SWP-Experte zu Asylpolitik "Dänemark macht diese Politik auch auf Kosten Deutschlands"
23.09.2023, 10:46 Uhr Artikel anhören
Wer auf seine Abschiebung wartet, muss in dem ehemaligen Gefängnis Kaershovedgaard ausharren - einem sogenannten Ausreisezentrum.
(Foto: imago images/Ritzau Scanpix)
Dänemark verfolgt einen besonders strengen Asylkurs und hat damit den Zuzug eingeschränkt und nebenbei die rechtspopulistische Partei dezimiert. Ein Modell für Deutschland? Migrationsexperte Bossong von der Stiftung Wissenschaft und Politik ist skeptisch. Auch weil Dänemarks Politik auf Kosten Deutschlands geht.
ntv.de: Herr Bossong, die strenge Asylpolitik Dänemarks geistert durch die deutsche Migrationsdebatte. Die sozialdemokratische Regierung dort hat die Zuzugszahlen heruntergebracht und zugleich die Rechtspopulisten dezimiert. Kann das ein Modell für Deutschland oder Europa sein?
Raphael Bossong: So eins zu eins kann das kein Modell sein. Dabei geht es mir gar nicht so sehr um die strengen Maßnahmen im Inneren. Da dürfen Wertsachen konfisziert werden oder es dürfen maximal 30 Prozent nicht westlicher Ausländer in Stadtteilen leben und müssen notfalls umziehen. Falls das mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar ist, könnte man sich entscheiden, etwas davon zu übernehmen.
Aber?

Dr. Raphael Bossong forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik unter anderem zum Thema Migration.
Die eigentliche Frage ist, ob man damit tatsächlich den Zuzug nach Deutschland begrenzen könnte. Da wird es aus zwei Gründen schwieriger. Zunächst einmal hat Dänemark mehr Handlungsspielraum, weil es nur indirekt ans Dublin-System angekoppelt ist und nicht an alle anderen europäischen Rechtsakte des europäischen Asylsystems. Das betrifft beispielsweise die Aufnahmeregeln und die Asylverfahren. Das ist ein formelles Hindernis.
Europäisches Recht ließe sich ja ändern.
Das stimmt, das wäre aber ein sehr dickes Brett und würde einige Zeit dauern. Wichtiger ist etwas anderes: Dänemark ist ein kleines Land und kann diese Politik auch auf Kosten anderer betreiben. Dänemark will beispielsweise wieder nach Syrien abschieben. Was passiert dann? Die Syrer verlassen Dänemark und gehen nach Deutschland. Solche Fälle hatten wir. Das ist das St.-Florians-Prinzip. Die Dänen erlassen immer härtere und strengere Regeln und die Zahlen bei ihnen gehen herunter. Das heißt jedoch nicht, dass die Leute überhaupt mehr nach Europa kommen. Die gehen dann eben woanders hin, zum Beispiel nach Deutschland.
Deutschland könnte ja auch seine Regeln verschärfen - und die anderen Europäer auch.
Es mag sein, dass man dadurch den Zuzug etwas begrenzt. Aber dass man so den Zuzug auf nahezu null senkt, das sehe ich beim besten Willen nicht. Der Migrationsdruck bliebe da. Sozialleistungen zu kürzen oder Leuten den Schmuck abzunehmen, hält Menschen nicht davon ab, zu uns kommen. Diese Menschen erleiden auf dem Weg schon alle möglichen Gefahren und kommen trotzdem. Es ist nicht so, dass man nichts machen könnte, um die Zahlen zu begrenzen. Aber die Vorstellung, dass die Leute nicht mehr kommen, wenn man es ihnen hier nur etwas unangenehmer macht, die ist zu einfach.
Bleiben wir bei den Sozialleistungen. Wenn die ein Pull-Faktor sind, müsste eine Senkung etwas bewirken.
Pull-Faktoren sind nicht nur Sozialleistungen, sondern auch Arbeitsmarktchancen und vor allem auch familiäre Verbindungen. Das ist ganz wichtig: Wenn sich jemand überlegt, wo er hingehen könnte, hängt die Entscheidung am stärksten davon ab, wo er jemanden kennt. Das ist ein sehr viel wichtigerer Pull-Faktor als 50 Euro mehr oder weniger. Sozialleistungen sind natürlich nicht irrelevant. Man kann sie begrenzen. Aber die Effekte wären überschaubar.
Das heißt, weil in Deutschland beispielweise bereits viele Syrer sind, kommen auch noch mehr Syrer?
Das ist so. Richtig ist aber auch, dass familiäre Bindungen auch viele Menschen davon abhalten, sich überhaupt auf den Weg zu machen. Es gibt eine große Untersuchung aus der Türkei, für die syrische Flüchtlinge befragt wurden. Viele von ihnen sagten, sie wollten trotz der schwierigen Situation dort bleiben, weil ihre Familie dort ist. Es gibt natürlich die alleinstehenden 20-Jährigen, die losziehen und ihr Glück versuchen. Das sind auch nicht wenige. Aber die Familie ist insgesamt der größere Faktor.
