Reisners Blick auf die Front "Militärisch wäre die Übergabe des Donbass eine Katastrophe"
20.10.2025, 18:38 Uhr Artikel anhören
US-Präsident Donald Trump fordert vom ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj, Russland die von Kremlchef Wladimir Putin geforderten Regionen zu überlassen. Oberst Markus Reisner erklärt bei ntv.de die fatalen Folgen eines solchen Deals - und warum der Druck auf die Ukraine steigt.
ntv.de: US-Präsident Trump hat erst mit Russlands Staatschef Putin telefoniert, dann den ukrainischen Präsidenten Selenskyj empfangen. Mit welchem Ergebnis?
Markus Reisner: Die Rückmeldungen zu dem Treffen im Weißen Haus sind sehr ernüchternd. Trump hat namhaften Zeitungen zufolge Selenskyj aufgefordert, Putins Bedingungen zu akzeptieren. Andernfalls müsse er damit rechnen, dass Russland die Ukraine zerstört. Offenbar drängt Trump auf ein Einfrieren des Konflikts entlang des aktuellen Frontverlaufs. Was Russland schon erobert hat, soll es behalten.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.
(Foto: privat)
Putin fordert für einen Waffenstillstand angeblich, dass die Ukraine die Regionen Donezk und Luhansk vollständig an Russland gehen sollen. Was würde das für die militärische Sicherheit der Ukraine bedeuten?
Beide Regionen hat Russland noch immer nicht vollständig erobert. Die wesentlichsten Verteidigungsanlagen, die die Ukraine in den letzten Jahren entwickelt hat, sind dort noch immer vorhanden. Die Russen konnten sie nur teilweise überwinden. Mit einem Gebietsverzicht wären diese ukrainischen Verteidigungsanlagen mit einem Schlag überwunden - und es gäbe kein Hindernis mehr, das Russland auf dem Weg nach Westen aufhalten würde. Militärisch wäre die Übergabe des Donbass eine Katastrophe für die Ukraine.
Immerhin: Angeblich würde Putin im Gegenzug auf Teile der zum Teil russisch kontrollierten Oblaste Cherson und Saporischschja verzichten. Ist das nicht ein Eingeständnis der militärischen Schwäche Russlands?
Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Russland signifikante Teile des von ihnen eroberten Gebiets aufgibt. Die südlich des Flusses Dnipro besetzten Gebiete wird Russland behalten wollen zur Absicherung und Anbindung der Krim-Halbinsel an die Russische Föderation.
Gibt es denn realistische Ideen, wie die Ukraine nach etwaigen Gebietsverzichten sicher wäre vor weiteren russischen Angriffen?
Da gilt leider: Täglich grüßt das Murmeltier. Immer wenn es konkret um einen möglichen Waffenstillstand geht, kommt die Frage von Sicherheits- und Beistandsgarantien auf den Tisch. Da hat aber bislang kein Treffen, keine Verhandlung ein substanzielles Ergebnis hervorgebracht. Im Gegenteil: Wir sehen jetzt wieder eine Verschärfung der Lage für die Ukraine. Trump hat seine grundsätzliche Herangehensweise nie verändert. Er möchte aus diesem Krieg herauskommen. Und es ist ihm egal, was die Ukraine hierfür aufgeben muss.
Noch vergangene Woche stand die Lieferung von US-Marschflugkörpern vom Typ Tomahawk an die Ukraine im Raum. Das scheint nun nicht mehr der Fall zu sein. Was bedeutet die permanente Unsicherheit über verfügbare Waffensysteme für die militärische Planung der Ukraine?
Die ukrainische Armee lebt von der Hand in den Mund. Selenskyj wollte in Washington nicht nur die Lieferung von Tomahawk erreichen. Er braucht eine Vielzahl von Waffensystemen, insbesondere beim Thema Luftabwehr. Russland startet derzeit alle drei bis vier Tage einen Großangriff aus der Luft gegen die Ukraine. Wenn sich die Ukraine gegen die Angriffe auf die strategische Infrastruktur - die Versorgung mit Strom und Wärme - nicht wehren kann, wird es für sie schwierig.
Das war offenbar auch ein Thema beim Treffen im Weißen Haus.
Genau. Trump soll zu Selenskyj gesagt haben, dass sein Land erfrieren und zerstört wird, wenn es kein Abkommen zwischen der Ukraine und Russland gibt.
