Wohlstandsverheißung enttäuscht Erdogans Bauboom und die bitteren Folgen
11.05.2023, 14:11 Uhr Artikel anhören
Türkische Baufirmen bauten innerhalb von 20 Jahren mehr als 10 Millionen Wohnungen. Die Erdbebenkatastrophe zeigte Anfang dieses Jahres, dass viele davon nicht den Bauvorschriften entsprachen.
(Foto: picture alliance / abaca)
Als Recep Tayyip Erdogan vor 20 Jahren erstmals die Regierung übernahm, führte er die Türkei in einen breiten, langanhaltenden Aufschwung. Grundlage dafür war ein atemberaubender Bau-Boom. Dessen indirekte Folgen gefährden nun Erdogans Wiederwahl.
Am 17. August 1999 starben bei einem Erdbeben im Nordwesten der Türkei mehr als 17.000 Menschen. Die Katastrophe trug auch zum Aufstieg der AKP des heutigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bei. Am 6. Februar 2023 bebte erneut die Erde, im Südosten der Türkei starben über 50.000 Menschen. Die politischen Folgen könnten erneut bedeutend sein.
"Sie sind mit einem Erdbeben an die Macht gekommen - und ein Erdbeben könnte sie ihnen wieder nehmen", sagt der Soziologe Melih Yesilbag von der Universität Ankara über Erdogan und die AKP. "Die Modernisierung der Infrastruktur war von Anfang an eines ihrer wichtigsten Versprechen. Und jetzt, 20 Jahre später, passiert so etwas."
Das Erdbeben 1999 legte die strukturellen und wirtschaftlichen Probleme des Landes schonungslos offen. Die AKP versprach einen Neuanfang und gewann schließlich 2002 die Wahlen, Erdogan wurde 2003 erstmals Regierungschef. Unter ihm begann ein Bau-Boom und ein auf Wachstum ausgelegtes Wirtschaftsmodell, von dem mehr als ein Jahrzehnt Millionen Menschen profitierten und das die Türkei grundlegend veränderte. Eine Gruppe von Baufirmen, die sich unter Erdogans Regierung herausbildete und diesen seit jeher stützt, baute mehr als zehn Millionen Wohnungen innerhalb von 20 Jahren. "Das ist eine unglaubliche Zahl", sagt Yesilbag. "Das ist mehr als die Hälfte von dem, was im gleichen Zeitraum in der gesamten EU gebaut wurde."
Einige dieser Häuser stürzten bei dem Erdbeben im Februar ein. Die Katastrophe machte eine vielerorts systematische, eklatante Missachtung der Baustandards für alle sichtbar. Zunächst lief es für die Türkei unter Erdogan jedoch vortrefflich. Der Bau-Boom nahm ab der Finanzkrise 2007/08 und der darauffolgenden Lockerung der Zinspolitik in Europa und den USA an Fahrt auf. Mit dem billigen Geld wurden Wolkenkratzer hochgezogen, Autobahnen und Flughäfen gebaut. Im Bausektor entstanden tausende Jobs für niedrig qualifizierte Arbeiter.
Wohlstand fast verdreifacht
"Für die Türkei hat es wirklich funktioniert", sagt Atilla Yesilada von der Beratungsfirma Globalsource Partners. "Es entstand Wohlstand und eine neue Klasse wohlhabender AKP-Anhänger, die in die Städte zogen und in die Mittel- und Oberschicht aufstiegen." Die türkische Wirtschaftsleistung explodierte förmlich. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt legte von 3640 Dollar im Jahr 2002 auf 12.507 Dollar im Jahr 2013 zu. Das Baugewerbe und verbundene Branchen machten fast ein Drittel davon aus.
Dann wendete sich jedoch das Blatt. Ab 2013 begannen ausländische Investoren, sich aus türkischen Anlagen zurückzuziehen. Die Folge: Die Devisen-, Kredit- und Schuldenmärkte des Schwellenlandes, das unter westlichen Fondsmanagern einst als Star gehandelt wurde, werden nun stark staatlich verwaltet. Diplomatische Spannungen mit den USA und steigende Zinsen leiteten ab 2018 einen massiven Wertverlust der türkischen Lira ein. Die Rückzahlung von in Dollar bezogenen Krediten verteuerte sich dadurch massiv.
"Die Baukosten stiegen stark an", sagt der Soziologe Yesilbag. Es entstand ein Dilemma, das bis heute ungelöst ist: Die Baufirmen hielten weiterhin zu Erdogan, dessen Regierung sie mit Aufträgen versorgte, die sich wirtschaftlich nicht mehr rentierten. Das Festhalten Erdogans an seiner Wachstumspolitik befeuerte außerdem die Inflation, die mit dem Absturz der Lira bereits stark zugenommen hatte. Auf Druck des Präsidenten senkte die türkische Zentralbank zum Erstaunen von Finanzexperten weltweit die Leitzinsen. Das kurbelte zwar die Produktion an, trug aber auch zum weiteren Wertverfall der Lira bei.
Beobachter sind sich weitgehend einig, dass Erdogans ursprüngliches Wahlversprechen von Wohlstand für die breite Bevölkerung gebrochen ist. Die Inflation hat Ersparnisse aufgefressen. Die Türkei ist finanziell massiv von den reichen Golfstaaten abhängig, mit deren Hilfe Erdogan die Lira stütze.
Hinzu kam nun das Erdbeben. "Die Schäden waren enorm und haben das Bild von Wohlstand und Entwicklung, das Erdogan und seine Partei vermitteln wollten, ins Wanken gebracht", sagt Osman Balaban, Professor für Stadtplanung an der Middle East Technical University. "Aber ich bin mir noch nicht sicher, ob das reicht, um ihn zu Fall zu bringen".
Die Entscheidung fällt voraussichtlich am Sonntag, wenn in der Türkei Parlament und Präsident neu gewählt werden. Die türkische Wählerschaft ist stark polarisiert und Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu dürfte es bei einigen Gruppen mit tief verwurzelten Ansichten trotz allem schwer haben.
Quelle: ntv.de, Dmitry Zaks, AFP