Politik

Reisners Blick auf die Front "Der hybride Krieg Russlands gegen den Westen spitzt sich zu"

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Erst brennt ein Produktionsstandort der Rüstungsfirma Diehl, dann wird bekannt, dass ein Mordkomplott gegen Rheinmetall-Chef Papperger geplant war. Oberst Markus Reisner erklärt die Dimensionen der hybriden Kriegsführung, und warum die Ukrainer ihre US-Waffen noch immer nicht so einsetzen können, wie sie möchten.

ntv.de: Herr Reisner, entlang der gesamten Front greifen die russischen Truppen intensiv an. Aber bei der kleinen Ortschaft Nju-Jork, nördlich von Donezk, scheint die Lage besonders dramatisch. Was ist dort passiert?

Markus Reisner: Die Russen gehen hier ähnlich vor, wie wir das schon in Awdijiwka und bei Soledar in der Nähe von Bachmut gesehen haben. Sie sind durch eine unterirdische Rohrleitung, also einen Tunnel vorgestoßen bis tief hinter die ukrainischen Stellungen. Dann haben sie diese im Rücken angegriffen und den Raum in Besitz genommen.

Und das war eine Rohrleitung, durch die man in Truppengröße hindurch passt?

Die Bergbaugebiete des Donbass sind durchzogen von unterirdischen Stollen, Betonrohrleitungen und unter der Erde verlaufenden Kanälen und Schächten. Diese Anlagen sind gut für ein unbeobachtetes und verdecktes Vorgehen nutzbar. Diese Taktik erinnert an das Vorgehen osmanischer Mineure im 17. Jahrhundert oder an das Werk von Pionierkräften im 1. Weltkrieg. Hier lieferte man sich bei Belagerungen und an den erstarrten Fronten einen Kampf unter Tage. Man versuchte, überraschend hinter den gegnerischen Stellungen aufzutauchen.

Welche Folgen drohen jetzt?

Es könnte den Russen gelingen, die gut ausgebauten ukrainischen Verteidigungsstellungen weiträumig zu umfassen. Wenn somit eine Einkesselung droht, müsste die ukrainische Armee möglicherweise ihre Stellungen dort aufgeben, und die Russen könnten dann noch mehr Raum erobern. Was wir auch sehen: Die Russen greifen zusätzlich laufend aus der Luft mit schweren Gleitbomben an. Eine einzige derartige Bombe kann einen ganzen Stützpunkt auslöschen. Die Ukrainer stehen im dreifachen Abwehrkampf. Unter der Erde, an der Oberfläche und in der Luft.

Der ukrainische General Kyrylo Budanow hat noch einmal erwähnt, dass man mit einem weiteren russischen Angriff aus dem Norden rechnen muss. Sehen Sie auch Anzeichen dafür?

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)

Ja, die Russen könnten zwischen Sumy und Charkiw angreifen. Das würde die Ukrainer zwingen, dort noch einmal zusätzliche Kräfte abzustellen. Die Front wäre noch stärker überdehnt. Die Anzeichen, die ich dafür erkenne: Wir sehen immer wieder kleinere russische Aufklärungstrupps auf das ukrainische Territorium übertreten. Das kann eine Vorphase sein, in der die Russen für eine mögliche größere Offensive aufklären. Noch etwas ist interessant: In den vergangenen zwei Wochen haben die Russen ihre Aufklärung tief hinter der Front verstärkt. Sie melden immer wieder die Zerstörung von ukrainischer Fliegerabwehr mittlerer Reichweite, zum Beispiel Iris-T …

… Das Luftverteidigungs-System von Diehl Defence, das Deutschland der Ukraine schon recht früh geliefert hat.

Es gibt zu diesen Meldungen auch Videos, aber auf denen ist nicht klar erkennbar, ob es auch wirklich Iris-T-Systeme sind oder nur Attrappen. Dasselbe gilt für angeblich erkannte und zerstörte HIMARS-Systeme. Hierzu haben die Russen in den vergangenen Tagen sieben Videos in sozialen Netzwerken gepostet, die angeblich Zerstörungen von HIMARS zeigen. Aber auch hier könnte es sich um Attrappen handeln.