Kann man trotzdem Signale senden, dass sich der Weg nach Europa, nach Deutschland, nicht lohnt?
Ja, aber nur eingeschränkt. Wenn die Menschen auf dem Weg sind, kann man versuchen, sich als Land unattraktiver zu machen. Man kann versuchen, sie in anderen Regionen entlang der Route zu halten. Aber wenn Deutschland sie nicht will, muss es andere Länder unterstützen, wenn nicht das besagte St.-Florians-Prinzip gelten soll. Sonst würden die betroffenen Regionen destabilisiert. Ein großes Land wie Deutschland kommt aus der Verantwortung nicht so leicht heraus.
Dänemark diskutiert, wie Großbritannien es auch seit Jahren plant, Asylbewerber nach Ruanda zu bringen und die Asylverfahren dort durchzuführen. Geht das überhaupt?
Man kann lange darüber reden, ob das rechtlich möglich wäre. Aber selbst wenn man einen Weg findet: Die Dimensionen sind einfach komplett unrealistisch. Wenn die Dänen es in einigen Jahren schaffen sollten, Menschen für viel Geld nach Ruanda zu schaffen, dann reden wir allenfalls über ein paar Hundert Personen. Das soll die Menschen abschrecken? Wenn Deutschland es genauso machen würde und sagt: Alle, die bei uns ankommen, bringen wir in Land X - dann möchte ich mal das Land sehen, dass da mitmacht. Noch einmal: Es gibt keine einfachen Lösungen, die das Problem auf einen Schlag verschwinden lassen.
Die CDU hat vorgeschlagen, dass Europa Flüchtlingen bis zu einer Obergrenze von 400.000 pro Jahr aufnehmen soll. Was halten Sie von dem Vorschlag?
Das ist für mich eine Milchmädchenrechnung. Am grünen Tisch mag das funktionieren. Aber wenn die europäischen Staaten jetzt das Asylrecht abschaffen, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass eine politische Dynamik unter den Mitgliedsstaaten entsteht, in der es möglich wird, 400.000 in der EU zu verteilen. Daran glaube ich nicht. Wenn dann trotzdem noch Leute kommen und an der Grenze stehen - wie wollen wir die denn abweisen? Da sehe ich keine Möglichkeit. Oder wollen wir es wie Saudi-Arabien machen? Dort wurden in den vergangenen Jahren mutmaßlich mehrere hundert Menschen, einschließlich Kinder, an der Grenze zu Jemen erschossen.
Derzeit nehmen wir vor allem die auf, die Schleuser bezahlen können und die Tour nach Europa schaffen, meist nicht die alleinerziehende Mutter aus dem Flüchtlingslager im Libanon, obwohl die Schutz viel eher bräuchte. Wie kann man diese Gerechtigkeitsfrage lösen?
Ihre Beschreibung stimmt zwar. Aber diese Argumentation ist für mich nur ein Deckmantel, um sagen zu können: Ich bin kein Unmensch. Ich möchte den Politiker sehen, der dann sagt: Nun sind die Grenzen geschlossen, lasst uns bitte 400.000 Schutzbedürftige aus den Flüchtlingslagern herholen. Die Rechtspopulisten werden dann weiterhin Druck ausüben und die Debatte mitbestimmen.
Das klingt jetzt so, als ob man eigentlich gar nichts machen kann.
Das habe ich nicht gesagt. Man kann das Asylrecht verschärfen, den Grenzschutz verstärken, und vor allem auch legale Wege der Migration ausbauen. Aber damit ist das Problem der irregulären Zuwanderung nicht erledigt. Das ist eine Märchenerzählung und eine gefährliche dazu, weil sie falsche Erwartungen weckt. Ich beschäftige mich seit Jahren mit dem Thema und bin zu der Überzeugung gekommen, dass man bestenfalls über relative Verbesserungen reden kann. Es gibt keine einfachen Lösungen, die das Problem verschwinden lassen. Migration ist ein Thema wie Armut oder der Klimawandel. Sie wird uns unser ganzes Leben begleiten und lässt sich nicht mit einer Handvoll Maßnahmen wegverordnen.
Also kann man nur herumdoktern?
Wir brauchen vor allem mehr Ehrlichkeit. Man sollte nicht den Eindruck erwecken, alles kontrollieren zu können. Die eigentliche Aufgabe ist es, über die Veränderungen zu sprechen, zugleich aber auch Sicherheit zu geben. Darum beneide ich keinen Politiker, denn das ist nicht einfach. Man muss vermitteln: Deutschland wird in 20 Jahren noch diverser sein als heute, aber wir werden nicht überrannt oder an die Wand gedrückt. Das ist die eigentliche Aufgabe: Diese Angst zu moderieren.
Mit Raphael Bossong sprach Volker Petersen
Quelle: ntv.de