Erdoğan kaum zu schlagen "Hoffnungslosigkeit wird die nächsten Jahre prägen"
15.05.2023, 15:29 Uhr Artikel anhören
Am Abend nach der Wahl winkt Erdoğan in Ankara von der AKP-Zentrale aus seinen Anhängern zu.
(Foto: REUTERS)
Unter den Anhängern der türkischen Opposition herrscht Katerstimmung, sagt Türkei-Experte Kristian Brakel im Interview mit ntv.de. Der allgemeine Eindruck sei, "dass dieses System fast unmöglich zu bezwingen ist". Auch Brakel selbst glaubt nicht, dass Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu seinen Rückstand auf Präsident Erdoğan bis zur Stichwahl in zwei Wochen noch aufholen kann.
ntv.de: Wie frei und fair waren die Wahlen in der Türkei?
Kristian Brakel: Frei waren sie im Großen und Ganzen wahrscheinlich schon. Die Beobachtermission der OSZE hat ihre Ergebnisse noch nicht vorgestellt, aber nach allem, was man gestern Nacht in den sozialen Medien gesehen hat, scheint die Wahl ähnlich abgelaufen zu sein wie die der vergangenen Jahre: Es gab kleinere Unregelmäßigkeiten, aber aktuell lässt sich nach meinem Eindruck nicht sagen, dass es zu größeren Fälschungen gekommen ist. Aber fair war die Wahl auf keinen Fall.
Warum war die Wahl nicht fair?
Das betrifft weniger den Wahltag, sondern alles, was davor passiert ist. Vor ein paar Tagen gab es einen Vergleich der Sendezeiten, die der Staatssender TRT Präsident Erdoğan und dem Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu eingeräumt hat: Auf Erdoğan entfielen über 30 Stunden, auf Kilicdaroglu 32 Minuten. Noch kurz vor der Wahl strahlten zehn Sender gleichzeitig ein großes Interview mit Erdoğan aus. Und natürlich hat er auch seine Position als Präsident für den Wahlkampf genutzt, indem er staatlich finanzierte Wahlgeschenke verteilt hat.
Ist zu befürchten, dass Erdoğan oder die AKP über dieses Maß hinaus Einfluss auf die Stichwahl am 28. Mai nehmen werden?
Ich habe eher den Eindruck, dass sie das gar nicht nötig haben. Erdoğan und die AKP haben eine relativ stabile Mehrheit vorgelegt: Das Ergebnis ist weitaus besser als vor der Wahl erwartet worden war. Ein Vorsprung von rund 4,5 Prozentpunkten ist schon recht groß, da ist die Wahrscheinlichkeit ziemlich gering, dass Kılıçdaroğlu und sein Oppositionsbündnis aufholen können, zumal die AKP eine Mehrheit im Parlament hat.
Wie viel hängt davon ab, welche Wahlempfehlung der drittplatzierte Kandidat, Sinan Oğan von der ultranationalistischen Ata-Allianz, abgeben wird?
Oğan hat vor der Wahl gesagt, er könne sich prinzipiell vorstellen, in einer Stichwahl Kılıçdaroğlu zu unterstützen, wenn er dafür ein Ministeramt bekommt. Aber da hat er wahrscheinlich noch gedacht, dass die Wahl für ihn selbst schlechter und für Kılıçdaroğlu besser läuft. Ich denke mal, sein Preis dürfte in der vergangenen Nacht in die Höhe gegangen sein. Er hat auch schon im Gespräch mit dem "Spiegel" klargemacht, dass die prokurdische, linke HDP, die wegen eines drohenden Verbots als Teil der Grünen Linkspartei YSP angetreten ist, künftig keine Rolle in der türkischen Politik spielen dürfe. Die YSP hat 8,8 Prozent erhalten. Für Kılıçdaroğlu würde es wenig Sinn ergeben, Oğans 5 Prozent gegen diese 8,8 Prozent einzutauschen. Aber selbst wenn Oğan eine Wahlempfehlung für Kilicdaroglu abgeben würde, weiß man nicht, ob seine Wählerinnen und Wähler dann auch so abstimmen. Insgesamt halte ich einen Sieg Erdoğans für wahrscheinlicher.

Kristian Brakel leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul.
