundestagswahl halten werden.
Kinderbuchautoren für Habeck
So herrscht am Ende des Samstagabends Erleichterung und Aufbruchstimmung, als es gen Mitternacht zur traditionellen Tanzparty im Foyer des Kongresszentrums geht. Da haben die meisten Journalisten das Gebäude längst verlassen, halb aus Erschöpfung, halb aus Höflichkeit. DJ Omid Nouripour legt wieder die Musik auf. Rituale haben einen hohen Stellenwert bei einer Partei, die nach ihrem Selbstverständnis so progressiv ist. Optisch ist sie das aber tatsächlich: Keine andere große Partei in Deutschland versammelt in den eigenen Reihen so viele Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund, queere Menschen und Menschen mit körperlichen Behinderungen.
Wobei diese Diversität deutlich nachlässt, je mächtiger Ämter und Mandate sind. Abzulesen auch an den ersten beiden Kanzlerkandidaten der Parteigeschichte: erst Annalena, jetzt Robert. Dessen Vorname ziert viele Flyer und Plakate auf dem Parteitag. Denn natürlich ist dessen Ernennung schon lange vor der BDK in Stein gemeißelt. "Komm ins Team Robert!", heißt es da etwa. Es ist eine Aufforderung, die Bundestagswahl-Kampagne aktiv zu unterstützen. Einige Delegierte tragen Shirts mit der Aufschrift "Habeck 4 Kanzler" - angelehnt an das Englische 'four', was hier 'für' heißen soll.
Auch erste Kampagnenvideos werden in Wiesbaden gezeigt. Darunter eines, in dem Margit Auer ("Magische Tiere"), Tobias Krell ("Checker-Tobi"), Charlotte Habersack ("Nicht öffnen"), Saša Stanišić, Marc-Uwe Kling und weitere bekannte Autoren dem bei Habeck-Hassern beliebten Vorwurf begegnen, Habeck sei ein "Kinderbuchautor". Das ist er zwar tatsächlich, aber was bitte soll daran schlecht sein? Die Grünen scheinen entschlossen, auch unterstützt von der Werbeagentur Jung von Matt, der Kritik an der Partei im Wahlkampf offensiver zu begegnen. In seiner Bewerbungsrede dreht Habeck ebenfalls den Spieß um: Er kündigt an, das "Damoklesschwert" Heizungsgesetz offensiv zu verteidigen. Er habe zugehört und Fehler am Gesetz korrigiert: Diese Fähigkeit will der 55-Jährige den Menschen zum Teil seines Angebots machen.
Sorge vor der Momentaufnahme
Stichwort Angebot: So sei auch die Kanzlerkandidatur zu verstehen. "Ich kenne die Umfragen." Aber falls sich die Menschen doch anders entscheiden, stehe er bereit. In seiner Bewerbungsrede geht Habeck ausführlich auf die ungebrochene Geschlechterdiskriminierung ein. Er redet sehr grundsätzlich über die Bedrohung der freiheitlichen Demokratie. Er doziert über Zusammenhänge und scheut auch abseitige Fachwörter wie "Irenik" nicht, wenn er auch einfach Verständigung oder Aussöhnung sagen könnte. Er verspricht, Energiepreise so weit wie möglich zu senken und will das über Schulden und die Belastung von Energieunternehmen und besonders Vermögenden finanzieren.
Habeck macht sich betont locker, weil er das Gegenangebot zu den älteren Herren Olaf Scholz und Friedrich Merz sein will. Er sieht wieder frischer aus als in den zahlreichen Krisen-Momenten seiner Regierungszeit. Er zeigt sich öfter im Pullover oder zumindest ohne Sakko. Er krempelt in einem Kampagnenvideo die Hemdsärmel hoch. Es wird ein sehr personalisierter Wahlkampf. Habeck ist die Chance der nach Umfragen abgeschlagenen Grünen, in den Medien vorzukommen, wenn sich Merz und Scholz um das Kanzleramt duellieren wollen. Und er soll bereitstehen, falls sich einer oder beide unerwartet aus dem Rennen nehmen.
Befreit von der Ampel, reicht das offenbar vielen Grünen für den Moment. Im Rausch des Wiedersehens jedenfalls zeigen sich viele BDK-Teilnehmer hoffnungsfroh, trotz der Aussicht auf einen Wahlkampf im nassen, kalten und dunklen Winter. Doch der Kampagnen-Leitung schwant, dass Parteitagsstimmungen eben genau das sind: vom Moment getragen. Kamala Harris ist da ein abschreckendes Beispiel. Auf den Toiletten im Kongresszentrum kleben am letzten Tag Zettel, die die Parteimitglieder aufrufen, sich an Habecks Internet-Wahlkampagne zu beteiligen. Sie sollen Habecks Inhalte möglichst breit in den sozialen Medien streuen - "damit der Habeck-Hype nicht nur ein Phänomen in unserer Blase bleibt".
Quelle: ntv.de