Wenig Hoffnung für Ukraine "Deutsche Rüstungsindustrie hat nichts im Regal"
20.04.2022, 16:23 Uhr
Die Ukraine wünscht sich schwere Artillerie wie die Panzerhaubitze 2000.
(Foto: imago images/Björn Trotzki)
Bundeskanzler Olaf Scholz stellt der Ukraine zwei Milliarden Euro zur Verfügung, um sich bei der deutschen Rüstungsindustrie Waffen besorgen zu können. Eine Liste wolle man gemeinsam mit Rüstungskonzernen und der Ukraine abarbeiten, so Scholz. Während der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk bemängelt, dass auf der Liste nichts stehe, was die Ukraine derzeit brauche, stellt sich die Frage, was die deutsche Rüstungsindustrie überhaupt auf die Schnelle liefern kann. Im Interview mit ntv.de erklärt Rüstungsexperte und Politikwissenschaftler Max Mutschler vom Friedensforschungsinstitut bicc in Bonn, warum die Chancen auf zeitnahe Lieferungen von schweren Waffen aus Deutschland eher gering sind.
ntv.de: Herr Dr. Mutschler, die Bundesregierung will mit der Ukraine eine Waffenliste der deutschen Rüstungsindustrie "abarbeiten", was derzeit lieferbar ist. Kann man abschätzen, was auf der Liste überhaupt draufsteht?
Max Mutschler: Das ist schwer zu sagen. Da gibt es eine gewisse Geheimhaltung, und das finde ich sogar durchaus legitim. Aus Sicherheitsgründen ist das nachvollziehbar. Wichtig wäre, dass zumindest im Nachhinein, wenn die Entscheidung definitiv gefallen ist, die Bundesregierung mit offenen Karten spielt. Vonseiten der Ukraine gibt es den ganz klaren Wunsch nach schweren Waffensystemen wie Schützenpanzern und vor allem auch Panzerhaubitzen 2000, also gepanzerter Artillerie. Dem ist ja eine Absage erteilt worden, und daran wird auch diese Liste wohl nichts ändern. Es ist sozusagen ein anderes Modell: Es wird nicht mehr über die Bundeswehr geliefert, sondern direkt von der Rüstungsindustrie. So könnten aber natürlich trotzdem Sachen, die zuvor schon geäußert wurden, darüber bedient werden. Ein Beispiel wären die eben genannten Panzerhaubitzen 2000. Von ukrainischer Seite gibt es ein großes Interesse daran. Dass die Rüstungsindustrie das Modell liefern kann, ist klar. Die Frage ist eben nur, bis wann.
Mit den Beständen der Bundeswehr ist man laut Scholz an Grenzen gestoßen. Hat die Rüstungsindustrie denn Bestände, auf die sie zurückgreifen kann?
Für die bestehenden Waffensysteme, die ein Rüstungsunternehmen im Angebot hat, müssen natürlich Ersatzteile immer wieder nachgeliefert werden. Das heißt, wenn es nur um Ersatzteile geht, wäre meine Vermutung, dass dann relativ schnell geliefert werden kann. Bei kompletten Waffensystemen geht das nicht so einfach. Das funktioniert nicht wie in der Autoindustrie. Die Produktion ist an Aufträge geknüpft. Durch das Kriegswaffenkontrollgesetz kann ein Rüstungskonzern nicht einfach 100 Panzer bauen, weil es in Zukunft potenzielle Abnehmer dafür gibt. Vor der Produktion von Rüstungsgütern muss die Genehmigung dazu eingeholt werden. Es liegt sozusagen nichts im Regal und könnte sofort ausgeliefert werden, sondern muss erst produziert werden. Ausnahmen wären Altbestände, die an den Konzern zurückgegangen sind, nachdem sie ausgemustert wurden. Ein Beispiel dafür wären die "Leopard 1"-Panzer. Die liegen sozusagen auf Halde und müssten erst wieder instandgesetzt werden.
