Reisners Blick auf die Front "Trump scheint dazu bereit, Russland Schmerzen zuzufügen"
13.10.2025, 18:13 Uhr Artikel anhören
Start einer Tomahawk von einem Schiff der US-Marine. (Archivbild)
(Foto: picture alliance / abaca)
Wird sich der US-Präsident Trump nach der vorläufigen Befriedung des Gaza-Konflikts stärker an der Seite der Ukraine engagieren? Oberst Markus Reisner sieht zumindest Anzeichen dafür - obwohl die Putin angedrohten US-Marschflugkörper nur begrenzt Sinn machen. Derweil gerät die Ukraine immer stärker unter Druck der russischen Luftangriffskampagne und muss am Boden sechs Städte vor der Einkesselung bewahren.
ntv: Die Freilassung der israelischen Geiseln durch die Hamas kündet vom vorläufigen Ende der heißen Kampfhandlungen in Gaza. Ist das Geschehen in Nahost auch von Bedeutung für die Ukraine?
Markus Reisner: Ja. Präsident Wolodymyr Selenskyj hat darauf hingewiesen, dass der Krieg in der Ukraine in derselben Art und Weise zu lösen sei, wie das in Gaza gelungen ist. Er sagt das vor dem Hintergrund des offenbar wieder reparierten Verhältnisses zu US-Präsident Donald Trump. Beide haben sich zuletzt telefonisch ausgetauscht und das wohl sehr freundlich.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.
(Foto: privat)
Die militärische Lage der Hamas und Russlands scheint kaum vergleichbar.
Korrekt, die beiden Konflikte sind nur zum Teil vergleichbar. Donald Trump hat ein Interesse an der Befriedung des Konflikts in Gaza gezeigt, weil Israel ein sehr enger Verbündeter ist. Für die Ukraine interessiert sich der US-Präsident nicht in gleichem Maße.
Umso überraschender erscheinen US-amerikanische Medienberichte, wonach die Regierung der Ukraine seit Juli wichtige Geheimdienstdaten zur Verfügung gestellt hat, um Angriffe auf die russische Infrastruktur tief im Inland zu ermöglichen.
Ohne diese wesentliche Unterstützungsleistung der USA, Aufklärungsdaten zur Verfügung zu stellen, hätte die Ukraine den Krieg schon zu Beginn verloren. Im Verlauf des Kriegs hat es immer wieder Berichte und anderweitige Informationen gegeben, die diese Unterstützungsleistung bestätigt haben. Ein Abbruch stand nach dem öffentlichen Streit zwischen Selenskyj und Trump im Weißen Haus zwar im Raum, ist aber nicht geschehen. Nachdem der Alaska-Gipfel mit Wladimir Putin keine Ergebnisse gebracht hat, will Trump den Druck auf Russland aufrechterhalten: Die bis jetzt messbar wirksamen Angriffe auf Russlands Erdöl-Infrastruktur wären ohne US-Unterstützung so nicht möglich gewesen.
Auf dem Flug nach Israel hat US-Präsident Trump seine Drohungen an Putin bekräftigt, der Ukraine Tomahawk-Marschflugkörper zur Verfügung zu stellen.
Das muss man abwarten. Die USA verfügen über Waffensysteme, die eine größere Reichweite haben und in größerer Stückzahl bereitstehen als Tomahawk-Marschflugkörper. Tomahawk werden grundsätzlich von US-Kreuzern und US-Unterseebooten abgefeuert, nicht von Land. Sie sind nur bedingt geeignet für die Ukraine. Doch schon die Ankündigung einer Lieferung kann der Ukraine helfen.
Wieso?
Die Ukraine steht unter massivem Druck. Russland hat wieder seine strategische Luftkampagne gegen die kritische Infrastruktur der Ukraine aufgenommen. Im Oktober waren nach offiziellen Angaben bis zu 60 Prozent der ukrainischen Gasversorgung unterbrochen. Russland hat alle Wasserkraftwerke von Kiew bis Saporischschja mit Raketen und Drohnen angegriffen. In Kiew wurden zwei große Wärmekraftwerke massiv getroffen. In der Nähe von Krywyj Rih wurde ebenfalls ein großes Wärmekraftwerk mit einem kombinierten Angriff getroffen. Die Ukraine muss diesen Druck an Russland zurückgeben. Da hilft Selenskyj der gute Draht zu Trump. Der US-Präsident hat ja auch in den vergangenen Tagen immer wieder darauf hingewiesen, dass Russland offensichtlich Schmerzen spüren muss, um an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Trump scheint dazu bereit, Russland Schmerzen zuzufügen.
