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Litauens Botschafter im Gespräch "Litauen will kriegstüchtig werden"

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Rund 5000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sind seit April an zwei Standorten in Litauen stationiert.

Rund 5000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sind seit April an zwei Standorten in Litauen stationiert.

(Foto: picture alliance/dpa)

Auf dem Nato-Gipfel am 24. und 25. Juni steht die sicherheitspolitische Zusammenarbeit in Europa im Mittelpunkt. Deutschland hat dabei eine neue Führungsrolle übernommen, etwa durch die Stationierung einer Panzerbrigade in Litauen. Das baltische Land ist ein Schlüsselakteur an der Nato-Ostflanke. "Wenn von der Beistandspflicht die Rede ist, wird meist Artikel 5 des Nato-Vertrags zitiert", sagt Litauens Botschafter Giedrius Puodžiūnas im Interview mit ntv.de. "Doch auch Artikel 3 ist wichtig." Im Gespräch geht es um strategische Partnerschaft mit Deutschland, wachsende Rüstungskooperation und die Rolle nationaler Verteidigungsfähigkeit und transatlantischer Einheit für Europas Sicherheit.

ntv.de: Herr Botschafter, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist das alles überragende Thema in Europa - in Litauen ganz besonders. Ihr Land hat früh vor den imperialen Ambitionen Moskaus gewarnt, lange bevor der Konflikt in eine Invasion mündete. Wie geht Litauen damit um, dass diese Warnungen überhört wurden und nun bittere Realität sind?

Giedrius Puodžiūnas ist Botschafter der Republik Litauen in Deutschland. Von 2020 bis 2024 war er Direktor der Abteilung für transatlantische Beziehungen und Sicherheitspolitik im litauischen Außenministerium.

Giedrius Puodžiūnas ist Botschafter der Republik Litauen in Deutschland. Von 2020 bis 2024 war er Direktor der Abteilung für transatlantische Beziehungen und Sicherheitspolitik im litauischen Außenministerium.

(Foto: Botschaft der Republik Litauen)

Giedrius Puodžiūnas: Das hat mit historischen Erfahrungen zu tun, die Länder im Laufe der Zeit machen. Vor dem Zweiten Weltkrieg setzte Litauen auf Neutralität - und wurde trotzdem zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt, was 1940 den Verlust der Unabhängigkeit zur Folge hatte. In der Zeit zwischen 1940 und 1953 verlor nahezu jede litauische Familie durch Deportationen oder Massenmorde Angehörige. Viele flohen ins Ausland. Fünf Jahrzehnte lang befand sich unsere Nation in einem Schockzustand. Die Sicherheitsarchitektur der 1970er-Jahre, basierend auf dem Geist der Helsinki-Schlussakte, die von Nixon und Breschnew als eine Art Balance im Kalten Krieg verhandelt wurde, ist zusammengebrochen. Seit Putins Rede in München 2007 hat sich die Lage verschärft. Als es 2008 zum russisch-georgischen Krieg kam, warnte Litauen: Wir müssen aufpassen. Doch damals hörten uns nur wenige zu. Und so kam es 2014 zur Annexion der Krim, 2014 zum Krieg im Donbass und schließlich 2022 zum großflächigen Angriff auf die Ukraine.

2015 wurden Sie Botschafter in Georgien. In Südossetien stationiert Russland seit dem Krieg 2008 seine Truppen - nur 50 Kilometer von der Hauptstadt Tiflis entfernt. Wie wirkt sich diese militärische Präsenz auf das Sicherheitsgefühl im Land aus?

Das Problem ist: Russland verfolgt das Konzept von Einflusszonen. Das bedeutet, dass Nachbarländer keine Wahl haben sollen, selbst zu bestimmen, welchem Bündnis sie beitreten. Unsere historischen Erfahrungen, wie die Georgiens, zeigen, wie gefährlich es ist, in solchen Grauzonen zu verharren. Deshalb sind für uns die Mitgliedschaften in der Nato und der EU die größten Errungenschaften seit der Wiederherstellung unserer Unabhängigkeit.

