Politik

Hohe Zahl von Geflüchteten "Kommunen profitieren von Flüchtlingen"

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Im nordwestmecklenburgischen Upahl entsteht ein Containerdorf, in dem 400 Geflüchtete untergebracht werden sollen.

(Foto: picture alliance /)

Länder und Kommunen fühlen sich durch die gestiegenen Flüchtlingszahlen überlastet und fordern mehr Geld aus Berlin. Auch die Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats Mecklenburg-Vorpommern, Ulrike Seemann-Katz, besteht darauf. Sie sieht aber auch, dass noch immer vor allem die Belastungen durch Flüchtlinge gesehen werden, nicht die auch vorhandenen Gewinne.

ntv.de: Sind die Kommunen mit der Aufnahme von Geflüchteten überfordert?

Ulrike Seemann-Katz: Aus meiner Sicht sind sie nicht überfordert. Wir müssten eigentlich nur anders unterbringen, dann wäre die Sache viel einfacher. Ab etwa 100 bis 150 Menschen wird der Betrieb einer Unterkunft wirtschaftlich. Man muss also keine 400 Menschen irgendwo unterbringen, sondern es reichen 100 bis 150 aus. Noch besser wäre es, Menschen in Wohnungen unterzubringen. Im ländlichen Raum gibt es viel Leerstand, auch in den Gemeinden. Wenn man die Geflüchteten dort in Wohnungen unterbringen würde, wäre die Sache einfacher. Die dezentrale Unterbringung spart auch Geld, beispielsweise für Wachdienste, Zäune und was sich so an Gemeinschaftseinrichtungen ergibt. Dieses Geld kann man dann in Betreuungspersonal investieren, das quasi aufsuchend berät und betreut. Das gibt es auch schon in einzelnen Landkreisen, und ich finde das sehr gut.

Wie ist denn überhaupt die Lage in Mecklenburg-Vorpommern? Wie viele Geflüchtete nimmt das Land auf?

Nach dem Königsteiner Schlüssel muss das Land zwei Prozent der in Deutschland ankommenden Geflüchteten aufnehmen. Aktuell sind das 586 [Januar 2023, Quelle: BAMF, Anm. d. Red.]. Die werden dann wiederum nach der sogenannten Zuwanderungszuständigkeits-Landesverordnung auf die Landkreise verteilt. Anders als der Königsteiner Schlüssel richtet sich diese Verordnung nicht nach Wirtschaftskraft und Einwohnerzahl, sondern nur nach Einwohnerzahl und dem bereits bestehenden Ausländeranteil. Das heißt also, dass ein Landkreis, in dem bereits viele Ausländer*innen wohnen, weniger Geflüchtete zugewiesen bekommt. Der Landkreis Nordwestmecklenburg bekommt beispielsweise gar nicht so viele, weil die Hansestadt Wismar bereits einen höheren Ausländeranteil hat.

In Upahl im Landkreis Nordwestmecklenburg gibt es Proteste gegen eine Flüchtlingsunterkunft, in der etwa 400 Geflüchtete leben sollen. Der Ort hat etwas mehr als 500 Einwohner. Was löst diese Ablehnung aus? Die Entscheidung an sich oder das Zahlenverhältnis?

Die Unterkunft löst gar nicht bei allen Entsetzen oder Angst aus. Aber bei vielen ist diese Angst unterschwellig vorhanden. Das liegt unter anderem daran, dass sie in Medienberichten beschworen wird. Und es gibt halt Menschen, die das ausnutzen und Ängste schüren, weil sie daraus ihre Existenzberechtigung ziehen. Die AfD zum Beispiel erhofft sich, dass sie dadurch mehr Zulauf bekommt. Psychologisch gesehen haben viele Menschen Angst vor dem Unbekannten. Nicht alle, übrigens. Manche Leute werden dann auch neugierig.

Sie haben in Upahl Einzelgespräche mit den Einheimischen empfohlen statt einer Bürgerversammlung, die es dann aber schließlich gab. Warum?

Diese großen Versammlungen führen eher zu Tumulten als zu einer sachlichen Auseinandersetzung. Man kann als Politiker und als Entscheider die Ängste der Menschen gar nicht mehr wirklich ernst nehmen, weil da teilweise auch sehr krudes Zeug kommt. Dass Kindersoldaten geschickt werden, die die deutsche Rasse ausrotten sollen beispielsweise.

