Stichwahl in der Türkei Kilicdaroglu setzt auf die Syrien-Karte, Erdogan auf den Sieg
26.05.2023, 17:47 Uhr
Erdoğan geht als Favorit in die Stichwahl am Sonntag.
(Foto: REUTERS)
Um die Präsidentschaftswahl an diesem Sonntag doch noch zu gewinnen, verbreitet Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu immer schrillere Ankündigungen. Amtsinhaber Erdoğan kann sich indessen auf die Hilfe der Staatsmedien verlassen.
Für die Stichwahl bei den türkischen Präsidentschaftswahlen an diesem Sonntag setzt Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu offenbar weiterhin auf Stimmung gegen die syrischen Flüchtlinge im Land. Bei einem Besuch in der vom Erdbeben im Februar besonders betroffenen Provinz Hatay an der türkisch-syrischen Grenze warb Kılıçdaroğlu für sich, indem er verkündete, er werde die Türkei niemals zu einem Flüchtlingslager verkommen lassen. Wenn er die Wahl für sich entscheide, werde er die Schutzsuchenden allesamt abschieben, so der Chef der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP.
Damit führte Kılıçdaroğlu seine Ankündigungen fort, die er wenige Tage zuvor schon scharf formuliert hatte. In seiner ersten öffentlichen Ansprache nach der Präsidentschafts- und Parlamentswahl kündigte der Oppositionsführer die Abschiebung aller Geflüchteten aus der Türkei an, sollte er im zweiten Wahlgang am 28. Mai gewinnen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan habe, so behauptete Kılıçdaroğlu in einem Video, zehn Millionen Geflüchtete ins Land gelassen.
Kılıçdaroğlu will die Türkei "vor Terrorismus und Flüchtlingen retten"
Auf welche Quelle er sich dabei bezog, ließ Kılıçdaroğlu offen. Denn offiziell leben laut Vereinten Nationen rund vier Millionen Geflüchtete in der Türkei, davon 3,6 Millionen Syrer. Mit seinem Versuch, im Becken der Rechten zu fischen, zielt CHP-Chef Kılıçdaroğlu auf die 5,2 Prozent der Wähler ab, die vor zwei Wochen für den Ultranationalisten Sinan Oğan gestimmt hatten.
Bei den Wahlen am 14. Mai musste Amtsinhaber Erdoğan das erste Mal nach zwei Jahrzehnten ernsthaft um seine Wiederwahl bangen. Umfrageinstitute hatten Kılıçdaroğlu im Vorfeld teils rund fünf Prozentpunkte vor dem Amtsverteidiger gesehen. Doch noch in der Wahlnacht wurde klar, dass keiner der Kandidaten die nötige Mehrheit erreicht hatte und es zu einer Stichwahl kommen würde. Dies hatte es in der Türkei zuvor noch nie gegeben.
Bei dem Ergebnis von 49,5 Prozent für Erdoğan und 44,9 Prozent für Kılıçdaroğlu gelten die Stimmen des dritten Kandidaten Sinan Oğan als ausschlaggebend. Oğan steht für eine flüchtlingsfeindliche Politik, auch deswegen warb Kılıçdaroğlu nach dem ersten Wahlgang auf Plakaten für sich mit dem Slogan "Syrer. Werden. Gehen". Doch wie zu erwarten, stellte sich der Ultranationalist Oğan deutlich hinter Erdoğan: "Ich rufe die Wähler, die im ersten Wahlgang für uns gestimmt haben, auf, im zweiten Wahlgang für Erdoğan zu stimmen", sagte er in seiner Wahlempfehlung. Kılıçdaroğlu zeigte sich davon unbeirrt. "Wir kommen, um dieses Land vor Terrorismus und Flüchtlingen zu retten", schrieb er auf Twitter. Mittlerweile ist in Oppositionskreisen gar von einer "gewaltsamen Abschiebung" der Migranten die Rede.
Rechtsruck im Parlament
Neben Erdoğan ist die extreme Rechte Gewinnerin des ersten Wahlgangs: Insgesamt ist ein Rechtsruck im Parlament zu verzeichnen. Die AKP konnte gemeinsam mit der rechten MHP und weiteren kleinen Koalitionspartnern, dem Bündnis "Cumhur İttifakı", eine Mehrheit erreichen. Zwar erhielt die Allianz knapp unter fünfzig Prozent der Stimmen. Aufgrund des Wahlsystems gelang es ihr jedoch, mit 322 von 600 Sitzen die Mehrheit in der Nationalversammlung zu behalten.
Durch das Bündnis mit Erdoğan gelang es der islamistisch-kurdischen Partei Hüda-Par, erstmals und mit vier Abgeordneten ins Parlament einzuziehen. Sie wird mit der türkischen Hisbollah in Verbindung gebracht und für Dutzende politische Morde in den 1990er Jahren verantwortlich gemacht. Die Hüda-Par bekämpft die LGBTIQ*-Bewegung, fordert nach Geschlechtern getrennten Schulunterricht und eine neue Politik im Einklang mit islamischen Werten. Die MHP ist mit 50 Parlamentariern vertreten. Damit schnitt sie insgesamt wesentlich besser ab, als die meisten Umfragen der Partei vorausgesagt hatten. Die sozialdemokratische CHP ist mit 169 Sitzen vertreten. Die prokurdische HDP trat erst gar nicht an, weil derzeit vor dem Verfassungsgericht ein Verbotsverfahren gegen sie verhandelt wird.