Lässt sich der Schaden bei der kritischen Infrastruktur durch die Angriffe der vergangenen Wochen ermessen?
Zwei Zahlen sind in diesem Zusammenhang aussagekräftig. Nach offiziellen ukrainischen Angaben wurden bis zum vergangenen Jahr circa 80 Prozent der kritischen Infrastruktur zerstört oder beschädigt. Im Frühling und Sommer dieses Jahres hat die Ukraine dann massiv repariert und instandgesetzt. Nach den massiven russischen Angriffen Anfang Oktober waren aber schon wieder 60 Prozent der ukrainischen Gasversorgung zerstört oder unterbrochen - ebenfalls nach offiziellen Angaben der Ukraine. Man sieht also: Russland gelingt eine sukzessive Zerstörung dieser Infrastruktur. Noch gelingt es der Ukraine, ihre Bevölkerung zu versorgen. Aber wie lange noch, ist völlig offen.
Seit Wochen sinken die ukrainischen Abschussraten, während Russland immer öfter und umfangreicher angreift. Was ist der Grund?
Ein Grund ist der saturierende Effekt, den der Dreiklang aus Drohnen, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen bewirkt: Die ukrainische Luftabwehr wird durch die schiere Anzahl russischer Geschosse überfordert. Am 16. Oktober hat Russland in einer Nacht mit 320 Drohnen, 28 Marschflugkörpern und 9 ballistischen Raketen angegriffen. Das stellt die Luftabwehr vor immense Herausforderungen. Zugleich zeigt sich hier, dass die russische Rüstungsindustrie weiter in großen Stückzahlen Nachschub produziert.
Am Wochenende hat die Ukraine offenbar ein russisches Gasverarbeitungswerk im rund 1300 Kilometer entfernten Orenburg angegriffen. Was sagt uns der Angriff?
Die Ukraine versucht, den Druck an Russland zurückzugeben, indem sie die russische Energieinfrastruktur angreift. Der wirtschaftliche Schaden soll die Finanzierung des russischen Angriffskrieges beeinträchtigen. Zudem zielen die Angriffe auf die Stabilität der russischen Gesellschaft im Hinterland. Grundlage dieser Angriffe sind Aufklärungsdaten der USA. Aber noch reichen diese Angriffe nicht, um einen entscheidenden Erfolg gegen Russland zu erzielen.
Wäre es denn denkbar, dass zumindest die ukrainischen Angriffe auf die Krim-Versorgung den Menschen dort einen kalten Winter bescheren?
Das ist denkbar. Es ist auch zu erkennen, dass die Ukraine genau das versucht, indem sie zum Beispiel Kraftwerke und für die Gasversorgung wichtige Infrastruktur auf der Krim angreift. Falls man aber auf lokale Unruhen der russischen Bevölkerung wegen andauernder Mangelversorgung hofft, fürchte ich, wird das nicht der Fall sein.
Werfen wir noch einen Blick auf das Kriegsgeschehen am Boden. Wie steht es um die umkämpften Städte im Osten?
Pokrowsk bleibt umkämpft, aber der russische Durchbruchsversuch zwischen Pokrowsk und Kostjantyniwka ist bislang abgewehrt. Brisant ist die Lage in Kupjansk, wo die Russen vom Norden in die Stadt eingedrungen sind und zugleich von Süden aus angreifen. Die Ukraine hat mit der Evakuierung der Stadt und der Umgebung begonnen. Man rechnet also damit, dass Kupjansk fallen wird. Schwierig ist auch die Lage in Siwersk.
Warum?
Siwersk war ein sehr wichtiger Stützpunkt und bildet einen Angelpunkt zwischen dem Nord- und Südteil des Mittelabschnitts der Front. Wenn Siwersk fällt, müssen die ukrainischen Streitkräfte womöglich bis auf die Städte Slowjansk und Kramatorsk zurückweichen. Ein dritter Hotspot des Kampfgeschehens neben Kupjansk und Siwersk ist der Süden des Mittelabschnitts der Front: Die russischen Streitkräfte stoßen immer weiter westlich in Richtung des Oblast Dnipropetrowsk vor. Die Ukraine muss dem etwas entgegensetzen und Reserven in die Region verlegen. Diese Kräfte fehlen ihr dann aber anderswo.
Mit Oberst Markus Reisner sprach Sebastian Huld
Quelle: ntv.de