Wie groß ist der Schmerz denn jetzt?
Der Druck auf Russland ist messbar: Um 25 Prozent soll die russische Erdölproduktion infolge ukrainischer Angriffe eingebrochen sein. Zu Versorgungsengpässen bei den russischen Streitkräften führt das bislang aber nicht.
Zumindest hat es zuletzt keine weiteren russischen Provokationen im Nato-Luftraum gegeben, mit denen Russland zuvor auf die erfolgreichen Angriffe im eigenen Hinterland reagiert hatte. Ist das ein Erfolg der geschlossenen Reaktion?
Ich denke, dass sich der russische Druck gerade verlagert: Am Wochenende wurden grüne Männchen - russische Uniformträger ohne Kennzeichnung - an der estnischen Grenze gesichtet. Schon die Präsenz dieser Soldaten, die dort zusätzlich Position bezogen haben, ist Teil einer hybriden Kriegsführung und soll Ängste auslösen. Wir werden sehen, was die nächsten Wochen bringen. Fakt ist: Der Krieg verschärft sich in seiner Austragungsart und weitet sich über die Ukraine hinaus aus.
Weil Russland den Konflikt an die Nato-Grenzen und in die Nato-Länder hineinträgt?
Einmal das, zum anderen sehen wir vermehrt direkt ins Kampfgeschehen involvierte Staaten: die USA, die über Einsatzplanung und Auswertung offenbar direkt an ukrainischen Angriffen tief im russischen Territorium beteiligt sind, genauso wie Nordkorea und China an der Seite Russlands. Nordkorea ist aus meiner Sicht Kriegspartei. China unterstützt Russland massiv. Denken Sie an Berichte, denen zufolge nach einem russischen Angriff auf Lwiw chinesische Satelliten über die westukrainische Stadt geflogen sind - offensichtlich um Aufklärungsdaten zu generieren und mit Russland zu teilen. In seinem vierten Jahr ist der Krieg umfassender geworden. Anstatt Entspannung sehen wir eine zunehmende Involvierung der Kriegsparteien auf beiden Seiten.
Schauen wir noch auf das Kriegsgeschehen im Osten der Ukraine. Die Kämpfe halten in hoher Intensität an. Kommt die Schlammperiode in diesem Jahr später?
Ja. Die Kulminationsphase der gescheiterten russischen Sommeroffensive verlängert sich wegen des anhaltend guten Wetters in der Ostukraine. Bis das Schlammwetter einsetzt, versucht sich Russland weiter an einem zumindest symbolischen Erfolg. Auch wenn Russland der operative Durchbruch auch in diesem Sommer nicht gelungen ist, hat sich Russland an einigen Stellen der Front in eine signifikant bessere Position gebracht.
An welchen Stellen der Front?
Sechs Städte sind massiv bedroht von der russischen Seite. Das sind von Norden beginnend Kupjansk, Lyman, Siwersk, Kostjantynivka, Pokrowsk und Nowopawliwka. So wie es aussieht, wird Pokrowsk über kurz oder lang fallen. Siwersk ist in einer sehr exponierten Position und wird möglicherweise auch fallen. Das gleiche gilt für Kupjansk. Russland hat es geschafft, sich in eine Position zu bringen, von der aus es über den Winter die nächste Frühjahrsoffensive planen kann.
Der Krieg geht weiter wie bisher?
Es gab vor kurzem ein bemerkenswertes Treffen von hochrangigen Vertretern des Verteidigungsministeriums und des Generalstabs bei Wladimir Putin. Da waren vom Verteidigungsminister bis zum Generalstabschef alle Kommandeure der einzelnen operativen Manövergruppen präsent. Generalstabschef Gerassimow hat bei diesem Treffen vor laufender Kamera klar die nächsten militärischen Ziele benannt. Die russische Seite zeigt keinerlei Einlenken, sondern verfolgt stoisch ihre Ziele.
Mit Markus Reisner sprach Sebastian Huld
Quelle: ntv.de