Bei neuen Waffensystemen müsste die Ukraine also eine Bauzeit von mehreren Wochen einkalkulieren?
Wochen sicherlich, in manchen Fällen sogar Monate. Das hängt aber von der Rüstungsindustrie und von der politischen Seite ab. Beiden Seiten wägen dann ab, ob es besonders schnell gehen muss und wie sehr man die Produktionskapazitäten maximal auslasten kann.
Kann ein Rüstungskonzern denn bei den Aufträgen umdisponieren? Beispielsweise die Fertigung für ein anderes Land auf die Ukraine verteilen?
So ein Fall ist mir bisher nicht bekannt. Machbar wäre das sicherlich, wenn es sich jetzt um Lieferungen für Deutschland, also für die Bundeswehr handelt. Wenn die Bundesregierung sagen würde, erste Priorität hat die Ukraine, dann ist das durchaus vorstellbar. Für die Rüstungsindustrie ist entscheidend, womit sie das meiste Geld verdient und ob andere Auftraggeber gegebenenfalls bereit sind, Verzögerungen in Kauf zu nehmen.
Das bedeutet, für Lieferungen von schweren Waffen müssten erst Anträge gestellt werden?
So ist es. Aber wenn der politische Wille dazu da ist, könnten solche Anträge auch sehr schnell von der Bundesregierung genehmigt werden. Ob derartige Anträge bereits vorliegen, kann ich nicht sagen, weil Kriegswaffen und Rüstungsgüter ein extrem intransparentes Feld sind. Selbst im Nachhinein, wenn die Entscheidungen gefallen sind, selbst wenn die Sachen bereits ausgeliefert wurden, erfahren wir in den allermeisten Fällen nicht, um was es tatsächlich geht. Das ist jetzt gerade mit der Ukraine eine Ausnahme, weil das Ganze so im Fokus steht und weil es eben um politische Entscheidungen geht, die von großer Bedeutung sind.
Die Ukraine setzt in Sachen Waffen - zumindest was Wünsche und erfolgte Lieferungen angeht - auf mehr Transparenz. Auch die USA kommunizieren deutlicher, welche Waffen an die Ukraine gehen. Das ist sicher auch eine Form der Abschreckung in Richtung Russland. Ist das Vorgehen dann eher typisch amerikanisch oder der Kriegssituation geschuldet?
Wahrscheinlich beides. Ich finde es völlig legitim und auch richtig, dass die Ukraine sehr offensiv fordert: Wir wollen dies, wir brauchen jenes. Die Kommunikation der Bundesregierung ist da sehr viel unklarer. Scholz hätte der Ukraine ja auch klar sagen können: Diese Waffen liefern wir im Rahmen unserer Möglichkeiten. Das kommt teilweise aus Bundeswehrbeständen, das kann die Industrie liefern. Das hat er aber nicht gemacht. Man hätte gar nicht über Zahlen sprechen müssen, wie viel wann geliefert werden kann. Aber man könnte zumindest sagen, es geht auch um dieses und jenes Waffensystem. Ich glaube, das wäre das angemessene Transparenzlevel der Kommunikation.
Das heißt, die Herangehensweise der Bundesregierung und das, was aus Bundeswehrbeständen realisierbar wäre, sind eigentlich Signale, dass sich die Ukraine wenig Hoffnung auf zeitnahe Lieferungen von schweren Waffen machen kann.
Zumindest nicht direkt aus Deutschland. Praktiziert wird ja bereits, dass Waffensysteme aus anderen Ländern kommen, teilweise alte Sowjet-Modelle, die dann möglichst schnell geliefert werden können. Und auch das passiert dann zeitverzögert. Möglichst schnell würde ja auch hier nicht heißen "übermorgen", sondern das wäre auch eher eine Frage von Wochen, bis die Waffensysteme tatsächlich einsatzfähig sind.
Mit Dr. Max Mutschler sprach Michael Bauer
Quelle: ntv.de