Politik

Migrationstalk bei Anne Will "Herr Söder, der Effekt einer Integrationsgrenze geht gegen null"

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Söder will über Obergrenzen sprechen, Faeser nicht.

Söder will über Obergrenzen sprechen, Faeser nicht.

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Immer mehr Asylsuchende kommen nach Deutschland, die Kommunen sind völlig überlastet. Markus Söder fordert bei Anne Will eine Integrationsgrenze und eine nationale Grenzpolizei - und muss dafür viel Kritik einstecken. Ein dramatischer Hilferuf bleibt unerhört.

In den ersten acht Monaten des Jahres hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mehr als 204.000 Erstanträge auf Asyl registriert. 77 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Hinzu kommen gut eine Million geflüchtete Menschen aus der Ukraine. Wie geht Deutschland mit der immer größer werdenden Herausforderung der Migration um? Die Politik streitet dieser Tage wieder verstärkt über das Thema und auch die ARD-Talkshow Anne Will versucht sich am Sonntagabend an der Frage, wie Migration dauerhaft gesteuert werden kann. Echte Lösungen ignorieren Politikerinnen und Politiker jedoch.

Die Sendung beginnt mit einem Hilferuf. Nicht etwa mit dem eines Asylsuchenden, denn in der Diskussionsrunde sitzt kein Geflüchteter. Der Appell stammt von Frank Rombey. Dem parteilosen Bürgermeister der Gemeinde Niederzier in Nordrhein-Westfalen. 14.600 Bürgerinnen und Bürger leben dort - und 847 Geflüchtete. "Es sind einfach zu viele Menschen, die derzeit kommen", klagt Rombey, der stolz auf die 82 verschiedenen Nationen in seiner Gemeinde ist, stellvertretend für völlig überlastete Kommunen in Deutschland: "Wir kriegen das einfach nicht mehr gehandelt."

Das derzeitige Hauptproblem ist die Unterbringung. Für wie viele zusätzliche Asylsuchende hätte er noch Platz, möchte Talkmasterin Will wissen? "Noch für fünf", antwortet der Bürgermeister. "Wir sind faktisch voll." Dann ist da noch die Herausforderung der Integration. Rombey berichtet von großem Engagement seiner sozialen Gemeinde, aber mittlerweile könne nicht mal mehr Integrationsarbeit geleistet werden, weil es nur noch darum ginge, Obdachlosigkeit für die Asylsuchenden zu vermeiden. "Die Kitas und Schulen sind voll, wir brauchen mehr Zeit", schildert er die dramatische Lage. Hinzu kommen Kosten in Millionenhöhe.

Obergrenze "können wir abtun"

Weil die Herausforderung so groß wird wie seit Mitte der 2010er-Jahren (allerdings liegt die Zahl der derzeitigen Geflüchteten immer noch weit unter den 700.000 Menschen, die 2016 kamen), werfen Ampel-Regierung und Opposition dieser Tag mit Lösungsansätzen wild um sich. So auch in der Talkrunde. Markus Söder, als provokanter Politiker bekannt, bekräftigt seine Idee der "Integrationsgrenze", die er auf Nachfrage von Anne Will aber als "eine Richtgröße, bei der wir glauben, dass in unserem Land Integration gelingen kann", versteht. Der Vorschlag des bayerischen CSU-Ministerpräsidenten, den schon sein Vorgänger Host Seehofer erfolglos versucht hatte durchzuboxen, solle daher nicht die Abschaffung des individuellen Rechts auf Asyl bedeuten.

PolitikIllegale Migration in Deutschland

Trotzdem erntet Söder viel Kritik. SPD-Bundesinnenministerin Nancy Faeser "will nicht von Obergrenzen sprechen, vor allem wenn man jetzt sieht, dass sie nicht so klar definiert sind". Damit mache man "Menschen etwas vor", als wäre das die Lösung schlechthin. "Obergrenzen sind nicht einzuhalten, weil wir EU-Recht und internationales Recht haben", so die SPD-Politikerin, die sich lieber den "wichtigen Themen in Kommunen widmen" möchte. Selbst der überlastete Bürgermeister Rombey hält die Integrationsgrenze für "schwierig".

Dennoch, Söder gelingt es, dass sein Begriff die Will-Sendung dominiert. Auch die Talkmasterin kommt immer wieder auf ihn zu sprechen, klappert bei jedem Gast die Meinung dazu ab. Irgendwann aber hat Victoria Rietig genug. Die Leiterin des Migrationsprogramms der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) forscht seit Jahren zum Thema, berät verschiedene Regierungen und fällt das Urteil: "Herr Söder, der praktische Effekt einer Integrationsgrenze geht gegen null." Die Idee "können wir abtun", erklärt sie, indem sie den CSU-Politiker immer wieder direkt anspricht. "Wenn ich sage, ich möchte nächstes Jahr nur 100 Briefe bekommen, habe aber 200 Leute, die mir Briefe schreiben wollen, dann wird mir der Postbote auch 200 Briefe zustellen", umschreibt es die Migrationsexpertin.

