"Die Situation ist ernst, und ich empfehle uns allen, sie auch ernst zu nehmen", sagt Jens Spahn.
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Gesundheitsminister Spahn warnt, wenn jetzt nichts geschehe, drohe "ein bitterer Winter". Den Vorwurf, er selbst habe Entwarnung gegeben, weist er zurück: "Es passiert jetzt nichts, was nicht schon vorher in Prognosen oder in Aussagen von uns allen gewesen ist."
Er ist, wie die ganze Bundesregierung, nur noch geschäftsführend im Amt, aber anders als einige seiner Kolleginnen und Kollegen macht Jens Spahn nicht den Eindruck, als könne er das baldige Ende seiner Amtszeit als Minister kaum erwarten. Im Gegenteil: Jens Spahn kämpft um sein Erbe.
Doch das ist es nicht allein. Spahns Pressekonferenzen mit Lothar Wieler, dem Chef des Robert-Koch-Instituts, die zuletzt nur noch unregelmäßig stattfanden, finden ab sofort wieder wöchentlich statt. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass da einer noch so viel Aufmerksamkeit wie möglich mitnehmen will. Aber es gelingt dem Bundesgesundheitsminister, diesen Eindruck nicht aufkommen zu lassen. Mit dem wöchentlichen Corona-Bericht solle das öffentliche Bewusstsein dafür geschärft werden, wie ernst die Situation ist, sagt er. "Die Situation ist ernst, und ich empfehle uns allen, sie auch ernst zu nehmen." Wieder einmal klingt er fast wie Bundeskanzlerin Angela Merkel, die zu Beginn der Pandemie sagte: "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst."
Aber das ist auch das Problem der Politik in dieser Pandemie - es sind die immer gleichen Ankündigungen, Appelle und Warnungen. "Die Impfung bringt Licht ans Ende des Tunnels", hatte Spahn im Januar dieses Jahres gesagt und das stimmt natürlich auch. Nur dass der Tunnel länger ist, als damals und noch vor wenigen Wochen für möglich gehalten wurde.
Spahn und auch Wieler wenden sich dem Eindruck entgegen, sie hätten die Pandemie jemals unterschätzt. "Meine Damen und Herren, es ist fünf nach zwölf!", sagt Wieler zu Beginn seiner Ausführungen. Spahn erinnert daran, dass er im Juli warnte, im Oktober könne es eine Sieben-Tage-Inzidenz von 800 geben. Ganz so weit sind wir noch nicht, jedenfalls nicht bundesweit. Regional schon: Wieler zeigt eine Deutschlandkarte, auf der die Kreise je nach Infektionsgeschehen eingefärbt sind. Fast alle Landkreise sind tiefrot, im Süden und im Osten sind sie bereits pink, in vier Landkreise liegt die Inzidenz über 1000.
Es droht "ein bitterer Dezember"
Gestern habe es erstmals mehr als 50.000 Fälle gegeben, sagt Wieler, so viele wie noch nie. 3000 von diesen werden im Krankenhaus behandelt werden müssen, rechnet er die Wahrscheinlichkeit vor, mindestens 350 müssten schätzungsweise auf die Intensivstation, "200 mindestens werden sterben".
Die Inzidenzen würden sich alle zwei Wochen verdoppeln, warnt auch Spahn. In Sachsen, Thüringen und Bayern gebe es Kliniken, die schon heute "über dem Limit" lägen. "Das ist bitter und das ist die Situation, die wir immer vermeiden wollten und weiter vermeiden wollen." Wenn jetzt nichts geschehe, werde es "für das ganze Land ein bitterer Dezember".
Spahn erinnert an die Beschlüsse der Gesundheitsministerkonferenz vor einer Woche: Auffrischungsimpfungen für alle, schärfere Auflagen beim Zugang zu Veranstaltungen, Testkonzepte für Pflegeheime. Er hat auch gute Nachrichten: Die Zahl der Impfungen steigt, "erstmals seit ziemlich langer Zeit" seien in dieser Woche mehr als vier Millionen Impfdosen bestellt worden. Außerdem hätten sich mittlerweile alle Bundesländer dazu entschieden, die Älteren schriftlich über die Möglichkeit einer Auffrischungsimpfung zu informieren. Auch dieses Problem ist altbekannt und sorgt dafür, dass jede Corona-Welle nach demselben Muster abläuft: Immer wieder dauert es, bis Maßnahmen - in diesem Fall das Info-Schreiben an die Senioren - von der Politik als sinnvoll erkannt wird. Dann dauert es noch länger, bis auch die letzten Bundesländer mitmachen. Weder die Kanzlerin noch der Bundescoronaminister hat daran in fast zwei Jahren Pandemie etwas ändern können.