Welche Rolle spielen Attrappen im Verhältnis der beiden Gegner zueinander?

Spanische Ermittler suchen nach Spuren in der Tiefgarage, in der der russische Überläufer Kuzminow erschossen wurde.

Spanische Ermittler suchen nach Spuren in der Tiefgarage, in der der russische Überläufer Kuzminow erschossen wurde.

(Foto: via REUTERS)

Mit einer Attrappe soll der Gegner dazu verleitet werden, wichtige und potente Waffen zur Zerstörung einzusetzen. Nehmen wir zum Beispiel eine Iskander-Rakete. Die Russen produzieren dieses wertvolle Raketensystem in einer gewissen Stückzahl pro Monat. Es ist ein Erfolg für die Ukraine, wenn die russische Seite eine Iskander für den Angriff auf eine Attrappe verschwendet. Dennoch versuchen die Russen, solch einen Angriff mit Drohnen zu filmen, um zu zeigen, wie erfolgreich sie gegnerische Systeme zerstören. Aus meiner Sicht gibt es aber nur sehr wenige Videos, die tatsächlich die Zerstörung potenter ukrainischer Waffensysteme zeigen. Als vor einigen Monaten zwei Werfer einer Patriotbatterie getroffen wurden, gab es detaillierte Ergebnisse, die man analysieren konnte. Das ist bei den aktuellen Videos nicht der Fall. Von Iris-T sind vier Systeme in der Ukraine im Einsatz. Soweit bekannt, ist bislang keines davon zerstört worden.

Wenn wir einmal auf das jüngste US-amerikanische Waffenpaket blicken, das die Republikaner im Kongress so lange blockiert haben: Wie groß ist dessen Wirkkraft nun an der Front? Ist dieser amerikanische Anteil der Hilfe tatsächlich so entscheidend?

Ich möchte diese Lieferungen gern in offensive und defensive Waffensysteme unterteilen. Bei den offensiven Waffensystemen sehen wir tatsächlich zumindest in einer Region eine messbare Wirkung. Der Einsatz von zum Beispiel ATACMS oder HIMARS-Raketen auf der russischen Seite, nördlich von Charkiw, hat merklich dazu geführt, dass die Offensive der russischen Truppen Schwung verloren hat. Zum Teil sogar zum Versiegen gekommen ist. Auf operativer Ebene ist sie für die Russen dennoch als Erfolg zu werten, weil es ihnen gelingt, ukrainische Streitkräfte zu binden. Im Donbass hingegen sehen wir keinen Effekt, dort ist das Momentum nach wie vor auf russischer Seite. Und nach wie vor sind die offensiven US-Waffen in ihrer Wirkkraft eingeschränkt, weil das Weiße Haus verbietet, sie auf russischem Gebiet in der Tiefe, also mit über 100 Kilometern Distanz, einzusetzen.

War das auf dem NATO-Gipfel ein Thema? Da waren schließlich alle zusammen, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, US-Präsident Joe Biden, jede Menge Sicherheitsberater …?

Selenskyj hat auf dem Gipfel mit Biden darüber gesprochen und darum gebeten, dass die Restriktionen beim Einsatz amerikanischer Systeme aufgehoben werden. Sie konnten sich aber nicht einigen, und das dürfte auf der ukrainischen Seite für große Frustration gesorgt haben. Bei den defensiven Waffen hat sich mehr bewegt.

Inwiefern?

Durch die schweren strategischen Luftangriffe, die Russland in etwa alle 14 Tage gegen die Ukraine startet, ist der Druck mittlerweile unerträglich groß geworden. Dazu kommen so furchtbare Attacken wie jene aus der vergangenen Woche gegen die Kinderklinik in Kiew. Darum hat sich die NATO dazu durchgerungen, weitere Systeme mittlerer und hoher Reichweite zu liefern wie Iris-T und Patriotbatterien. Aber es reicht noch immer nicht aus, um das Gebiet der Ukraine komplett zu schützen, es sind noch immer deutlich zu wenig Flugabwehrwaffen. Dadurch gelingt es den Russen nach wie vor, kritische Infrastruktur zu treffen, weil sie ihre Angriffe einfach auf einem sehr hohen Niveau ausführen. Und es scheint, dass es immer zu einer Krise kommen muss, um den Westen zu weiteren Lieferungen zu bewegen.