Litauen grenzt an die russische Exklave Kaliningrad und an Belarus, Russlands engen Verbündeten. Die Grenze zu Belarus ist etwa 80 Kilometer von Vilnius entfernt. Wie widerstandsfähig ist die Ostflanke der Nato in Ihrem Land?

Wenn von der Beistandspflicht die Rede ist, wird meist Artikel 5 des Nato-Vertrags zitiert. Doch auch Artikel 3 ist wichtig. Er verpflichtet alle Mitgliedstaaten, ihre individuelle und kollektive Widerstandsfähigkeit gegen bewaffnete Angriffe aufrechtzuerhalten und auszubauen. Dazu gehören gegenseitige Hilfe, aber auch Selbsthilfe. Litauen nimmt diese Verteidigungsherausforderungen ernst. Seit 2014 haben sich unsere Verteidigungsausgaben fast verfünffacht. Wir investieren massiv in militärische Fähigkeiten, beschaffen Ausrüstung und wollen kriegstüchtig werden, wie Verteidigungsminister Pistorius es formuliert hat. Unser Ziel ist, sich verteidigen zu können - nicht verteidigen zu müssen. Denn so funktioniert Abschreckung: einem potenziellen Aggressor zeigen, dass der Preis für einen Angriff hoch sein wird. Und 32 Nato-Mitgliedstaaten - das ist eine echte, weltweite Macht.

Wie gut gelingt die Grenzsicherung zu Belarus nach den bekannten Vorfällen mit Migranten aus entfernten Drittstaaten vor einiger Zeit?

Die durch Russland und Belarus gesteuerte Migration war 2021 für uns ein völlig neues Phänomen, das wir als Form hybrider Kriegsführung einstufen. Damals verfügte Litauen noch nicht über eine geschlossene Grenzinfrastruktur entlang der fast 600 Kilometer langen Grenze zu Belarus. Nach den Wahlfälschungen in Belarus hatten wir vielen Oppositionellen, darunter Swetlana Tichanowskaja, Zuflucht gewährt. Als im Frühsommer plötzlich fast 4000 Flüchtlinge - vor allem aus Syrien und dem Irak, mit denen Litauen bekanntlich keine gemeinsame Grenze hat - illegal über Belarus einreisten, war das ein Schock. Innerhalb eines Jahres haben wir mit dankenswerter Unterstützung verschiedener EU-Partner und Institutionen, darunter auch Frontex, eine moderne Schutzbarriere aufgebaut. Heute ist diese EU-Außengrenze zuverlässig geschützt und steht unter Kontrolle. Der litauische Grenzschutz ist bereit, sofort zu reagieren. Übrigens war Litauen schon immer der Auffassung, dass die Stärkung der EU-Außengrenzen eine zentrale Voraussetzung für die wirksame Bekämpfung illegaler Migration ist.

Mit dem Amtswechsel im Weißen Haus ist die amerikanische Sicherheitsgarantie für Europa unter Druck geraten. Betrachten Sie die Vereinigten Staaten trotz manch irritierender Aussagen von Donald Trump zur Beistandspflicht nach wie vor als Litauens wichtigsten strategischen Verbündeten?

Litauen ist ein stark transatlantisch orientiertes Land. Wir haben immer an die Partnerschaft zwischen Amerika und Europa geglaubt. Die USA spielen eine Schlüsselrolle - auch angesichts der Tatsache, dass die europäischen Nato-Mitglieder seit den 1990er-Jahren zu wenig in ihre eigene Sicherheit investiert haben. Das wird jetzt nachgeholt und die europäische Säule des Bündnisses ausgebaut. Wir müssen mehr Verantwortung übernehmen. Aus meiner Sicht ist es wie eine zweispurige Straße: Wir brauchen die USA - und die USA brauchen uns, eben "united we stand, divided we fall". Was Handelsfragen wie Zölle betrifft, so wird es einfach Zeit brauchen, um Lösungen zu finden.

Sind Sie also zuversichtlich, dass EU und Amerika sich einigen werden - ob in der Zollfrage oder bei der Aufteilung von Militärausgaben?