Wie viel trägt dazu bei, dass die Kommunen und die Bundesländer gerade vom Bund vehement mehr Geld für die Versorgung von Geflüchteten fordern?

Auch das spielt eine große Rolle. In Mecklenburg-Vorpommern bekommen die Kommunen ohnehin alles bezahlt. Im Flüchtlingsaufnahmegesetz steht, dass das Land den Kommunen alle notwendigen Kosten erstattet. Alles, was eine Gemeinde vorher mit dem Land als notwendig abgestimmt hat, wird zu 100 Prozent bezahlt. Für die Kommunen ist es sogar ein Segen, weil es für jeden Einwohner Zuweisungen aus dem kommunalen Finanzausgleich gibt. Derzeit sind das etwa 1000 Euro. Wenn eine Kommune die Zahl ihrer Einwohner verdoppelt, erhält sie auch die doppelte Zahl von sogenannten Schlüsselzuweisungen. Man kann als Kommune also auch gewinnen, indem man Geflüchtete aufnimmt. Diskutiert wird aber immer die Belastung.

Aber irgendwoher muss auch dieses Geld kommen.

Das Geld für die Aufnahme muss vom Bund kommen und sogar mehr als bisher. Vielleicht hat der Bund noch nicht ganz verstanden, dass da viel mehr dranhängt als nur die Aufnahme und Unterbringung. Dazu gehört natürlich auch die Integration. Und da muss der Bund tatsächlich mehr investieren, insbesondere in die Ausbildung von Deutschlehrern. Das ist eigentlich Ländersache, aber da haben wir im Moment das größte Problem: dass es die nicht gibt und dass es kein Kita-Personal gibt.

Auch der für Upahl zuständige Landrat argumentiert, dass er für kleinere Einrichtungen nicht genügend Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter hat.

Genau das ist das Problem. Da muss mehr für die Ausbildung getan werden. Man könnte in der aktuellen Notlage auch Standards absenken und mit Weiterbildung und Qualifizierung arbeiten. Dazu braucht man dann vielleicht keinen förmlichen Abschluss, man kann ja auch berufsbegleitend weiterbilden.

Man geht inzwischen davon aus, dass viele Geflüchtete hierbleiben werden. Das heißt, es braucht nicht nur Notunterkünfte, sondern Wohnungen, Kitaplätze, Schulplätze.

Wir sind ein reiches Land und teilweise sind wir auch die Ursache dafür, dass Menschen fliehen - wenn ich an Themen wie Klimawandel, Waffenproduktion oder solche Dinge erinnere. Wir denken schon seit Jahren, eigentlich seit Jahrzehnten nicht, dass wir ein Einwanderungsland sind. Das sind wir aber faktisch, und wir brauchen diese Zuwanderung auch. Wir haben schon bei der normalen beruflichen Zuwanderung nicht an die Familien gedacht, die vielleicht mitkommen wollen. Wir haben das Thema Integration oft überhaupt nicht mitgedacht. Bis heute ist es schwierig, Sprachkurse für EU-Bürger zu bekommen oder überhaupt einzurichten. Das ist eine Frage der Einstellung in der Gesellschaft.

Sie klingen, als sei Geld das geringste Problem.

So sehe ich das, ja. Wir haben Standards für die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen. Dazu brauchen wir Offenheit und Flexibilität, man könnte ja auch die Geflüchteten selber mitreden lassen. Wir reden permanent über diese Menschen, das geht an denen ja auch nicht spurlos vorbei.

Wenn ein Flüchtlingsgipfel stattfindet und der Bundeskanzler nimmt nicht teil, was ist das für Sie für ein Zeichen?

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Dass das nicht wichtig genug ist. Ja, das würde ich an der Stelle tatsächlich so sagen. Und dass es hier hauptsächlich um Geld geht zwischen den Ländern und dem Innenministerium und mitnichten um irgendwelche Standards oder Verbesserungen oder um Menschen. Dass diese Arbeitsgruppen eingerichtet wurden, ist für mich nur ein Zeichen dafür, dass man so tun wollte, dass man irgendetwas geschafft hat.

Mit Ulrike Seemann-Katz sprach Solveig Bach

Quelle: ntv.de

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