
Angela Merkel besuchte an ihrem ersten Arbeitstag nach dem Sommerurlaub Stralsund.
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An ihrem ersten Arbeitstag nach dem Sommerurlaub stellt sich Kanzlerin Merkel den Fragen von Bürgern ihres Wahlkreises. Diese interessieren nicht nur die ganz großen Themen wie Migration und Klima, sondern auch die private Seite der Berufspolitikerin. Ein Spagat zwischen Ernst und Heiterkeit.
Dass Angela Merkel auch in ihrer politischen Heimat mitunter ein rauer Wind entgegenweht, ist für die Kanzlerin keine Neuigkeit. Seit 1990 sitzt sie ununterbrochen für den Wahlkreis Vorpommern-Rügen und Vorpommern-Greifswald als Abgeordnete im Bundestag. Seitdem hört sich die CDU-Politikerin die Sorgen und Nöte der Menschen an und muss sich gleichzeitig im politischen Berlin mit Themen beschäftigen, die für den gemeinen Mecklenburger oder Vorpommer weit weg erscheinen. Doch ist es vor allem eine Problematik, die sie seit 2015 verfolgt und zuweilen auch im Hier und Jetzt einholt: die Zuwanderung von Flüchtlingen.
Es ist kurz nach 16 Uhr in Stralsund. Angela Merkel sitzt auf Einladung der "Ostsee-Zeitung" auf einem Podium und stellt sich den Fragen von Bürgerinnen und Bürgern. Es ist ihr erster Arbeitstag nach dem Sommerurlaub.
Eine der ersten Wortmeldungen kommt von Thomas Naulin, einem Rügener Kreistagsabgeordneten der AfD. Er wirft der Kanzlerin vor, sie habe Deutschland im Namen der Toleranz in eine Diktatur geführt. Bei der aktuellen "Propaganda-Presse" würde die DDR vor Neid erblassen, sagt er weiter. Es gebe keine freie Meinungsäußerung, wenn man sich in Deutschland zur AfD oder dem Patriotismus bekenne. "Fühlen Sie sich persönlich verantwortlich für die Spaltung des Landes?", fragt der Mann.
Die Kanzlerin bleibt ruhig. Sie sagt einfach: Er sitze hier in Reihe eins und sei mit seiner Frage nicht gefährdet. Selbstverständlich werde sie darauf antworten. Es gebe nun einmal unterschiedliche Meinungen, wer das Volk vertrete und was Patriotismus bedeute. Im Bundestag hätten überdies AfD-Abgeordnete keine Hemmung, "anderen wie auch mir ihre Meinung zu sagen". Aus dem Publikum sind Lacher zu vernehmen.
Merkel belässt es dabei nicht. Sie gesteht erneut Fehler ein. Man hätte früher auf die Millionen Flüchtlinge aus Syrien schauen müssen. Doch die individuelle Notsituation derjenigen, die Europa bereits erreicht hatten, hätte eben eine Lösung verlangt. Gerichte wie der EuGH hätten fast alle diesbezüglich kritischen Fragen verhandelt und entschieden, dass alles rechtmäßig ablief. Demokratie beruhe auf der Unabhängigkeit der Gerichte.
"Seenotrettung ist ein Gebot der Menschlichkeit"
Gleiches Thema, andere Frage: 58 Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer gehört nun das Mittelmeer zu einer der gefährlichsten Grenzen Europas. Warum müssen so viele Menschen dort ertrinken, will ein junger Mann, der sich bei der Deutschen Lebensrettungs-Gesellschaft (DLRG) engagiert, wissen. "Seenotrettung ist ein Gebot der Menschlichkeit", sagt Merkel. Ziel müsse es sein, mit Ländern in Afrika zu sprechen und zu klären, welche Menschen am bedürftigsten seien und Schutz bräuchten. Diesen müsse geholfen werden.
Staaten wie Libyen sollten dabei unterstützt werden, Flüchtlinge aus dem Meer zu retten und sie zu registrieren, sodass diesen entweder vor Ort geholfen wird oder sie zurück in ihre Herkunftsländer gebracht werden. Das sei alles sehr kompliziert und nicht zufriedenstellend im Moment, gibt die CDU-Politikerin zu bedenken. Deutschland könne das nicht allein lösen, sondern sei auf die Zusammenarbeit in Europa und mit Drittstaaten angewiesen.
Das sind altbekannte Erklärungen. Doch Merkel wird nicht müde, geduldig den Zuhörern ihre Politik und Sicht auf die Dinge zu schildern. Etwa, wenn sie einem Schüler den Unterschied zwischen CO2-Steuer und Zertifikaten erklärt. Letztere könnten viel besser bewerkstelligen, dass ein konkretes Einsparungsziel erreicht wird, weil sie nur begrenzt ausgegeben werden.
Merkel zollt Thunberg Respekt
In ihrem Wahlkreis, der von der Ostsee umgeben ist und in dem es so viele Wiesen, Wälder und Felder gibt, bewegt das Thema Klima viele Menschen. Diesen Eindruck vermittelt das Stralsunder Leserforum. Die Erderwärmung bereite ihr Sorgen, gesteht Merkel. Abkommen wie das Kyoto-Protokoll, das zu Zeiten entstand, als sie Umweltministerin war, hätten sich als Sackgasse erwiesen, weil Staaten wie die USA es gar nicht erst ratifizierten.
