n-tv Reporter berichtet aus Aleppo "Flucht ist kein Thema mehr"
07.09.2016, 11:56 Uhr
"Kämpfen bis zum Ende - so Gott will!" Viele der Zivilisten harren trotzdem in Aleppo aus.
(Foto: AP)
Nur wenige Journalisten aus dem Westen trauen sich an den syrischen Kriegsschauplatz Aleppo. n-tv Reporter Dirk Emmerich hat mehrere Tage in der weitgehend zerstörten Stadt verbracht. Er kam der Front genauso nahe wie den Zivilisten, die dort ausharren.
n-tv.de: Seit Jahren hört man von der immer fataleren humanitären Lage in Aleppo. Kann es eigentlich noch schlimmer werden?
Dirk Emmerich: Man muss in Aleppo zwischen den Stadtteilen in Regierungshand und jenen der Rebellen unterscheiden. In den Rebellengebieten, dem Osten Aleppos, ist die Lage verheerend. Dort gibt es nur noch einen kleinen Korridor, über den Lebensmittel hereinkommen, und dieser Korridor wurde von den Regierungstruppen in den vergangenen Wochen mehrmals geschlossen. Bleibt dieser Kessel langfristig zu, droht den rund 300.000 Menschen, die dort noch leben, sicher eine humanitäre Katastrophe großen Ausmaßes.
Konntest du dir die Lage dort anschauen?
Ich wäre gern reingegangen, aber es gibt keinen Zugang. Derzeit sind keine westlichen Journalisten da. Selbst die Hilfsorganisationen haben ja Probleme, in diesen Teil Aleppos zu kommen.
Wie hast du die Situation in den Gebieten unter Regierungskontrolle erlebt?
In den westlichen Stadtteilen ist die Lage nicht ganz so brisant, aber auch hier muss man unterscheiden. Es gibt Gebiete, die komplett zerstört sind, Gebiete, in denen die Menschen ohne Strom und Wasser unter schlimmsten Bedingungen leben. Es gibt aber auch Stadtteile, in denen es in den vergangenen fünf Jahren überhaupt keine Kämpfe gegeben hat.
Was ist dir aus dem Regime-, dem Westteil der Stadt besonders in Erinnerung geblieben?
Schon die Fahrt in die Stadt war bemerkenswert. Obwohl wir von Damaskus aus gekommen sind, mussten wir aus Sicherheitsgründen eineinhalb Stunden um Aleppo herum fahren und von Norden aus hineingelangen. Wir fuhren durch Gebiete, die vor zwei, drei Monaten noch umkämpft waren. Die Bilder der Zerstörung machen einen atem- und sprachlos. Wir waren natürlich in dem alten Bazar-Viertel, das einst zum schönsten gehörte, was der Nahe und Mittlere Osten zu bieten hatte. Dort steht kein Stein mehr auf dem anderen. Auch die Erlebnisse in Frontnähe sind hängengeblieben. In der Nähe der Zitadelle im Zentrum Aleppos standen wir 100, vielleicht 200 Meter von den Barrikaden entfernt, hinter denen sich die islamistische Nusra-Front befindet. Wir konnten nicht lange bleiben, weil wir uns in Reichweite von Scharfschützen befanden.
Was für einen Eindruck haben die Menschen auf dich gemacht?
Mich hat vor allem dieser Lebensmut beeindruckt. Viele Menschen versuchen, ihr ganz normales Leben weiterzuleben. Es gibt noch Restaurants und Märkte, auf denen Bauern ihre Waren anbieten. Das hätte ich so einfach nicht erwartet.
Bist du auf Leute gestoßen, die gezwungenermaßen auf Regimegebiet leben, Machthaber Baschar al-Assad aber ablehnen?
Die gibt es sicher, aber die geben sich nicht zu erkennen. Man kann in Syrien aber auch nicht davon ausgehen, dass alle Menschen politisiert sind. Nach fünf Jahren Krieg spürt man bei den Leuten, dass sie vor allem eines wollen: Frieden. Ich habe mich mit einem Universitätsprofessor unterhalten. Der sagte: "Ich möchte einfach meine Vergangenheit zurück."
Wollen noch viele Menschen flüchten? Womöglich auch nach Deutschland?
Ich habe hier tiefe Dankbarkeit dafür erfahren, dass Deutschland so viele Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat. Das spricht sich rum. Es spricht sich aber genauso herum, dass viele auch nach einem Jahr in der Bundesrepublik nicht arbeiten können, auf Deutschkurse warten, Papieren hinterherrennen und an der Bürokratie verzweifeln. Das macht den Menschen Sorgen. Der Hauptgrund dafür, dass sie noch hier sind, ist aber ein anderer. Die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sagten mir: "Das ist unsere Heimat." Ich habe den Eindruck: Flucht ist für die Menschen in Aleppo in diesem Jahr nicht mehr so ein großes Thema.
Mit Dirk Emmerich sprach Issio Ehrich
Quelle: ntv.de