Ja. Allerdings müssen auch wir Europäer breiter denken. Die USA haben seit Jahrzehnten maßgeblich zu Frieden und Sicherheit in Europa beigetragen. Doch die Welt verändert sich, und deshalb müssen wir Lasten umverteilen, zum Beispiel indem wir unsere amerikanischen Partner auch im Indopazifik oder in anderen Regionen stärker unterstützen. Die litauische Bevölkerung hat großes Vertrauen in Amerika - ein Land, das die Okkupation Litauens nie anerkannt hat. In jener schwierigen Zeit gab uns das Hoffnung, dass unsere Kinder eines Tages in einem freien und demokratischen Staat leben würden. Das spielt auch im heutigen Krieg gegen die Ukraine eine wichtige Rolle. Es motiviert die ukrainischen Soldaten, weiterzukämpfen. Wir Litauer haben diesen Traum über 50 Jahre hinweg bewahrt.

Deutschland stationiert nun dauerhaft Truppen in Litauen. Die neue deutsche Kampfbrigade im Baltikum wurde vor kurzem in Dienst gestellt. Aktuell sind rund 400 Soldaten der Panzerbrigade 45 vor Ort, bis 2027 sollen es 5000 werden, dann wird die Brigade voll einsatzbereit sein. Welche Bedeutung hat dieser Beitrag für Litauen?

Es ist ein Zeichen gelebter Solidarität, aber auch ein Signal für die Zeitenwende und die neue Führungsrolle Deutschlands. Für die Litauer hat dieses Vorhaben historische Bedeutung.

Worin liegt die historische Dimension?

Eine schwere Kampfbrigade der Bundeswehr fest im Ausland zu stationieren, ist ein Novum für Deutschland seit 1945. Für uns als kleines Land an der Ostflanke der Nato ist diese Solidarität seitens eines großen Nato-Mitglieds von großer Bedeutung. Es gehört zur Abschreckung dazu, genau wie es Bundeskanzler Merz beim Festappell der Brigade in Vilnius sagte: "Der Schutz von Vilnius ist der Schutz von Berlin."

Welche Rolle kommt der Panzerbrigade im Fall eines Angriffs zu?

Sie ist Teil der kollektiven Abschreckungs- und Verteidigungsmaßnahmen, die nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 von den Alliierten beschlossen wurden, und folgen dem Prinzip der "Forward Defense", also der Vorneverteidigung. Demnach ist Litauen bereit, gemeinsam mit Verbündeten jeden Zentimeter seines Territoriums von der ersten Minute an zu verteidigen. Die deutsche Kampfbrigade spielt dabei eine Schlüsselrolle. Seit 2017 ist zudem eine multinationale Nato-Battlegroup Lithuania, die derzeit unter deutschem Kommando steht, bei uns aktiv. All diese Maßnahmen sind zwar kostspielig, doch Abschreckung ist immer günstiger als Verteidigung.

Können Sie Näheres zu den Standorten sagen?

Geplant ist, dass etwa ein Drittel der 5000 Bundeswehrangehörigen in der Nähe von Kaunas stationiert wird, zwei Drittel am Hauptstandort in Rudninkai bei Vilnius, nahe der Grenze zu Belarus. Deutschland stellt die Truppe, Litauen übernimmt die Infrastruktur. In Rudninkai wollen wir bis 2027 nicht nur eine moderne Kasernenanlage mit Truppenübungsplatz, sondern auch eine vollwertige Infrastruktur zum Leben und Arbeiten errichten. Der Kostenrahmen liegt bei etwa 2,2 Milliarden Euro.

Der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall wird in Litauen eine Munitionsfabrik bauen. Wann ist mit einer Produktion von Artilleriemunition zu rechnen?

Die Rüstungsindustrie hat für uns derzeit höchste Priorität, denn der Krieg in der Ukraine zeigt, wie hoch der Munitionsverbrauch in bewaffneten Konflikten sein kann. Große Namen wie Rheinmetall sind dabei wichtig. In Bereichen wie Optik, Laser- und Drohnentechnologie ist Litauen traditionell stark aufgestellt, doch bei der Munitionsproduktion bestehen noch Defizite. Es ist politisch gewollt, dass das Werk zügig errichtet wird. Wir werden alles daransetzen, dass dem Bau keine bürokratischen Hürden im Weg stehen.