Es komme nun auf zwei Dinge an. Erstens müsse Deutschland als Vorbild agieren. "Wenn schon wir uns nicht vernünftig verhalten, wie sollen wir das von anderen Ländern mit einem geringeren Lebensstandard verlangen?", fragt die Kanzlerin. Das bedeute nicht immer gleich Verbote. Die Menschen sollten sich überlegen, "wie sie ihr gesamtes Leben in einem Kreislauf denken können". Waldbesitzer etwa hätten gelernt, über ihr eigenes Leben hinaus zu denken. Es liege im menschlichen Wesen, dass auch an die Nachkommen gedacht werde. "Wir dürfen nicht mehr aus der Erde herauszerren, als wir regenerieren können." Technologie werde dabei helfen, dass das Leben dann nicht unbedingt trister, sondern anders wird.
Zweitens müsse international darüber nachgedacht werden, wie andere etwa durch die Entwicklungspolitik in die Lage versetzt werden könnten, etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen. Die 16-jährige schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg ist für die Kanzlerin in diesem Kontext ein "außergewöhnliches Mädchen", das viel ins Rollen gebracht habe. "Ich nehme sie sehr ernst." Ein Reporter hakt nach: "Hat Sie mehr für das Klima geleistet als Sie?" Merkel weicht aus. Thunberg sei es gelungen, Menschen aufzuwühlen und die Zivilgesellschaft in Bewegung zu bringen, wie es andere allein nicht geschafft hätten.
Küstenfischer haben eine Ecke im Herzen
Merkel kümmert sich. Als eine Frau aus dem ambulanten Pflegedienst die massiven Probleme der Branche anspricht, hört die Kanzlerin geduldig zu, stellt Nachfragen. Und sie sagt: "Ich nehme es auf und werde versuchen, es morgen Früh schon einzuspeisen." Andere Themen wie die deutsche Konjunktur (Merkel hält es wie Ludwig Erhard: "Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psychologie") oder Minen in der Ostsee managt die Regierungschefin mit einer Mischung aus Fachwissen und ihrer typischen Abgeklärtheit.
Die Bodenhaftung hat sie trotzdem nicht verloren. Diesen Eindruck versucht sie jedenfalls zu erwecken. Zurückblickend sei ihr nicht alles gelungen. Das gibt sie freimütig zu, etwa im Hinblick auf die Küstenfischer. Eine Zuhörerin spricht Merkel auf ein Foto an, das im Herbst 1990 auf Rügen entstand und die Politikerin zusammen mit Fischern zeigt. "Das hatte schon einen leicht romantischen Zug wegen der Morgenstimmung", erinnert sich Merkel an die Aufnahme. Es müsse nach dem Mauerfall gewesen sein, weil viele "Westflaschen" herumstanden.
Sie habe mit den Fischern über die Jahre Kontakt gehalten und kenne deren Nöte. Etwa die komplizierten europäischen Anträge, die zusätzlichen Vermarktungsketten, die gefunden werden mussten, um wirtschaftlich überleben zu können. Der Kormoran. Das gesamte Kapitel stimme sie durchaus traurig, weil sie nicht alles so machen konnte, wie sie es gewollt hatte. "Ich versuche trotzdem, mir eine kleine Ecke in meinem Herzen für die Fischer zu erhalten."
Bei den Kröten kommt Heiterkeit auf

Merkel hat einen Patenpinguin namens "Alexandra" im Ozeaneum Stralsund.
(Foto: picture alliance/dpa)
Sie freue sich, immer wieder in diese schöne Gegend zurückzukommen, ihr "politisches Zuhause". Wo die Menschen beständig arbeiteten und nicht gleich alles ausplauderten. Dass ihr dieses Vertraute besonders wichtig ist, macht die 65-Jährige klar als sie auf Privates angesprochen wird - den Tod ihrer Mutter und die mehrfachen Zitteranfälle.
Als Person im öffentlichen Raum würden andere Maßstäbe an sie angelegt. Sie verstehe, dass es daher auch Interesse an privaten Dingen gebe oder sich die Menschen Sorgen um sie machten. "Ich habe mein ganzes politisches Leben versucht, mir private Räume zu schaffen", sagt sie. Denn nur, wenn sie auch einen Raum für Traurigkeit fernab der Öffentlichkeit habe, könne sie andersherum Fröhlichkeit öffentlich zeigen.
Merkel liefert sogleich eine Kostprobe, als sie von einer Mutter im Auftrag ihres Sohnes gefragt wird, was ihr Lieblingstier sei. "Ich mag Tiere aller Art." Sie möge es, Hasen, Rehe und Kraniche in freier Landschaft zu beobachten. Ihre Zuneigung für Erdkröten sei ja schon hinlänglich bekannt, ergänzt sie. Sie verstehe gar nicht, warum das manche amüsant fänden. Heiterkeit im Publikum.
Seit 30 Jahren ist Merkel schon in der Politik. Das könne man nicht mehr als "Schnupperkurs" bezeichnen, sagt sie selbst. Was einmal danach kommt, darüber habe sie sich noch keine Gedanken gemacht ("keine Zeit"). Fest stehe nur, dass sie kein aktives politisches Amt mehr ausfüllen wolle. "Alles hat seine Zeit." Die letzte Frage, was Stralsunder Schüler in 50 Jahren über sie in Lehrbüchern lesen sollten, beantwortet die Kanzlerin dann eher norddeutsch bescheiden. "Ach … sie hat sich bemüht."
Quelle: ntv.de