Antisemitismus an Hochschulen "Viele Juden haben Angst, wenn sie in die Universität gehen"
18.02.2024, 09:17 Uhr Artikel anhören
Auf einer Kundgebung von "Fridays for Israel" trägt ein junger Mann eine Kippa im Superheldendesign.
(Foto: picture alliance / Caro)
Der Angriff auf einen jüdischen Studenten in Berlin war schockierend, aber keine Überraschung, sagt Jacob Horowitz von der Jüdischen Studierendenunion. Auch einige Reaktionen aus der Politik und von der Universität haben ihn fassungslos gemacht: "Ich glaube, man kann es nicht als 'Austausch' bezeichnen, wenn jemand krankenhausreif geschlagen, wenn jemandem ins Gesicht getreten wird."
ntv.de: Anfang des Monats wurde ein jüdischer Student in Berlin von einem Kommilitonen krankenhausreif geschlagen. Ist das ein krasser Sonderfall oder war eine solche Tat früher oder später zu erwarten?
Jacob Horowitz: Ich glaube, der Angriff hat uns alle schockiert, aber überrascht hat er jüdische Studierende definitiv nicht. Es ist keine Überraschung, wenn aus Worten Taten werden, wenn antisemitische Parolen zu antisemitischer Gewalt führen. Angesichts der Atmosphäre gerade an der Freien Universität war der Angriff auf Lahav Shapira fast schon vorhersehbar.

Jacob Horowitz ist Schatzmeister im Vorstand der Jüdischen Studierendenunion Deutschland. Er studiert Medizin in Düsseldorf.
(Foto: Andreas Bretz, Rheinische Post)
Stellt die FU für jüdische Studierende ein besonders gefährliches Umfeld dar?
Ein Gefühl der Angst begleitet jüdische Studierende leider an Universitäten in ganz Deutschland. Aber an der FU gab es eine Reihe von Ereignissen, bei denen die Universität nicht schnell genug reagiert hat, wo es erst Druck von jüdischen Studierenden und von anderen Organisationen brauchte, bevor auf einen antisemitischen Vorfall reagiert wurde. Ich selbst bin entsetzt, dass gewisse Dinge an der Freien Universität so lange gedauert haben.
Was meinen Sie konkret?
Zum Beispiel die Besetzung des Hörsaals am 1. Februar. Es kann ja wohl nicht sein, dass "Students for Palestine" einen Hörsaal besetzen, jüdischen Studierenden der Zugang verweigert wird und dort Äußerungen getätigt werden, die einfach furchtbar sind. Natürlich muss eine Universität ein Ort für freien Austausch sein, aber was dort passiert ist, hat mit Austausch nichts zu tun. Antisemitismus ist eine klare Grenze. Das scheint an Universitäten nicht immer klar zu sein. Ein weiteres Beispiel ist der Umgang der Universität mit dem Angriff auf Lahav Shapira.
Der Angriff ereignete sich in der Nacht zum 3. Februar, am 9. Februar erteilte FU-Präsident Günter Ziegler dem mutmaßlichen Täter Hausverbot.
Ich halte diese Reaktion nicht für ausreichend. Antisemiten sollten keinen Platz an einer Universität haben, antisemitische Handlungen sollten zu einer Exmatrikulation führen. Wenn Deutschland eine historische Verantwortung für den Schutz jüdischen Lebens hat, dann gilt das auch für Universitäten, denn die Hochschulen haben in der NS-Zeit nicht nur geschwiegen, sondern in vielen Fällen mitgemacht.
Berlins Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra hat am 6. Februar davon gesprochen, dass die Hochschulen keine "gated communities" werden sollten. "Die Wissenschaft lebt von Austausch, lebt von Internationalität, lebt von internationalen Studierenden. Und natürlich gibt’s auch dann mal Konflikte auf dem Campus, und die müssen wir eindämmen." Wie kam das bei jüdischen Studierenden an?
Jüdische Studierende waren fassungslos. Ich glaube, man kann es nicht als "Austausch" bezeichnen, wenn jemand krankenhausreif geschlagen, wenn jemandem ins Gesicht getreten wird. Das ist eine antisemitische Straftat. Zwischen Lahav Shapira und seinem Angreifer gab es keine Diskussion, es gab keinen "Konflikt". Wenn die Wissenschaftssenatorin diesen Vorfall so einordnet, ist das besorgniserregend.
Czyborra sagte ein paar Tage später, ihr Zitat sei aus dem Kontext gerissen worden, ihre Aussage habe sich "auf den wissenschaftlichen Diskurs" bezogen. Nehmen Sie ihr das ab?
Ich nehme zur Kenntnis, dass Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner gesagt hat, dass das Berliner Hochschulgesetz geändert werden soll, damit eine Exmatrikulation möglich ist. Ich hoffe sehr, dass das jetzt passiert.
Wie soll das konkret ablaufen?
Wenn es zu einem antisemitischen Vorfall kommt, sollte die Universität den Fall prüfen, natürlich im Kontakt mit Präventionsstellen, die auch Beratung geben, wie man Fälle von Antisemitismus erkennt und wie antisemitische Codes entschlüsselt werden. Denn ich fürchte, Antisemitismus ist für manche mitunter nicht leicht zu erkennen. Aber dafür gibt es ja professionelle Beratungsstellen. Und wenn sich herausstellt, dass es sich bei einem Vorfall um eine antisemitische Tat handelt, sollte definitiv die Exmatrikulation erfolgen. Nur so, mit einer schnellen Reaktion, lässt sich verhindern, dass auf einem Campus ein Klima der Angst für jüdische Studierende entsteht.