Unabhängig von der Präsenz der Alliierten bleiben nationale Verteidigungsfähigkeiten zentral. Die Nato-Zielgrößen werden derzeit angesichts der neuen Bedrohungslage überarbeitet und sollen auf dem Nato-Gipfel in Den Haag Ende Juni beschlossen werden. Wie bereitet sich Litauen darauf vor?

Aktuell verfügt Litauen über circa 15.000 Berufssoldaten und etwa 30.000 aktive Reservisten. Bis 2030 wollen wir eine nationale Division mit rund 20.000 Mann aufstellen und die Zahl der Reservisten auf 50.000 erhöhen. Das ist ambitioniert und wird uns einiges an Kosten für Ausrüstung, Infrastruktur und Personal abverlangen. Die Bevölkerung steht aber klar dahinter, auch junge Menschen zeigen viel Verständnis für die Notwendigkeit dieser Maßnahmen. Die Zwei-Prozent-Vorgabe der Nato haben wir bereits überschritten: Litauen investiert aktuell vier Prozent des BIP in Verteidigung. Für 2026 ist ein Anstieg auf 5,25 Prozent geplant. Es ist außerordentlich wichtig, dass Europa mehr Verantwortung übernimmt. Die Lage ist gefährlich, und wir haben nicht viel Zeit.

Die baltischen Staaten setzen auf maximale Abschreckung. Ist unter diesen Voraussetzungen an einen Dialog mit Russland überhaupt noch zu denken? Und wie könnte tragfähige Sicherheitsordnung für Europa künftig aussehen?

Für Vorhersagen ist es momentan zu früh, vor allem im Hinblick auf Russland, das nach wie vor von der Idee der Einflusszonen festhält. Aus unserer Sicht hat die Unterstützung der Ukraine jetzt höchste Priorität. Die Zukunft Europas wird in hohem Maße davon abhängen, wie sich die Lage in der Ukraine entwickelt. Gleichzeitig müssen wir unsere Resilienz stärken und unsere Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten konsequent ausbauen. Litauen wird sich beim kommenden Nato-Gipfel besonders dafür einsetzen, dass die Ukraine weiterhin militärisch unterstützt wird - einschließlich der Aussicht auf einen Nato-Beitritt. Russland muss als langfristige Bedrohung für die Allianz anerkannt werden. Die Verteidigungsausgaben müssen weiter steigen, und es muss alles unternommen werden, um die transatlantische Einheit zu sichern.

Herr Botschafter, die litauisch-deutschen Beziehungen gehen weit über sicherheitspolitische Fragen hinaus. Was möchten Sie den Menschen in Deutschland mit auf den Weg geben?

Das muss ich hervorheben: Die deutsche Brigade ist für uns mehr als ein Militärverband. Sie ist ein Symbol, woraus ein echter Katalysator unserer Beziehungen werden kann. Wenn deutsche Soldaten mit ihren Familien erst einmal bei uns sind, wird das zahlreiche Möglichkeiten zur interkulturellen Annäherung bieten. Litauen ist ein grünes Land mit über 3000 Seen, vielen Flüssen und natürlich der Ostseeküste, an der auch Thomas Mann einige Sommer in Nidden auf der Kurischen Nehrung verbrachte. Deutsche Touristen sind bei uns sehr willkommen. Sie wollen nicht nur Vilnius, Kaunas und Klaipėda besuchen - viele interessieren sich auch für unsere gemeinsame Geschichte. Und davon gibt es viele Spuren: In Dresden werden zum Beispiel alte litauische Wappen aufbewahrt, denn der Kurfürst von Sachsen war im 18. Jahrhundert zeitweise in Personalunion auch König von Polen und Großfürst von Litauen. Interessanterweise wurde Litauen erstmals 1009 in den Quedlinburger Annalen erwähnt.

Ich bin mit der Devise nach Berlin gekommen: Mehr Litauen in Deutschland - und mehr Deutschland in Litauen. Das versuchen wir in der Botschaft auch umzusetzen. Persönlich bin ich froh, in dieser spannenden Zeit als Botschafter in Berlin tätig sein zu dürfen.

Mit Giedrius Puodžiūnas sprach Svetlana Alexeeva

Quelle: ntv.de

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