Und dann ist es irgendwann zu spät. Impfen macht den entscheidenden Unterschied, sagt Spahn auch heute, vielleicht zum tausendsten Mal, aber die Wirkung einer Impfung braucht Zeit und darum hilft verstärktes Impfen für den Moment zu wenig. Deshalb unterzeichne er heute die Verordnung, mit der die kostenlosen Bürgertests wieder eingeführt werden. Aber auch das reiche nicht, "jedenfalls nicht mehr". Über die Beschlüsse der Ampel-Parteien hinaus fordert Spahn "2G plus" für Veranstaltungen, also einen Einlass nur für Geimpfte und Genesene, die zugleich getestet sind. Das sei "ein schwerer Schritt, aber ein Schritt, den wir gehen müssen, und wir können ihn nur gemeinsam gehen". Kritik an den Ampel-Plänen präsentiert Spahn nur dosiert, jedenfalls nicht in der Vehemenz wie Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus am Donnerstag im Bundestag. Die "Vielstimmigkeit der Vorschläge der vergangenen Wochen" hätten für Verwirrung gesorgt, "und sie haben dafür gesorgt, dass zu viele die Corona-Auflagen nicht mehr ernst nehmen".
"Es passiert jetzt nichts, was nicht prognostiziert wurde"
Als zwei Journalistinnen ihn darauf ansprechen, dass er selbst sich ja auch für ein Ende der pandemischen Lage ausgesprochen habe, holt Spahn aus. "Nun, wir sind uns völlig einig in der Union", sagt er, "dass es weiter Maßnahmen für die Bundesländer braucht". Entscheidend sei, dass die Länder den "Instrumentenkasten" hätten, den sie brauchen. Auch ein Lockdown gehöre dazu, "als Option, regional".
Dass es nicht klug sei, den Maßnahmenkatalog der Länder zu beschränken, darauf habe er schon am 15. Oktober in einem Schreiben an die Ampel-Parteien hingewiesen. Ein bisschen Selbstkritik übt er dann auch noch: Vielleicht hätte er "noch deutlicher darauf hinweisen" müssen, dass die Pandemie nicht vorbei ist. Aber dann zieht Spahn das wieder zurück: "Es passiert jetzt nichts, was nicht schon vorher in Prognosen oder in Aussagen von uns allen gewesen ist." Auf eine Frage nach der schlechten Situation für die Pflegekräfte gibt Spahn eine lange Antwort, mit der er seine Bilanz verteidigt. In Kürze lautet die Botschaft: Genug passiert ist nicht, aber wenigstens haben wir uns auf den Weg gemacht, und zwar schon vor der Pandemie.
"Ich beobachte, wie sehr die Pflegekräfte für ihre Arbeit brennen. Aber viele sind eben nach drei Pandemiewellen auch ausgebrannt und frustriert, sie geben ihre Jobs auf", hat Spahn gerade dem "Spiegel" in einem längeren Interview gesagt, heute wiederholt er diesen Satz. Ihm scheint es nur teilweise ähnlich zu gehen, auch er brennt weiterhin, aber ausgebrannt wirkt er nicht.
Als Spahn am Mittwoch in einer Sitzung der Unionsfraktion erklärte, er wolle nicht für den CDU-Vorsitz kandidieren, begründete er dies unter anderem mit seiner Arbeit als Bundesgesundheitsminister: Er wolle in keinen parteiinternen Wahlkampf eintreten, sondern sich vollständig auf die Bekämpfung der Pandemie konzentrieren. Da der Minister seinen Job aller Voraussicht nach in der zweiten Dezemberwoche los sein wird, war über diese Bemerkung auch unter Parteifreunden gelächelt worden. Ihm war es offenbar ernst.
Quelle: ntv.de
