Politik

Kein schneller Fall Kiews Hat sich Putin militärisch verschätzt?

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Russisches Militärfahrzeug im Norden der Krim.

(Foto: picture alliance/dpa/Sputnik)

An Tag drei des russischen Angriffs auf die Ukraine ist weder die Regierung in Kiew gestürzt noch gibt die ukrainische Armee ihren Widerstand auf. Das könnte darauf hindeuten, dass der russische Vormarsch anders verläuft, als es sich die Kreml-Führung im Vorfeld ausgemalt hat.

Im Krieg sterbe die Wahrheit zuerst, lautet eine Binsenweisheit. Das gilt in Zeiten aufwendiger Propaganda-Schlachten im Internet mehr denn je. Nicht nur Russland hat Grund, klassische und soziale Medien mit Desinformationen zu füttern. Auch die politische und militärische Führung der Ukraine hat allen Anlass, übertriebene Bilder der eigenen Widerständigkeit zu verbreiten und Berichte über Opfer und Gebietsverluste kleinzuhalten. So hat kaum jemand einen Überblick - weder die Berichterstatter vor Ort, noch die von außen - über die militärische Lage. Meldungen beider Seiten über Verluste des Gegners sind kaum einzuschätzen.

Es mag sein, dass Russland binnen Stunden sein Ziel erreicht, die ukrainische Regierung um Präsident Wolodymyr Selenskyj zu stürzen und die ukrainische Armee zu unterwerfen. Doch mit jeder Stunde fortgesetzten Widerstands der Ukrainer steigt der Preis für einen militärischen Erfolg Russlands.

Kein Material für russische Propaganda

Wenn Putin in der Planung dieses offensichtlich seit Langem vorbereiteten Angriffs die eigenen Behauptungen geglaubt haben sollte, die Ukrainer seien gar keine richtige Nation, könnte das zu großen Fehleinschätzungen über den zu erwartenden Widerstand geführt haben. Am dritten Tag der Offensive sind auch die russischsprachigen Gebiete im Osten der Ukraine nicht im Handstreich eingenommen worden, die zweitgrößte Stadt Charkiw ist weiter unter ukrainischer Kontrolle.

Im Fokus des russischen Vormarsches steht offensichtlich die Hauptstadt Kiew, doch deren Eroberung kommt - wenn überhaupt - schleichend voran und scheint für Moskau nur um den Preis von schweren Kämpfen inmitten bewohnter Gebiete einer Millionen-Metropole zu haben zu sein. Das aber stünde in harschem Kontrast zu der Behauptung des Kremls, Ziel der Militäroperation seien ausschließlich die ukrainische Armee und die Regierung in Kiew, nicht aber Zivilisten.

Die russischen Medien können bis heute keine Bilder präsentieren von in Massen kapitulierenden ukrainischen Soldaten, von übergelaufenen Generälen oder Politikern. Auch Bilder von Videos von ukrainischen Zivilisten, die das Militär ihres "Brudervolks" fröhlich begrüßen, sind rar. In Melitopol sollen Menschen die eintreffenden Russen mit Sowjetflaggen empfangen haben. Das berichtet die russische Nachrichtenagentur Tass. Bilder davon gibt es keine zu sehen, ebenso wenig wie von kampflos fliehenden Soldaten der Ukraine, von denen das russische Militär am Donnerstagabend berichtete. Der gestrige Aufruf des russischen Präsidenten Wladimir Putin an die ukrainisch Armee, keinen Widerstand zu leisten und die eigene Führung zu stürzen, ist offensichtlich verpufft.

Russland muss mehr eskalieren als geplant

Ein weiteres, nicht aufgegangenes Kalkül betrifft den ukrainischen Staatspräsidenten selbst. Wolodymyr Selenskyj präsentiert sich als nicht leicht klein zu kriegender Anführer einer Nation unter Beschuss. Obwohl es die russische Führung offensichtlich auf ihn persönlich abgesehen hat und die USA Selenskyi eine Evakuierung angeboten haben sollen, ist der frühere Fernsehkomiker in Kiew verblieben - zusammen mit seiner Regierung. Die Auftritte des Mannes in kurzen Videonachrichten auf den Straßen der Hauptstadt werden zunehmend ikonisch, während sich der Angreifer - Wladimir Putin - in seiner Corona-Blase im Kreml verschanzt und selbst seine engsten Berater auf Distanz hält.

Diese Bilder sind nicht nur wichtig für die Moral der Ukrainerinnen und Ukrainer und ihrer Armee. Die internationale Sympathie für das Schicksal der Ukraine könnte das Blatt zugunsten der Ukraine wenden: Selenskyj berichtet von weiteren Waffenlieferungen - aus Polen, Schweden, den Niederlanden, Tschechien und Frankreich. US-Präsident Joe Biden gibt in der Nacht Militärhilfen über 350 Millionen Dollar frei. Russland ist zwar personell und technisch weit überlegen und kann einen militärisch Sieg jederzeit erzwingen. Aber je länger die ukrainische Bevölkerung standhalten kann, desto mehr muss die russische Führung eskalieren.

Ein großer Landkrieg, eine schrittweise und langwierige Eroberung des gesamten ukrainischen Territoriums war aber erkennbar nicht das ursprüngliche Ziel dieser russischen Militärkampagne. Der Kreml-Führung droht nun ein Szenario, das sie hatte vermeiden wollen: eine hohe Zahl an Opfern in den eigenen Reihen sowie Bilder von verletzten und sterbenden Zivilisten, von zerstörten Wohngebieten und damit ein wachsender internationaler Druck auf Russland, nicht nur von den NATO-Staaten.

Berlin gerät unter Druck

Sollte der Putin-Plan, wie auch westliche Geheimdienste übereinstimmend vermuten, die Installation einer Marionettenregierung in Kiew gewesen sein, wackelt dieser ebenfalls erkennbar. Angesichts des breiten Widerstands der Ukrainer und den furchtbaren Erfahrungen, die die Zivilbevölkerung macht, ist kaum vorstellbar, wie sich die unter jahrelangem russischen Druck geeinte ukrainische Nation solch einer Marionettenregierung fügen sollte.

Für die Bundesregierung bedeutet die militärische Entwicklung - das unerwartet lange Standhalten gegen die russische Aggression - aber auch eine veränderte Situation. Die Bundesregierung, so viel war zwischen den Zeilen zahlreicher Äußerungen zu lesen, hatte mit einem schnellen Erfolg des russischen Angriffs gerechnet. Je länger dieser ausbleibt, desto mehr stellt sich die Frage nach handfester Unterstützung für die ukrainische Armee auch aus Deutschland.

Der in diesem Jahr aus dem Bundestag ausgeschiedene ehemalige SPD-Verteidigungspolitiker Fritz Felgentreu etwa forderte auf Twitter "Militärhilfe für die Ukraine". Die Lieferung von 200 Stinger-Raketen durch die Niederlande an die Ukraine, die auch Deutschland liefern könne, kommentierte Felgentreu als "richtige Entscheidung". Sollte sich die überraschende Möglichkeit aufzeigen, dass die Putin-Armee in der Ukraine eine Niederlage erleiden könnte oder nur zu einem auch für Russland unverhältnismäßig hohen Preis gewinnen könnte, können die vermeintlichen Unterstützer-Länder der Ukraine das kaum ignorieren.

Quelle: ntv.de

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