Politik

Friedensgutachten vorgestellt "Wir müssen Waffenhilfe und Verhandlungen zusammen denken"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Ein verletztes Kind liegt in einem palästinensischen Krankenhaus

Ein verletztes Kind liegt in einem palästinensischen Krankenhaus

(Foto: IMAGO/APAimages)

Auf der Welt herrscht so viel Gewalt wie seit dreißig Jahren nicht mehr, bilanziert das Friedensgutachten 2023, das heute in Berlin vorgestellt wird. Auswege aus den Konflikten, und wie man sie findet, zeigt Friedensforscherin Ursula Schröder im Gespräch mit ntv.de.

ntv.de: Sie haben das Friedensgutachten "Welt ohne Kompass" genannt. Ist das eine Art Zeugnis für die internationale Gemeinschaft? Mit der Bilanz: Wir sind nicht auf Augenhöhe, wir reagieren nicht angemessen auf das, was gerade passiert?

Ursula Schröder: Ja. Unsere Einschätzung der friedenspolitischen Entwicklungen in diesem Jahr fällt sehr negativ aus. Wir beobachten mehr globale Konfrontation und mehr Krieg und Gewalt. Gleichzeitig fehlt es an langfristig orientierten politischen Strategien, die Wege aufzeigen könnten, Frieden zu fördern und Sicherheit zu stärken. Stattdessen sehen wir Politik, die kurzfristig plant, kurzfristig überlegt, keine strategischen großen Würfe.

Die Politik-Professorin Ursula Schröder leitet das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

Die Politik-Professorin Ursula Schröder leitet das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.

(Foto: ifsh)

Wenn wir uns den Krieg gegen die Ukraine anschauen und den Krieg im Gazastreifen, dann sind das sehr unterschiedlich entstandene Konflikte. Gibt es aus Sicht der Friedensforschung trotzdem grundlegende Verhaltensweisen, die konstruktiv sind, wirksam sind, und damit ganz universell gut? Egal, wie sich die Situation im Speziellen darstellt?

Zum einen ist ganz klar: Es ist grundlegend richtig, in Kriegen die Achtung des Völkerrechts, insbesondere des humanitären Völkerrechts, einzufordern. Aktuell sehen wir Verstöße im Krieg Israels gegen die Hamas, wie der Internationale Gerichtshof jüngst in Bezug auf die israelische Offensive in Rafah argumentiert hat. Wir sehen sie aber auch massenhaft im Ukraine-Krieg auf der russischen Seite, zum Beispiel in direkten Angriffen auf zivile Einrichtungen und in der Zerstörung ziviler kritischer Infrastruktur. Internationale Rechtsnormen zum Schutz von Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten müssen unbedingt eingehalten werden. Das sollte auch ein zentrales Ziel von deutscher Außenpolitik sein. Denn wenn Kriegsparteien diese Normen folgenlos missachten können, geraten wir in ein Fahrwasser, in dem wir spätere Kriege und Konflikte immer schlechter einhegen können. Auch im Krieg muss es Grenzen geben.

Was ist noch universell richtig?

Wir sollten immer auf starke multilaterale Kooperation setzen. Der Zusammenarbeit zwischen Staaten liegt die Überzeugung zugrunde, dass viele Probleme nur gemeinsam gelöst werden können. Dafür steht stellvertretend die Geschichte der Vereinten Nationen. Gerade in Zeiten multipler, grenzüberschreitender Krisen und Konflikte brauchen wir dringend eine Rückkehr zur Zusammenarbeit in internationalen Foren und Institutionen. Staaten müssen darauf vertrauen können, dass geschlossene internationale Verträge eingehalten werden. Aktuell sehen wir eher eine Tendenz zu einer Erosion internationaler Organisationen und einen Trend zur ad-hoc-Zusammenarbeit, zu informeller Kooperation, zu kurzfristigen Allianzen. Diese können das langfristige Regelwerk nicht ersetzen, das sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs etabliert hat.