Wenn wir das mal mit gesundem Menschenverstand betrachten: Statt mit Defensivwaffen jede einzelne russische Rakete abzuwehren oder es zumindest zu versuchen, wäre es nicht sinnvoller, die Offensiv-Waffen einzusetzen? Zum Beispiel gegen einen Flugplatz, von dem aus russische Kampfjets aufsteigen und dann Marschflugkörper abschießen oder Gleitbomben abwerfen?

So ist es. Selenskyj hat in Washington auf den Angriff gegen das Kinderkrankenhaus verwiesen und die Erlaubnis gefordert, dass hier offensive Maßnahmen mit einem defensiven Ziel durchgeführt werden dürfen. Damit man mit Raketen die Absprungplätze attackieren kann und verhindert, dass die Jagdbomber aufsteigen können. Aber das blieb ohne Ergebnis. Derzeit ist es der ukrainischen Armee nur erlaubt, russische Ansammlungen bis zu 100 Kilometer hinter der Front anzugreifen. Für Angriffe auf Flugbasen setzt sie weitreichende Drohnen ein. Hier sehen wir aber noch keine messbaren Ergebnisse, also etwa einen merklichen Rückgang der russischen Bombardierungen.

Parallel zum NATO-Gipfel wurde die Nachricht öffentlich, dass ein Mordanschlag auf Rheinmetall-Chef Armin Papperger vereitelt wurde. Welche Bedeutung hat hybride Kriegsführung im Konflikt Russlands mit dem Westen mittlerweile?

Russland ist in den letzten Jahren immer wieder auf NATO-Gebiet aktiv geworden. Bereits vor und nach 2014 hat man gezielt versucht, Munitionsdepots in Bulgarien und Tschechien in die Luft zu sprengen, was teilweise gelungen ist. Es gab 2011 einen Angriff bei Lovnidol in Bulgarien, sowie 2014 zwei Angriffe des GRU bei Vrbětice in der Tschechischen Republik. 2023 soll es bei Karnobat in Bulgarien zu einem weiteren Anschlagversuch gekommen sein. Auch das Attentat auf den Ex-Agenten Sergej Skripal mit dem Kampfstoff Nowitschok vor sechs Jahren war hybride Kriegsführung, ebenso der Tiergartenmord 2019 in Berlin. Über die vergangenen knapp 100 Tage hat sich der hybride Krieg Russlands gegen den Westen noch einmal zugespitzt. Der geheime Mordkomplott gegen einen Vertreter der deutschen Rüstungsindustrie zeigt aus meiner Sicht, wie angespannt die Situation ist.

Gibt es weitere aktuelle Beispiele?

Im Februar ist ein russischer Hubschrauberpilot desertiert, der im Ukraine-Krieg im Einsatz war. Er lief über zur Ukraine, von dort aus hat man ihn in den Westen gebracht und er landete schließlich in Spanien. Dort wurde er mutmaßlich von einem russischen Agententeam ermordet.

Nutzt der Kreml für solche Aktionen alte Verbindungen, die er noch in den Westen hat?

Während des Kalten Krieges hat gerade die Sowjetunion ein umfangreiches Netzwerk an Zuträgern, Spionen und gezielt arbeitenden Geheimdienstlern aufgebaut. Durch den Zerfall der Sowjetunion wurde dieses Netz aber nicht zerstört, sondern viele wurden von Russland aus weitergeführt und der Kreml versuchte, die Strukturen weiter auszubauen. Bis heute werden etwa in westlichen Verteidigungsministerien immer mal wieder Spione enttarnt. Zusätzlich versuchen die Russen, vor allem mit Desinformation einen Keil in die Gesellschaft zu treiben. Aber sie verfolgen auch konkrete Ziele mit Blick auf Anschläge gegen Rüstungsbetriebe, die wichtige Güter für die Ukraine produzieren. Das mutmaßliche Mordkomplott gegen Armin Papperger ist hier also nur das jüngste von vielen Beispielen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir uns mit Russland bereits in einem hybriden Krieg befinden. Ein Krieg der verdeckten Anschläge, der Desinformationskampagnen und der Spionage.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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