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Klingbeil fordert neue Gesichter Schockierte SPD fürchtet nach Wahldebakel weitere Desaster

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Olaf Scholz geht, die Willy-Brandt-Statue bleibt.

Olaf Scholz geht, die Willy-Brandt-Statue bleibt.

(Foto: picture alliance/dpa)

Es ist der bitterste Abend der Sozialdemokratie seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Im Willy-Brandt-Haus trifft die SPD das Wahlergebnis wie ein Blitz. Nun steht ein großer Umbruch an, doch wer den anführen darf, ist offen. Einer ist aber schonmal raus.

Ewige Stille im Foyer des Willy-Brandt-Hauses. Minute um Minute vergeht, nachdem die Prognose des Wahlergebnisses über die Bildschirme gelaufen ist. Das Ergebnis der SPD wird schweigend aufgenommen, entsetztes Aufstöhnen ist bei den Zahlen von FDP und BSW zu vernehmen. Dann wieder lange Ruhe, trotz hunderter Menschen, die sich unter der überlebensgroßen Statue von Parteiikone Willy Brandt versammelt haben. Alle an diesem Abend erschienenen Sozialdemokraten wussten, was ihrer Partei blüht. Doch das mit Abstand schlechteste Wahlergebnis in der langen Geschichte der Sozialdemokratie liest sich schwarz auf weiß dann noch einmal ganz anders als sämtliche Umfragewerte. Rund 16 Prozent sind ein Schock. Die Menschen haben ein vernichtendes Urteil über drei Jahre SPD-Regierungszeit gefällt.

Von einem "miesen Abend" spricht SPD-Chef Lars Klingbeil eineinhalb Stunden später, als sich der erste Schock allmählich gelegt hat. Zusammen mit Co-Chefin Saskia Esken, Bundeskanzler Olaf Scholz und dessen Gattin Britta Ernst betritt Klingbeil die Bühne des Foyers. Die Vorsitzenden der anderen Parteien haben da schon längst gesprochen, doch die SPD-Spitze hat sich Zeit genommen, die gemeinsame Reaktion abzustimmen. Die Ministerpräsidenten der SPD, die Bundesminister, Fraktionschef Rolf Mützenich und alle anderen, die in der Partei etwas zu sagen haben, stehen vor der Bühne Spalier. So hatten sie es schon vorher verabredet: demonstrative Geschlossenheit.

Bei den Mitarbeitern der Partei hat sich da schon Galgenhumor breitgemacht. "Immerhin deutlich vor den Grünen", wispert eine Frau. Ein Mann wettert über die "Scheiß FDP". Eine Koalition mit der Union ist für die Anwesenden schon schlimm genug. Eine Deutschlandkoalition, also eine Regierung mit Union und Freidemokraten, wäre ihnen ein Albtraum. Entsprechend lauter Jubel, als die 20-Uhr-Hochrechnung FDP und BSW unter der 5-Prozent-Hürde sieht. Die Parteiprominenz wahrt Gesicht und Haltung. Ihren engen Mitarbeitern ist die tiefe Betroffenheit anzusehen. Es hilft auch nichts, dass noch düstere Prognosen von 14 Prozent und weniger für die SPD nicht eingetreten sind.

Klingbeil spricht von "Zäsur"

"Das ist ein bitteres Wahlergebnis für die sozialdemokratische Partei", beginnt Scholz seine Rede. Unumwunden räumt er die "Niederlage" ein und gratuliert CDU und CSU. Scholz schafft es auch in diesem tragischen Moment, an seine eigenen Leistungen zu erinnern. Er habe 2021 die Verantwortung für den Wahlsieg übernommen, sagt Scholz, "deshalb habe ich auch die Verantwortung für dieses Ergebnis". In der ihm eigenen Distanziertheit zu Emotionen sagt der abgewählte Kanzler, es "berührt" ihn, "dass wir heute so da stehen". In Zahlen: Rund 16 Prozent, ein Einbruch um rund 9 Prozentpunkte und eine - auch wegen des neuen Wahlrechts - beinahe halbierte Bundestagsfraktion. Für die Partei, deren Stolz auf die eigene Historie gar nicht überschätzt werden kann, ist dieser Tag der niederschmetterndste seit Bestehen der Bundesrepublik.

Parteichef Klingbeil ist da schon klarer: "Dieses Ergebnis ist eine Zäsur", sagt Klingbeil. Er kündigt "Umbrüche" in der Partei an. "Der Generationenwechsel in der SPD muss eingeleitet werden." Auch programmatisch müsse sich die SPD neu aufstellen. Es klingt nicht danach, als ob Klingbeil selbst Platz machen wolle für andere. Es klingt nach einem Führungsanspruch des Vorsitzenden, bei der Neuaufstellung der SPD voranzugehen. Scholz hat da bereits klargemacht, es sei "an anderen, einen Weg zu suchen, wie eine Regierung gebildet werden kann".