Wenn Sie sagen, ad hoc und informell, fällt darunter auch, wenn Emmanuel Macron in Paris sagt "Hü!" und Olaf Scholz in Berlin ist ganz erstaunt und sagt: "Hü? Nein, auf keinen Fall, ohne uns. Wir machen Hott."

Die Europäische Union ist weiterhin nicht fähig, sich bei zentralen außenpolitischen Fragen zu einigen. Das reicht von der Anerkennung des Staates Palästina bis zur Unterstützung der Ukraine. Dieses Problem gab es immer schon, aber heute tritt es besonders zutage. Gerade in einer Welt, die konfrontativer wird, müssen die europäischen Staaten sich auch außenpolitisch zusammentun, um ihre Interessen durchsetzen zu können. Europa muss nach außen hin handlungsfähiger werden.

Wie kann die EU das erreichen?

Es geht vor allem darum, neue Entscheidungsregeln zu schaffen. Zum Beispiel könnte die EU endlich das Prinzip aufgeben, dass alle Entscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik einstimmig sein müssen. Indem sie also sogenannte qualifizierte Mehrheitsentscheidungen zulässt. Die Vorschläge liegen schon lange auf dem Tisch, werden aber nicht umgesetzt. Um außenpolitisch handlungsfähig zu sein, muss die EU aber auch nach innen zusammenrücken und sie muss ihre Verfahren für zukünftige Erweiterungsrunden verbessern und vereinfachen. Gerade im Hinblick auf den Westbalkan und auch die Ukraine oder Georgien muss klar sein, wann und auf welcher Basis die Staaten aufgenommen werden können. Es reicht nicht, immer wieder Versprechungen zu machen.

Immer richtig ist also "Völkerrecht einfordern", "miteinander durch Verträge und Allianzen langfristig zusammenarbeiten". Gibt es noch etwas universell Gutes?

Es ist auch immer richtig, diplomatische Anstrengungen zur Beilegung von Kriegen zu unternehmen. Auch in hocheskalierten Kriegen müssen noch während der Kampfhandlungen politische Prozesse entwickelt und vorangetrieben werden, um sie dauerhaft zu beenden. Auch in den beiden großen Kriegen in der Ukraine und in Gaza wird es am Ende darum gehen, dass die Kriegsparteien verhandeln müssen. Das muss gut vorbereitet werden und kann von außen unterstützt werden. Daher ist es immer sinnvoll, in Kompetenzen und Fähigkeiten zur Vermittlung in Konflikten zu investieren. Das heißt nicht, dass militärische Unterstützung und diplomatische Bemühungen sich ausschließen. Es wird eher darum gehen, dass beispielsweise die aktuelle militärische Unterstützung der Ukraine geschickt in einen politischen Rahmen eingepasst wird. Aber die grundlegende Orientierung auf Verhandlungen, die Orientierung auf politische Prozesse, die ist immer richtig.

Hat diese Orientierung aus Ihrer Sicht abgenommen? Denken wir heute mit Blick auf die Ukraine zu wenig an Politik und die Chance, zu verhandeln?

Gerade in Deutschland trennt die Debatte sehr scharf: Es geht entweder um militärische Unterstützung oder um Verhandlungen. Das ist falsch. Wir müssen beides zusammen denken und sinnvoll miteinander verbinden. Das heißt konkret, dass die weiterhin notwendige massive militärische Unterstützung der Ukraine in den Dienst eines politischen Prozesses zur Beendigung des Kriegs gestellt werden muss. Der Schweizer Friedensgipfel beispielsweise könnte ein erster Schritt sein, um einen solchen politischen Prozess zu entwickeln.

Was kann der für ein Ergebnis bringen, wenn Russland nicht teilnimmt?

