
Abschiedsgruß am Flughafen: Dieser Israeli würde es begrüßen, wenn Netanjahu nicht zurückkäme. Tatsächlich wird der Premier seinen Besuch verkürzen und bereits am Donnerstagabend zurückfliegen.
(Foto: REUTERS)
Nach Washington wird er derzeit nicht eingeladen: Dass Israels Premier Kanzler Scholz besuchen kann, ist für Netanjahu ein echter Erfolg. Es hagelt Kritik an einer radikalen Justizreform, die in Israel die Massen auf die Straße treibt.
Demos mit zweieinhalb Millionen Teilnehmern auf deutschen Straßen, SAP droht damit, das Land zu verlassen, und Christian Drosten wettert gemeinsam mit dem Bundespräsidenten und einem bekannten CEO gegen die Regierungspolitik - so in etwa könnte es aussehen, wenn durch Deutschland gerade eine vergleichbare Protestwelle rollen würde, wie es in Israel derzeit jeden Samstag passiert. Dort sind bis zu 250.000 Menschen im Protest vereint - bei nur acht Millionen Einwohnern -, unterstützt von Größen aus Kultur, Wissenschaft und sehr stark aus der Hightech-Branche.
In Deutschland schwer vorstellbar, aber mit einem derartigen Sturm der Entrüstung hat auch in Haifa oder Tel Aviv kaum gerechnet, bevor er losbrach. Die Menschenmassen befürchten nicht weniger als uneingeschränkte Macht für die Regierung, die Abschaffung der Gewaltenteilung.
Die Verteilung der Macht auf mehrere Staatsorgane, die sich auch gegenseitig kontrollieren - wie funktioniert das nochmal ganz grob? Die Justiz wacht über die Rechtmäßigkeit der Beschlüsse des Parlaments, das Parlament kontrolliert die Regierung, und die Regierung beschließt Gesetze, auf deren Grundlage die Justiz urteilt.
Parlament könnte Obersten Gerichtshof einfach überstimmen
Dieses Kontrollsystem will die israelische Regierung noch diesen Monat aushebeln, das Gesetz dazu, die große Justizreform, hat die erste Lesung in der Knesset bereits passiert.
Wenn die geplante Reform Wirklichkeit wird, kann das israelische Parlament eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs mit einfacher Mehrheit "überstimmen" und unwirksam machen. Etwa, wenn das Gericht ein schon vom Parlament beschlossenes Gesetz kippen wollte. Anschließend überstimmt das Parlament dieses Votum und setzt das Gesetz trotz der juristischen Einwände durch.
Damit würde in der israelischen Gesetzgebung nicht nur eine entscheidende Kontrollfunktion wegfallen, sondern auch die einzige: Israel hat keine wirkliche Verfassung und auch keine zweite Parlamentskammer wie etwa den Bundesrat in Deutschland oder das Oberhaus in Großbritannien. Checks and Balances - funktioniert in Israel über das Oberste Gericht. Umso lauter pochen viele Israelis darauf, dass die Kontrollmacht der Richterinnen und Richter erhalten bleiben muss. "Ansonsten hätte die Regierung keine Schranken mehr, sie bräuchte nur noch ihre Mehrheit", sagt Peter Lintl, Nahostexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Grundrechte in Gefahr
Um ein Gesetz zu kippen, reicht es bislang, wenn eine Mehrheit im Obersten Gerichtshof dies unterstützt. In Zukunft soll entweder die Unterstützung von 12 der 15 Richterinnen und Richter oder sogar Einstimmigkeit erforderlich sein. Trotzdem könnte die Regierung mit ihrer Mehrheit im Parlament das Gesetz anschließend durchdrücken.
Die bisherige Möglichkeit des Obersten Gerichts, das Rechtsprinzip der "Angemessenheit" eines Gesetzes oder seiner Anwendung zu beurteilen, soll wegfallen. Die Grundlage für seine Urteile sollen nur noch Rechtsprinzipien sein, die explizit genannt sind. Klingt unaufregend, doch durch das Fehlen einer Verfassung gibt es in Israel eine Besonderheit: "Ganz grundlegende, für Demokratien selbstverständliche Prinzipien wie Gleichheit, Redefreiheit, allgemeines Wahlrecht sind in Israel nirgendwo gesetzlich verankert", erklärt Lintl. "Sie wurden nur durch Interpretationen des Rechts durch den Obersten Gerichtshof gesichert."
Sollte das rechte Regierungsbündnis von Premier Benjamin Netanjahu beispielsweise beschließen, der arabischen Bevölkerung in Israel das Wahlrecht zu beschneiden, so könnte das Oberste Gericht darüber nicht urteilen. Denn es steht in keinem Gesetz, dass alle erwachsenen Israelis wählen dürfen. Während dieses Beispiel bislang nur Theorie ist, könnte eine andere Praxis mit der Reform Wirklichkeit werden.
