"Tusk, du Mörder!" Smolensk darf kein Unfall sein
10.04.2016, 17:04 Uhr
Das Wrack der Tupolew TU-154 in Smolensk: 96 Menschen kamen bei dem Absturz ums Leben.
(Foto: dpa)
Am 10. April 2010 stürzt das Flugzeug des damaligen polnischen Präsidenten Lech Kaczynski über dem russischen Smolensk ab - laut Untersuchungsbericht ein Unglück. Doch nicht für seinen Bruder: Er sieht einen anderen Grund für den Absturz.
Auch sechs Jahre nach dem Tod des polnischen Präsidenten Lech Kaczynski bei einem Flugzeug-Absturz über dem russischen Smolensk spaltet die Katastrophe das Land. Am 10. April 2010, als die Tupolew TU-154 beim Landeanflug im Nebel verunglückte, verlor Polen den Führungsstab seiner Armee, fast das gesamte Parlamentspräsidium, Abgeordnete und Minister. Die Trauer einte die Polen über Parteigrenzen hinweg. Doch das ist lange her.

Jaroslaw Kaczynski im Dezember 2015 bei einem Trauergottesdienst für seinen toten Bruder und die anderen Opfer des Absturzes.
(Foto: imago/ZUMA Press)
Längst ist der Blick auf das Unglück mit 96 Toten zum Politikum geworden. Seitdem in Polen die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) regiert, ist Smolensk wieder in die Tagespolitik gerückt. Für PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski war der Flugzeugabsturz auch eine ganz persönliche Tragödie: Der tote Präsident war sein Zwillingsbruder, sein engster Mitarbeiter und vielleicht der einzige Mensch in der polnischen Politik, dem Jaroslaw Kaczynski wirklich vertraute.
Dass der Tod der 96 Menschen im Untersuchungsbericht des damaligen Innenministers Jerzy Miller als Unfall erklärt wurde, der durch menschliches Versagen und technische Mängel verursacht wurde, kann und will Kaczynski bis heute nicht akzeptieren. "Es war ein terroristischer Akt", erklärte auch der derzeitige Verteidigungsminister Antoni Macierewicz vor wenigen Wochen. Macierewicz hatte jahrelang in Konkurrenz zu den offiziellen Ermittlungen eigene Untersuchungen vorangetrieben und regelmäßig Ergebnisse präsentiert, die seine Anschlagstheorie untermauern sollten. So behauptete er, es habe vor dem Absturz mehrere Explosionen an Bord des Flugzeugs gegeben. Bei der Untersuchung der Black Box konnte das nicht bestätigt werden.
Neue Ermittlungen zu Katastrophe
Smolensk darf offenbar kein Unfall sein. Die Ursache der Katastrophe müsse endlich erhellt werden, betonte Regierungschefin Beata Szydlo gleich in den ersten Wochen im Amt. Im Februar wurde eine neue Untersuchungskommission zusammengestellt. Sie soll Vorgänge aufklären, die laut Macierewicz bisher nicht untersucht wurden und den Versuchen ein Ende setzen, den "Zugang zur Wahrheit zu verhindern." "Endlich tut der polnische Staat seine Pflicht", sagte Ewa Blasik, Witwe des Luftwaffenchefs Andrzej Blasik. Die bisherigen Ermittler hatten seine Stimme bei den Aufnahmen der Black Box identifiziert.
Doch die PiS-Anhänger lehnen die Vermutung strikt ab, wonach Blasik unmittelbar vor dem Absturz im Cockpit gewesen ist und die Piloten nicht wagten, angesichts schlechter Wetterbedingungen entgegen besseren Wissens auf einen anderen Flughafen auszuweichen. Neue Juristen sind bereits mit den staatsanwaltlichen Ermittlungen betraut worden. Die bisherigen Ermittler wurden zum Teil in entlegene Behörden versetzt. Medienberichten zufolge wurden die Experten, die Blasiks Stimme im Cockpit identifiziert hatten, unter Druck gesetzt.
Schwere Vorwürfe gegen Donald Tusk
Auch rechtliche Konsequenzen gibt es bereits: Seit Ende März müssen sich mehrere Mitarbeiter der Staatskanzlei vom damaligen Regierungschef Donald Tusk in Warschau vor Gericht verantworten. In dem Zivilverfahren auf Antrag mehrerer Opferfamilien werden ihnen Versäumnisse bei der Vorbereitung des Flugs vorgeworfen. Doch sie sind letztlich nur die Stellvertreter-Sündenböcke: Bei den regelmäßigen Smolensk-Gedenkdemonstrationen sind immer wieder Rufe wie "Tusk, du Mörder" zu hören oder "Stellt Tusk vor Gericht." Am Jahrestag selbst versammeln sich einmal mehr diejenigen vor dem Warschauer Präsidentenpalast, die meinen, die Katastrophe sei noch immer nicht aufgeklärt.
Das regierungsnahe Wochenmagazin "wSieci" widmete dem Thema Smolensk in dieser Woche eine Sonderausgabe mit 132 Seiten - voll mit der Trauer der Angehörigen, Vorwürfen gegen Russland und die Regierung Tusk. Angesichts der Demonstrationen zehntausender Gegner der nationalkonservativen Regierung in den vergangenen Monaten soll der Tag des Gedenkens aber auch eine Geste der Unterstützung für die Warschauer Regierung sein.
Quelle: ntv.de, Von Eva Krafczyk, dpa