Dass Russland nicht eingeladen wurde und auch von Anfang an signalisiert hatte, nicht teilnehmen zu wollen, war nicht überraschend. In der Schweiz finden also keine Friedensverhandlungen statt. Ziel der von der Schweiz organisierten Konferenz ist es vielmehr, einen tragfähigen politischen Prozess für spätere Verhandlungen zur Beendigung des Kriegs zu entwickeln. Es geht also um Gespräche über Gespräche. Um einen möglichen Weg zu Verhandlungen.

Und den findet man nicht mit dem Gegner?

Es wäre sehr früh, bereits jetzt direkt mit Russland ins Gespräch zu kommen. Im Moment ist es sinnvoller, sich zunächst innerhalb der Lager über Interessen und mögliche Wege nach vorn zu verständigen. Bei der Schweizer Konferenz zum Frieden in der Ukraine soll zum Beispiel die globale Unterstützung für die Ukraine gestärkt und darüber gesprochen werden, welche Staaten sich an Vermittlungsinitiativen beteiligen könnten. Das ist auch richtig und wichtig. Es ist der erste Schritt auf dem Weg, Verhandlungen überhaupt vorstellbar zu machen.

Sie haben vorhin gesagt, militärische Unterstützung und Verhandlungen müssen wir zusammen denken. Wird dann auch beides in Genf verhandelt? Gibt es eine Ramstein-Ecke, wo es darum geht, wer wann welche Waffen liefert?

Die teilnehmenden Staaten werden sicherlich über die Problematik der Sicherheitsgarantien für die Ukraine sprechen. Diese sind eine zentrale Vorbedingung dafür, dass die Ukraine sich überhaupt auf Verhandlungen einlassen kann. Ein zentrales Problem ist ja, dass die Ukraine sich überhaupt nicht darauf verlassen kann, dass Russland abgeschlossene Verträge auch einhält. Auch aufgrund ihrer historischen Erfahrungen mit den letzten Verhandlungen mit Russland.

Aber das wäre ja eigentlich die Voraussetzung für ein Abkommen.

Ja, genau. Eines der größten Probleme von Friedensverhandlungen ist oft gar nicht, dass die Parteien sich nicht grundsätzlich einigen könnten. Sondern häufig geht es genau darum: dass sich eine Partei - oder auch beide - nicht darauf verlassen können, dass der Gegner sich hinterher an die Verträge hält. Und genau über dieses Problem muss in der Schweiz gesprochen werden: Was braucht es dafür, dass die Ukraine einem geschlossenen Abkommen vertrauen kann?

Welche Möglichkeiten gibt es?

In erster Linie geht es um die bilateralen Sicherheitsabkommen für die Ukraine. In diesen muss es harte, belastbare militärische Unterstützungszusagen für die Ukraine geben, das ist enorm wichtig. Einige Staaten haben schon solche Abkommen mit der Ukraine geschlossen. Nur auf der Basis solcher Abkommen wird es der ukrainischen Regierung überhaupt möglich sein, in eine Verhandlung reinzugehen.

Ihr Friedensgutachten bewertet auch die Sicherheitszusagen, die Deutschland der Ukraine bereits gegeben hat. Sie sind damit nicht so zufrieden?

Diese Vereinbarung enthält einen Hinweis auf das deutsche Haushaltsrecht. Das bedeutet, dass der Bundestag im Ernstfall erstmal darüber abstimmen müsste, ob die Haushaltsmittel auch dafür ausgegeben werden. Ich frage mich da natürlich, ob ein solcher Mechanismus verlässlich und schnell genug funktionieren kann. Hier müsste die Sicherheitsvereinbarung aus unserer Sicht nachgehärtet werden. Auch andere bilaterale Sicherheitszusagen sind eher offen formuliert. Insbesondere in der Frage, ob die Staaten auch eigenes Personal in die Ukraine entsenden würden, um beispielsweise vor Ort auszubilden.

Schauen wir einmal auf den Nahen Osten: Das Friedensgutachten spricht klare Empfehlungen für den Umgang mit Israel und dem Gazastreifen aus.