Angst vor dem großen Knall

Wen also meint Klingbeil mit dem "Generationenwechsel"? Der bisherige Fraktionschef Rolf Mützenich schaut denkbar zerknirscht, während Scholz und die Parteivorsitzenden sprechen. Er hat die Namen und Gesichter all der Männer und Frauen vor Augen, die nun nicht mehr dem Bundestag angehören werden. Aber klar ist, er könnte gemeint sein mit dem Personaltausch. Spät am Abend kündigt Mützenich dann seinen Rückzug vom Fraktionsvorsitz an. Er wird Platz machen für Lars Klingbeil.

Auch Boris Pistorius ist mit 64 Jahren kein frisches Gesicht seiner Partei, dafür aber der mit Abstand beliebteste Politiker im Land. Wie sich Klingbeil und Pistorius künftig miteinander arrangieren, ist offen. Es soll einen Waffenstillstandspakt geben bis zur Hamburger Bürgerschaftswahl am 2. März, wo Sozialdemokrat Peter Tschentscher gute Aussichten auf eine Wiederwahl zum Ersten Bürgermeister hat. Danach könnte es laut vernehmbar knallen.

Das ist die eine große Angst nach diesem Wahlergebnis: dass sich die SPD zerlegen könnte. Scholz appelliert, die SPD müsse "eine geschlossene Partei bleiben". Auch Esken und Klingbeil fordern Geschlossenheit von ihren Genossen. Esken räumt dabei ein, die SPD habe "auch Fehler gemacht". Esken sagt, die SPD hätte sich etwa nicht in die von der FDP vorgegebene Haushaltssparpolitik fügen dürfen. Für diesen Fehler, wenn es denn einer war, stehen aber Scholz und Klingbeil. Der hielt Scholz die Stange, als andere in der Partei im November laut den Kandidatentausch gegen Pistorius forderten.

Scholz sei "ein Kanzlerkandidat, der die Partei mitgezogen hat", behauptet Klingbeil. Diese Analyse hat er an diesem Abend weitgehend exklusiv, auch innerhalb der Parteizentrale. Das historisch schlechte Ergebnis nimmt auch Klingbeil mit nach Hause. Dass er den Umbruch in der SPD wird gestalten dürfen, ist daher längst nicht ausgemacht. Zumal es auch noch einflussreiche Frauen in der SPD gibt, die Männer das nicht unter sich ausmachen lassen wollen. Da wären die Ministerpräsidentinnen Manuela Schwesig und Anke Rehlinger. Auch die bisherige Bundestagspräsidentin Bärbel Bas wird für künftige Ämter gehandelt.

Weiterregieren ohne Enthusiasmus

Die zweite große Angst betrifft das kommende Regieren. Angesichts des Aufstiegs der AfD und der mannigfaltigen Krisen in Europa und darüber hinaus, sagt Esken, die "Welt braucht umso mehr geschlossene Sozialdemokraten". Wahrscheinlich auch weiter in der Bundesregierung: Ohne SPD ist praktisch keine Mehrheit möglich für den Wahlsieger Friedrich Merz und seine Union. Reicht es für ein Bündnis nur aus Union und SPD, ist das schlimm genug für die Sozialdemokraten: Ihnen droht eine Leidenszeit als Mehrheitsbeschaffer für CDU und CSU, während ihr eine wiedererstarkte Linke und ungebrochen selbstbewusste Grüne aus der Opposition heraus im Nacken sitzen werden.

Noch tragischer wäre es nur, wenn es für eine solche Koalition nicht reicht, weil BSW, FDP oder beide doch noch in den Bundestag kommen. Dann muss sich die SPD an der Lösung der denkbar größten Regierungskrise beteiligen, die noch über das Chaos und das Machtvakuum der vergangenen Monate hinausgeht. Und das, während der eigene Laden neu aufgestellt werden muss. Es dürfte den Sozialdemokraten in den kommenden Wochen helfen, dass sie aus ihrer Geschichte so viel Selbstvertrauen schöpfen. Ein anderer Quell für Zuversicht ist an diesem Abend nicht auszumachen.

Der einzige der SPD-Verantwortlichen für das Wahldebakel, der sich über den Frühling hinaus nicht sorgen muss, ist Olaf Scholz. Er habe sich um das Amt des Bundeskanzlers beworben, "um kein anderes in der Regierung", sagt Scholz am Abend in der ARD. Er wird sein Amt geschäftsführend ausüben, bis voraussichtlich Friedrich Merz übernimmt. Danach wird Scholz als einfacher Abgeordneter seines Potsdamer Wahlkreises im Bundestag verbleiben. "Du hast gekämpft wie ein Löwe", gibt Esken Scholz mit. Als der als letzter das Podium verlässt, wird es doch einmal richtig laut im Willy-Brandt-Haus. Es gibt Jubel für Scholz. Der Appell nach Geschlossenheit scheint angekommen, zumindest für diesen Moment.

Quelle: ntv.de

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