Söder und Faeser sticheln

Natürlich haben aber Faeser und Söder noch viele weitere Vorschläge für Maßnahmen parat, um die Migration einzudämmen. Dabei sind sie sich sogar größtenteils einig: Geflüchtete in der EU besser verteilen, endlich verpflichtende Registrierungen an den EU-Außengrenzen, vereinfachte Rückführungen, Migrationsabkommen aushandeln (vor allem mit der Türkei), Erweiterung der Anzahl der sicheren Herkunftsstaaten. Der bayerische Ministerpräsident spricht sich sogar deutlich für einen gemeinsamen "Deutschlandpakt" aller demokratischen Parteien aus.

Trotzdem verfangen sich die beiden Spitzenpolitiker immer wieder in persönlichen Rededuellen. Beide wollen den Grenzschutz verbessern, aber Söder sagt, Faeser tue dafür zu wenig und schlägt sogar eine "Grenzpolizei für ganz Deutschland" nach bayerischem Vorbild vor. Die SPD-Politikerin schüttelt immer wieder vehement mit dem Kopf, hebt vermehrt vermeintlich eigene Erfolge heraus. Faeser sagt, sie habe jetzt die Grenzpolizei verstärkt, vor allem an den Grenzen zu Polen und Tschechien, wo die neuen Hauptmigrationsrouten verlaufen, damit verstärkt gegen Schleuser vorgegangen werde. Söder wirft ihr daraufhin vor, nur Wahlkampf zu betreiben, woraufhin die Innenministerin herzlich lachen muss: "Das sagt der Richtige." Wahr ist: In zwei Wochen wollen beide eine Wahl gewinnen; sie in Hessen und er in Bayern.

Expertin Rietig versucht daraufhin wieder Ordnung in die Runde zu bekommen und aufzuzeigen, dass die Politik allgemein "massiv überschätzt, was die Effekte der einzelnen Maßnahmen" auf die Migration sind, auch wenn die einzelnen Schritte teilweise richtig und wichtig wären. Sie habe jedoch "einiges an Fehlinformationen gehört, die ich geraderücken möchte", so die Migrationsforscherin.

Bürgermeister bleibt "fassungslos" zurück

Die Daten zeigten, dass, selbst wenn alle Maghrebstaaten und Indien als sichere Herkunftsstaaten deklariert würden, es die Zahl an Asylsuchenden kaum verringerte, weil aus diesen Ländern jährlich weniger als 5000 Menschen nach Deutschland kommen. Auch Migrationsabkommen hätten laut Rietig meist einen geringen Nutzen bei sehr hohen Kosten. Die Politik müsse "aufpassen, dass wir nicht immer wieder Einzellösungen bespielen, die in der Realität nur Änderungen im unteren einstelligen Bereich hervorbringen".

Am wichtigsten und effektivsten, um Migration einzudämmen, auch wenn es lange dauert, wäre dagegen die Bekämpfung von Fluchtursachen in den Herkunftsländern und in der Welt (Stichwort Klima), erklärt Rietig. Doch davon sprechen weder Faeser noch Söder. Zu unattraktiv für den Wahlkampf? Für zu wenige Rückführungen seien laut der Expertin auch nicht nur die Herkunftsländer verantwortlich, sondern ein großes Problem liege "bei ineffizienten deutschen Strukturen, beim Föderalismus". Der Vorschlag, diesen so sensiblen Bereich der Rückführung und der Rückkehrpolitik zu zentralisieren, liege schon seit Jahren auf dem Tisch. Auch ein Blick auf die Nachbarn in Dänemark und Österreich, den Söder mehrmals hervorkramt, bringe laut Rietig nicht viel, weil die Länder nicht vergleichbar seien.

Am Schluss kommt wieder Bürgermeister Frank Rombey zu Wort. "Ich bin fassungslos, wenn ich diese Diskussion hier heute Abend gesehen hab", stammelt er beinahe. Wer soll die Unterbringung und die Integration in seiner Gemeinde weiter finanzieren? Wer soll die Arbeit vor Ort in den Kommunen leisten? Man habe über Abkommen und dergleichen gesprochen, "ich persönlich hatte mir Lösungen erhofft", sagt der Bürgermeister. Er habe keine erhalten. Dabei, so Rombey "brauchen wir diese heute, eigentlich schon gestern und vorgestern".

Quelle: ntv.de

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