(Foto: picture alliance / dpa)
Warum hat Erdoğan immer noch so viele Anhänger?
Das verstehen auch viele Türken nicht, schließlich hat Erdoğan die Wirtschaft in Grund und Boden gerammt. Auch das Erdbeben hat gezeigt, dass das Krisenmanagement der Regierung deutliche Schwachstellen hatte - und trotzdem hat Erdoğan auch in den meisten Bezirken des Erdbebengebiets eine Mehrheit errungen.
In Europa gucken wir immer auf Dinge wie den Abbau von Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechten, aber für den Alltag eines Bauern in Zentralanatolien ist das von untergeordneter Bedeutung. Und nicht nur für den: Auch Leute aus meinem Freundeskreis hier in Istanbul, die alle den Oppositionskandidaten gewählt haben, betrifft das nur indirekt. Und schließlich muss man sagen, dass Erdoğan mit seiner Verfassungsänderung von 2017 sehr erfolgreich war.
Inwiefern?
Bei der Verfassungsänderung ging es nicht nur darum, den Präsidenten mit unglaublich vielen Vollmachten auszustatten, sondern auch darum, die Dominanz des religiös-nationalistischen Lagers zu zementieren und es so gut wie unmöglich zu machen, dessen Vorherrschaft zu brechen - ganz unabhängig davon, ob die AKP in ein paar Jahren noch da ist. Um Erdoğan überhaupt ernsthaft herausfordern zu können, mussten sich extrem unterschiedliche ideologische Richtungen zusammenschließen - so unterschiedlich, dass dieses Bündnis gleichzeitig auch viele Wählerinnen und Wähler abschreckt. Ein weiterer Punkt: Die politischen Blöcke in der Türkei sind stark zementiert. Da gibt es kaum Veränderung. Kılıçdaroğlus CHP beispielsweise hat in den Parlamentswahlen nur 25 Prozent bekommen. Und schließlich: Erdoğan hat ein Patronage-System aufgebaut, das ihm beim Machterhalt hilft. Da fragen sich viele natürlich schon: Wenn ein Regierungswechsel kommt, bekomme ich dann noch einen Job bei der Polizei für meinen Sohn? Bekomme ich noch die Rentenerhöhung? Aber auch sonst ist die AKP einfach unglaublich gut organisiert. Es ist die größte Partei im Land und verfügt über ein riesiges Graswurzelnetzwerk.
Was würde eine Wiederwahl von Erdoğan für die weitere Entwicklung der Türkei bedeuten?
Der Trend in Richtung eines autoritären Systems wird nicht zwingend schlimmer, aber es wird auch nicht besser werden. Außenpolitisch wird Erdoğan weiter versuchen, die NATO und den Westen gegen Russland auszuspielen und selbst ein wichtiger Player in der Region zu werden. Hin und wieder wird es auch mal Ausfälle geben, gegen die Europäer, gegen die Amerikaner. Aber größtenteils wird Erdoğan versuchen, sich weiter durchzuwurschteln. Seine große Achillesferse bleibt die Wirtschaft. Die Kassen sind leer, was bedeutet, dass jetzt eigentlich ein Sparprogramm kommen muss. Da ist fraglich, wie das umgesetzt werden soll.
Wie enttäuschend ist der Wahlausgang für die Opposition?
Ich wohne in einem eher oppositionellen Viertel, nach meinem Eindruck herrscht hier Katerstimmung. Die Straßen sind vergleichsweise leer und ruhig, auch gestern Nacht war hier schon nicht besonders viel los. Ich weiß von vielen jüngeren Leuten, die vor der Wahl gesagt haben: Wenn Erdoğan diese Wahl auch noch gewinnt, dann gehe ich. Natürlich können das nicht alle von denen wahr machen, aber die Ernüchterung ist doch sehr, sehr groß. Bei den Anhängern der Opposition herrscht der Eindruck vor, dass dieses System fast unmöglich zu bezwingen ist. Diese Hoffnungslosigkeit zieht sich durch das gesamte oppositionelle Lager und wird die nächsten Jahre stark prägen - auch die nächsten zwei Wochen, was ein weiterer Grund ist, warum die Opposition ihren Rückstand wohl nicht aufholen wird.
Mit Kristian Brakel sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de