Israel hat selbstverständlich das Recht dazu, sich gegen einen Angriff zu verteidigen. Zugleich beobachten wir, dass Israel in Gaza über dieses Recht hinausgeht und gegen das humanitäre Völkerrecht verstößt. Hier geht es insbesondere um Verstöße gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Das verlangt, dass die Zivilbevölkerung vor unnötigem Schaden zu schützen ist. Das sehen wir nicht gegeben, so wird die Situation aktuell auch vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag eingeschätzt. Aus unserer Sicht sind die Prinzipien des humanitären Völkerrechts einzuhalten. Diese wiegen schwerer als das politische Prinzip deutscher Staatsräson.

Wenn Ihr Gutachten sagt: Israelische Verstöße gegen das Völkerrecht wiegen schwerer als die deutsche Staatsräson, immer an Israels Seite zu stehen, was folgt daraus?

Eine richtige Entscheidung ist getroffen worden. Die Förderung für UNRWA, die UN-Hilfsorganisation im Gazastreifen, soll wieder aufgenommen werden. Es war richtig, erstmal zu prüfen, inwieweit von dort aus bislang die Hamas unterstützt wurde. Vor allem aber muss jetzt der notleidenden palästinensischen Zivilbevölkerung geholfen werden. Später wird es auch um Deutschlands Rolle nach Ende des Krieges gehen. Wie beteiligen wir uns in einer zukünftigen Übergangsphase, die hoffentlich langfristig zu einem dauerhaften Frieden führt? Wie unterstützt Deutschland insbesondere mit zivilen Mitteln und Instrumenten beim Wiederaufbau? Aktuell muss es aber zunächst darum gehen, diesen Krieg zu beenden.

Reicht der Druck auf Israels Premier Benjamin Netanjahu aus? Was sagt Ihr Gutachten dazu?

Der Druck auf die israelische Regierung steigt, etwa wenn Spanien, Norwegen und Irland Palästina als Staat anerkennen. Neu ist auch, wie sehr sich US-Präsident Biden für einen Friedensplan stark macht. Sein jüngster Vorschlag, der in drei Phasen zu einem Ende des Kriegs kommen will, sollte umgesetzt werden. Zwingend notwendig ist eine Kopplung an eine langfristige politische Lösung des Konflikts in der Region.

Sie bilanzieren, dass seit 2022 weltweit so viel Gewalt geschieht wie seit dreißig Jahren nicht.

Diese Zahlen werden jährlich von der Universität Uppsala in Schweden erhoben. Im letzten Jahr hatte das Ausmaß der Gewalt in bewaffneten Konflikten und Kriegen das höchste Niveau seit 1994 erreicht. In diesem Jahr gab es mehr Gewaltkonflikte auf der Welt als jemals zuvor. Mehr als die Hälfte davon werden in Afrika, südlich der Sahara, ausgetragen. Dschihadistische Kämpfe und Militärputsche tragen insbesondere zur Fragilität der Sahel-Region bei.

Fragil in einem Maß, das auch für uns zur Gefahr werden kann?

Ja, darum ist es auch im harten sicherheitspolitischen Interesse Deutschlands, sich da weiter zu engagieren. Es geht nicht nur um humanitäre oder altruistische Ziele. Es geht für Deutschland auch darum, sich langfristig sicherheitspolitisch so aufzustellen, dass diese Konflikte unser Territorium nicht erreichen. Etwa durch Migration oder durch mehr dschihadistische Gewalt. Es gibt also zwei Gründe für Engagement: sicherheitspolitisch und humanitär. Daher argumentieren wir im Gutachten dafür, dass sich Europa und Deutschland nicht völlig aus der Kooperation mit Militärregierungen im Sahel zurückziehen, sondern strategisch involviert bleiben. Das heißt für uns: Entwicklungszusammenarbeit zwar kritisch prüfen, aber nicht sofort umfassend streichen.

Mit Ursula Schröder sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen