Wie weit geht die Staatsräson? "Israel kann sagen: Jetzt liefert auch"


Die Staatsräson gebe Israel eine politische Position, sagt Experte Wieland.
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Dass "die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson" ist, darin sind sich Politiker fast aller Parteien einig. Aber was heißt das genau? Sicher ist, dass die Konsequenzen weitreichend sein können.
Angesichts der Angriffe der Hamas auf Israel gibt sich die deutsche Politik ungewohnt einig - zumindest, wenn man AfD und Linke beiseitelässt. "Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson", betonen zahlreiche Vertreter von Union und Ampel-Parteien im Einklang. Überhaupt geht dieser Satz deutschen Regierungsvertretern für gewöhnlich leicht über die Lippen. Nur ein Lippenbekenntnis also? Oder steckt mehr dahinter?
Der inflationären Nutzung steht zunächst seine Bedeutungsschwere gegenüber. "Staatsräson ist kein rechtlicher Begriff, sondern ein politikwissenschaftlicher Begriff. Dieser meint, es gibt gewisse Interessen des Staates, die er durchsetzen muss, um seine Existenz zu bewahren", sagt der Staatsrechtler Joachim Wieland ntv.de. In der politikwissenschaftlichen Diskussion werde das als Gegenbegriff zu rechtsstaatlichen Freiheiten verwendet. "Grundrechte und persönliche Freiheiten stehen auf der einen Seite, die Sicherheit und Souveränität des Staates auf der anderen", sagt der Experte.
Der Begriff "Staatsräson" entstammt eigentlich einer anderen Zeit; in der heutigen politischen Praxis in Deutschland wird er nahezu ausschließlich in Bezug auf Israel verwendet. Geprägt wurde der Ausdruck von Angela Merkel. 2008 sprach die damalige Bundeskanzlerin vor der israelischen Knesset von der historischen Verantwortung Deutschlands für die israelische Sicherheit und bezeichnete diese als "Staatsräson". Seither wiederholt die Politik diesen Grundsatz, die Ampel-Koalition schrieb ihn sogar in ihren Koalitionsvertrag.
"Der Begriff ist wohl etwas anders gemeint"
Ist die Sicherheit Israels also ein existenzielles Interesse Deutschlands? "Der Begriff Staatsräson, wie ihn Frau Merkel oder Herr Scholz verwenden, ist wohl etwas anders gemeint", sagt Staatsrechtler Wieland. "Man würde heute eher sagen: Die Sicherheit Israels gehört zur DNA Deutschlands und zu unserem Selbstverständnis unmissverständlich dazu." Das sei auch Teil der Wiedergutmachung.
Bundeskanzler Olaf Scholz bekräftigte die Formel direkt nach Kriegsbeginn und wiederholte sie in seiner Regierungserklärung. "In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz: den Platz fest an der Seite Israels. Das meinen wir, wenn wir sagen: Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson", sagte Scholz. "Unsere aus dem Holocaust erwachsende Verantwortung macht es uns zur immerwährenden Aufgabe, für die Existenz und für die Sicherheit des Staates Israel einzustehen." Diese Staatsräson wird auch zitiert, wenn es etwa um das Verbot israelfeindlicher Demonstrationen in Deutschland geht. Doch welche Konsequenzen sich tatsächlich aus ihr ableiten lassen, war nie eindeutig.
Wieland glaubt, dass sich selbst Politiker der eigentlichen Bedeutung des Wortes gar nicht bewusst sind. Zwar habe die Staatsräson rechtlich keine Bindung. Politisch sei das jedoch anders. "Wenn der Bundeskanzler öffentlich sagt, die Sicherheit Israels gehört zur deutschen Staatsräson, dann gibt er diesem Staat eine politische Position. Israel kann sagen: 'Jetzt liefert auch'".
Forderung nach Munitionslieferung
Eine erste Bitte hat Israel bereits gestellt. Laut Verteidigungsminister Boris Pistorius hat das Land um Munition für Kriegsschiffe gebeten. "Wenn wir nicht eine absolute Kehrtwende in unseren politischen Äußerungen machen wollen, dann sind wir politisch angehalten, dem nachzukommen", so Wieland. Entsprechend äußerte sich der Kanzler in seiner Regierungserklärung: Deutschland werde Unterstützungsbitten aus Israel "unverzüglich prüfen und auch gewähren", sagte Scholz, ohne konkret über Munition oder Waffen zu sprechen.
Hierzulande definieren erste Stimmen ihre Auffassung von Staatsräson zuletzt sogar ungewohnt deutlich. Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge etwa teilte mit, der Grundsatz bedeute, "dass wir alles tun werden, um Israel in dieser schwierigen Zeit zu helfen".
CDU-Sicherheitsexperte Roderich Kiesewetter wurde noch konkreter. Zur Staatsräson gehöre auch, "Unterstützungsmaßnahmen deutscher Sicherheitskräfte für Israel durchzuführen, sofern diese von Israel erbeten werden", sagte er der "Berliner Morgenpost". "Sicherheit und Existenz Israels und seiner Bürger betreffen auch unsere Sicherheit, insofern gehört auch dazu, notfalls eigene Soldaten zu senden."
Quelle: ntv.de