Gibt es das nicht schon?
Es gibt einen Vertrauensverlust von jüdischen Studierenden gegenüber den Uni-Leitungen. Und ja, viele haben Angst oder zumindest ein unangenehmes Gefühl, wenn sie in die Universität gehen. Mir selbst geht es auch so. Da ist eine Angst, dass man mich erkennt, dass man mich für meine jüdische Identität anprangert. Das Gefühl kennen viele jüdische Studierende. An der Universität Duisburg-Essen gehen jüdische Studierende in Gruppen über den Campus, um sicher zu sein. Wir hören von Fällen, dass Kommilitonen sich nicht mehr trauen, zur Uni gehen, ihr Studium deshalb sogar abbrechen. Das ist traurig. Jüdische Studierende sollten einen normalen Uni-Alltag haben wie alle anderen auch. Leider erleben wir seit dem 7. Oktober, dass das nicht so ist.
Wie kann man legitime Israelkritik von Antisemitismus unterscheiden?
Es ist natürlich sehr legitim, die israelische Regierung zu kritisieren. Allerdings sollten dabei keine doppelten Standards angewendet werden. Wenn man also Maßstäbe an Israel anlegt, die man an keinen anderen Staat anlegt, dann liegt der Verdacht nahe, dass hinter der Kritik antisemitische Motive stecken. Oder wenn man Israel vorwirft, einen "Genozid" zu verüben oder ein "Apartheid-Staat" zu sein, dann ist das faktisch falsch und vermutlich eine antisemitische Dämonisierung. Das Völkerrecht erlaubt es jedem Staat, sich gegen Angriffe zu wehren. Und natürlich ist es antisemitisch, wenn Kritik an Israel mit klassisch antisemitischen Verschwörungsmythen verbunden werden. Aber, wie gesagt, das ist nicht immer ganz einfach zu erkennen. Wie bei einer Veranstaltung an der Humboldt-Universität, als eine israelische Richterin von propalästinensischen Aktivisten niedergebrüllt wurde.
Die Universität brach die Veranstaltung ab.
Ich halte das für einen Fehler. Eingeladen war Daphne Barak-Erez, Richterin am Obersten Gerichtshof Israels. Auch hier wurde von "Genozid" gebrüllt, an einer Diskussion hatten die Aktivisten kein Interesse. Mit legitimer Israelkritik hat so etwas nichts zu tun. Daphne Barak-Erez wurde für alles Mögliche verantwortlich gemacht, mit dem sie als Richterin einfach nichts zu tun hat, im Gegenteil: Jeder weiß doch, dass es zwischen der Regierung Netanjahu und dem Obersten Gericht einen Konflikt gibt. Diese Veranstaltung abzubrechen, statt vom Hausrecht Gebrauch zu machen, halte ich für einen Fehler. Aber auch das ist keine Überraschung: Propalästinensische Aktivisten brüllen ja sogar Angehörige von Geiseln nieder.
Aus welchem Spektrum kommen diese Aktivisten?
Propalästinensische Aktivistinnen kommen aus unterschiedlichen Gruppen und politischen Ideologien - aus dem linksextremistischen Spektrum ebenso wie aus islamistischen Bewegungen. An manchen Unis werden Flyer von "Realität Islam" verteilt, einer islamistischen Gruppierung, die der Organisation "Hizb ut-Tahrir" nahesteht, gegen die 2003 ein Betätigungsverbot erlassen wurde. Aus dem linksextremistischen Spektrum sind es Organisationen wie "Klasse gegen Klasse" oder der SDS, der Hochschulverband der Linken, die an verschiedenen Universitäten in Deutschland Raum für Israelhass geben. Natürlich kommt Antisemitismus generell auch aus der Mitte der Gesellschaft und aus rechtsextremen Strukturen. An Hochschulen sind es aber vor allem linke, progressive und islamistische Gruppen.
Fühlen Sie sich von den Hochschulen im Kampf gegen Antisemitismus alleingelassen?
Leider ja. Vor allem für progressive Organisationen ist israelbezogener Antisemitismus ein blinder Fleck. Deshalb würde ich mir wünschen, dass auch andere junge Menschen aufstehen und jüdische Studierende unterstützen. Wir sind eine Minderheit, allein sind wir nicht laut genug. Haben Sie den Super Bowl gesehen?
Den Super Bowl? Warum?
In einer der Werbepausen gab es einen Spot, in dem eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter das Haus verlässt, um sie zur Schule oder irgendwohin zu fahren. Die Tochter sieht eine Hakenkreuzschmiererei an der Garage und fragt, was das denn sei. "Nichts", antwortet die Mutter, "steig ins Auto." Daneben steht ein Nachbar, der gerade seinen Wagen repariert. Als die beiden zurückkommen, ist das Garagentor gestrichen - und man sieht, dass der Nachbar Farbe an den Schuhen hat. Die Pointe des Videos ist, dass man nicht tatenlos bleiben soll, dass man nicht sagen soll: Mir ist das alles zu kompliziert. Auf vielen Demonstrationen in Deutschland werden gerade Plakate gezeigt, auf denen "Nie wieder ist jetzt" steht. Das sollten wir auch so meinen. Jetzt ist ein Zeitpunkt, der das jüdische Leben in diesem Land für die nächsten zwanzig, dreißig Jahre beeinflusst. Wenn wir jetzt wegsehen, wird es nur noch schlimmer.
Mit Jacob Horowitz sprach Hubertus Volmer.
Quelle: ntv.de