Erdoğan setzt auf "Sicherheit und Stabilität", aber die Kassen sind leer
So könnte Kılıçdaroğlu auch bei einem Sieg nicht einfach durchregieren, denn Parlament und Präsident könnten sich blockieren. Dies hätte unweigerlich eine Regierungskrise zur Folge - ein Szenario, das Erdoğan für sich zu nutzen weiß. Bei der Stichwahl, so der Präsident, sei er sich sicher, dass die Wähler "Sicherheit und Stabilität" bevorzugen würden. Ein weiterer Faktor, den Experten als einen Aspekt für Erdoğans Erfolg sehen: Denn dieser konnte tatsächlich bisher alle Krisen in seiner politischen Laufbahn bewältigen. Dazu gehören unter anderem ein Verbotsverfahren des Verfassungsgerichts gegen seine AKP, welches 2008 knapp abgewendet werden konnte; die Niederschlagung der landesweiten Gezi-Proteste im Jahre 2013 und des gescheiterten Putschversuchs 2016.
Zudem kann Erdoğan tatsächlich auf gigantische Infrastrukturprojekte verweisen, wie etwa die 2016 eröffnete dritte Bosporusbrücke, die als technisches Meisterwerk gilt und den spektakulären Istanbuler Flughafen, der 2018 den Betrieb aufnahm. Trotz Inflation und Wirtschaftskrise hat er offenkundig noch immer viele Anhänger in der Türkei. Die Türkei sei heute, anders als vor zwanzig Jahren, kein Land mehr, dass Befehle entgegennehme - heute erteile Ankara Befehle, wiederholt Erdoğan regelmäßig und appelliert so an den Nationalstolz.
Der Erfolg des rechten Bündnisses "Cumhur İttifakı" lässt sich mitunter auch mit Erdoğans Wahlkampfgeschenken erklären: So wurde zuletzt innerhalb eines Jahres dreimal der Mindestlohn erhöht, die Rentenansprüche wurden ausgeweitet, und der Präsident versprach, die zerstörten Häuser in den Erdbebengebieten innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen. Wie all das finanziert werden soll, blieb bisher unbeantwortet. "Seine große Achillesferse bleibt die Wirtschaft", sagt Kristian Brakel, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. "Die Kassen sind leer, was bedeutet, dass jetzt eigentlich ein Sparprogramm kommen muss. Da ist fraglich, wie das umgesetzt werden soll."
Wahlkampf mit unfairen Mitteln
Der schon zuvor unfaire Wahlkampf wird mit populistischen Strategien fortgeführt. So zeigte etwa "A Haber", ein Propagandasender der Regierung, die Grafik eines Wahlzettels. Darauf war nur Erdoğan abgebildet, Kılıçdaroğlu wurde schlichtweg als "der andere Kandidat" gezeigt, ohne Foto oder Namen. Der Moderator deutete auf Erdoğan, während er das Publikum ermahnte, das Kreuz an der richtigen Stelle zu setzen - andernfalls sei der Wahlzettel ungültig.
Der vor dem ersten Wahlgang manchmal schwächelnde Erdoğan ist mittlerweile wieder gewohnt kraftvoll in Höchstform. Auf Facebook und Twitter dankt er den Auslandstürken. Mit ihrer Stimme für ihn hätten sie die "Macht der türkischen Demokratie gestärkt". Er warnt vor einem wiederauflebenden kurdischen Separatismus und der Teilung des Landes. Er dankt dafür, dass seine Anhänger sich nicht von Mitgliedern der Terrororganisation hätten einschüchtern lassen. Damit führt er seine Behauptung fort, dass Kılıçdaroğlu mit der als terroristisch eingestuften Gülen-Bewegung und der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) zusammengearbeitet hätte. Auf Twitter verbreiten AKP-Mitglieder Fotos von Kılıçdaroğlu, auf denen wie bei seinen Wahlkampfplakaten neben seinem Porträt Sympathiebekundungen mit der ebenfalls als terroristisch geltenden Kurdenmiliz YPG stehen. Dabei hat Kılıçdaroğlu bisher jegliche Kooperation mit all diesen Organisationen bestritten, auch fehlen ernstzunehmende Indizien für diese Anschuldigungen. Stattdessen werden auf AKP-Veranstaltungen Deep-Fake-Videos verbreitet, die Sympathien der Opposition mit den Terrorgruppen zeigen sollen.
Wie ungleich die Voraussetzungen für die Kandidaten in diesem Wahlkampf waren, zeigte auch die Berichterstattung des Staatsfernsehens TRT: Im April wurden dem Präsidenten 32 Stunden Sendezeit gewidmet - Kılıçdaroğlu dagegen lediglich 32 Minuten. Der Hinweis von Oppositionspolitikern, dass TRT unter der Kontrolle der Regierung zu einem Manipulationsinstrument umgeformt worden sei, bleibt ohne Konsequenzen.
Quelle: ntv.de