Wie Desfred aus "The Handmaid's Tale"
Bislang hat das israelische Parlament vor einer Wahl entweder einzelne arabische Kandidaten oder ganze Listen ausgeschlossen und den Einfluss der arabischen Bevölkerung so geschwächt. Der Oberste Gerichtshof hat diese Entscheidung jedoch so gut wie immer aufgehoben. Dieses Korrektiv würde nach der Reform wegfallen, einige arabische Volksvertreter wären nicht mehr wählbar.
Statt wie ursprünglich geplant am Freitagmorgen werde Netanjahu bereits am Donnerstagabend abreisen, erklärte die israelische Botschaft in Berlin. Ein Grund wurde nicht genannt. Nach israelischen Medienberichten soll ein Sicherheitsvorfall am Montag im Norden Israels der Hintergrund sein. Über genauere Details einer Bombenexplosion in der Nähe von Megiddo war eine Nachrichtensperre verhängt worden. Was bekannt ist: Ein junger Mann aus dem arabischen Dorf Salem wurde bei der Explosion am Montag schwer verletzt. Behörden gingen von einem möglichen Terroranschlag aus.
Viele im Land sehen durch die Reform Grundrechte in Gefahr, auch Israels Präsident Isaac Herzog nannte die Justizreform eine "Gefahr für die Grundfesten unserer Demokratie". Die Protestierenden, die seit Wochen in Massen samstags auf die Straße gehen, machen auf ihre Art deutlich, wie dramatisch sie die Bedrohung für ihren Staat einschätzen.
Demonstrantinnen schließen sich zu langen Zügen zusammen, in rote Kutten gehüllt wie die Magd Desfred aus dem Serienhit "The Handmaid’s Tale" - einem düsteren Science-Fiction-Drama, in dem sich die USA in eine Diktatur verwandelt haben und Frauen weitgehend rechtlos sind.
"In die USA wird Netanjahu derzeit nicht eingeladen"
Präsident Herzog setzt sich dafür ein, mit einer abgeschwächten Reform einen Kompromiss zu finden. Das schlagen nun auch - zaghaft - erste Stimmen aus Netanjahus Likud-Partei vor. Wie ein solcher Kompromiss aussehen könnte, ist allerdings schwer vorstellbar.
"Sie ist das Kernstück dieser Regierung", sagt Lintl ntv.de, "und Herzensprojekt der Rechten, die seit Jahren auf die Gelegenheit wartet, diese Reform durchzusetzen." Würde sie scheitern, wäre das auch ein Eingeständnis, dass die ideologische, harte Rechte in Israel gescheitert sei. "Man sieht keinen Weg, wie die Regierung auf die Reform verzichten könnte, ohne selbst auseinanderzufallen."
Doch eine realistische Option kann die Justizreform kaum sein, denn auch im Ausland stößt Israel auf massive Kritik. An diesem Donnerstag empfängt erst Bundeskanzler Olaf Scholz Benjamin Netanjahu, dann Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Da kann der israelische Regierungschef laut Experte Lintl froh sein: "In die USA wird Netanjahu derzeit nicht eingeladen, von Abu Dhabi wurde er de facto wieder ausgeladen." Der Wissenschaftler sieht darin erste Anzeichen, dass unter der geplanten Reform auch die israelische Wirtschaft leiden wird.
Steinmeier ist besorgt
Vielleicht auch deshalb ist der Protest im Land so breit, schließen sich Player aus der Wirtschaft mit Größen aus dem Kulturbetrieb zusammen. Bis zum Pessachfest Anfang April will die Regierungskoalition die Justizreform durchdrücken. Lintl zweifelt jedoch daran, dass sie die Pläne wirklich durchzieht. "Im Moment ist der Druck einfach zu hoch."

Damit Netanjahu die Botschaft auch ja nicht übersieht, haben Demonstranten gleich mehrere Plakate am Flughafen in Tel Aviv befestigt.
(Foto: REUTERS)
Auf die Unterstützung der USA kann Netanjahu nicht verzichten, wenn es um seine außenpolitischen Ziele geht und die Position Israels inmitten der arabischen Nachbarschaft. Dass der Staatsbesuch in Deutschland nun klappt, ist für ihn ein kleiner Erfolg. Da wird er die erwartbaren Mahnungen von Scholz und Steinmeier wohl zähneknirschend über sich ergehen lassen. Ein Regierungssprecher hat vorsichtige Kritik jedenfalls schon angemerkt, Steinmeier selbst äußerte sich besorgt. Er sei in regelmäßigem Austausch mit seinem Freund und Amtskollegen Isaac Herzog und setze in dieser Debatte auf dessen "kluge und ausgleichende Stimme".
Quelle: ntv.de