Politik

Provokation an Grenze zu Ukraine Was einen Einmarsch von Belarus unwahrscheinlich macht

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Belarussische Soldaten bei einer Parade im Juli: Die Armee gilt als nicht gut ausgerüstet.

Belarussische Soldaten bei einer Parade im Juli: Die Armee gilt als nicht gut ausgerüstet.

(Foto: picture alliance/dpa/Russian Defence Ministry)

Es soll nur eine Militärübung sein, doch die belarussischen Truppenbewegungen an der Grenze machen Kiew nervös. Experten erkennen in der Provokation einen klaren Plan von Machthaber Lukaschenko. Aus verschiedenen Gründen rechnen sie nicht mit einem großangelegten Einmarsch in die Ukraine.

Die belarussischen Truppenbewegungen an der Grenze zur Ukraine werden von Kiew mit Argwohn beäugt. Machthaber Alexander Lukaschenko behauptet, als Reaktion auf Provokationen aus dem Nachbarland Flugzeuge, Panzer und anderes Gerät sowie etliche Soldaten verlegen zu müssen. Die Rede ist von einer Militärübung. Die Ukraine lässt das nicht gelten und sieht sich ihrerseits gezwungen, zu reagieren. Doch wie wahrscheinlich ist ein Einmarsch von Belarus?

Die Experten vom Institute for the Study of War (ISW) gehen davon aus, dass der derzeitige belarussische Aufmarsch entlang der ukrainischen Grenze vermutlich darauf abzielt, die ukrainischen Streitkräfte abzulenken und auf eine breitere Frontlinie auszudehnen. Darüber hinaus unterliege Lukaschenko gewissen Zwängen, die eine militärische Eskalation unwahrscheinlich machten.

Der US-Thinktank beruft sich in seinem jüngsten Lagebericht auf eine Analyse der ukrainischen Open-Source-Nachrichtenorganisation Frontelligence Insight und von Rochan Consulting. Diese lege nahe, dass belarussische Kampfeinheiten in der Regel nur mit 30 bis 40 Prozent ihrer Gesamtstärke operierten und auf die Mobilisierung von Einheiten angewiesen seien. Da eine solche allgemeine Mobilisierung noch nicht angekündigt wurde, seien keine ernsthaften Vorbereitungen auf eine großangelegte Invasion offensichtlich.

Und auch wenn Streitkräfte mobilisiert werden, sei die belarussische Armee nicht schlagkräftig, schreibt Konrad Muzyka von Rochan Consulting auf X. "Selbst dann sind ihre Streitkräfte in erster Linie auf postsowjetische Ausrüstung angewiesen, die nur minimal modernisiert wurde, sodass sie für die heutigen Anforderungen auf dem Schlachtfeld schlecht gerüstet sind."

Lukaschenkos innenpolitische Zwänge

Ein weiterer Faktor: Ein belarussischer Einmarsch in die Ukraine oder gar eine militärische Beteiligung am Krieg würde die Fähigkeit von Diktator Lukaschenko, sein Regime zu verteidigen, schwächen. Ein solcher Schritt wäre zudem sehr unpopulär im eigenen Land, schreibt das ISW. Bereits früher schätzten die US-Experten es als sehr unwahrscheinlich ein, dass Lukaschenko einen Kampf mit der Ukraine riskieren würde, der sein Regime schwächen oder die Unzufriedenheit im eigenen Land drastisch erhöhen könnte.

Im Februar 2025 stehen die nächsten belarussischen Präsidentschaftswahlen an. Und wie auch schon nach den inszenierten Wahlen im Jahr 2020, die erhebliche Verwerfungen in dem Land verursachten, wolle der Machthaber dem ISW zufolge die Kontrolle über die öffentliche Meinung behalten und auf sein Militär zurückgreifen, um gegen etwaige Proteste vorzugehen. Wenn seine Armee aber in der Ukraine kämpfen müsste, würde es seinem Regime sehr schwerfallen, künftige Massenproteste gewaltsam zu unterdrücken.

Eine mögliche belarussische Mobilisierung brächte auch potenzielle Verluste auf dem Schlachtfeld mit sich, das Land könnte noch mehr international isoliert werden und die Wirtschaft negative Auswirkungen spüren: Diese Faktoren würden laut dem US-Thinktank wahrscheinlich die Unzufriedenheit in der Bevölkerung erhöhen und Lukaschenkos Bemühungen um die Wiederherstellung der Stabilität seines Regimes seit 2020 zunichtemachen.

"Darüber hinaus hat Lukaschenko daran gearbeitet, ein gewisses Maß an belarussischer Autonomie und Souveränität gegenüber Russland aufrechtzuerhalten und gleichzeitig Belarus als gleichberechtigten Partner Russlands darzustellen, um seine Macht vor dem zunehmenden Wunsch des Kremls zu schützen, Belarus Moskau im Rahmen des Unionsstaats unterzuordnen", heißt es in der Analyse. Ein direkter Eintritt von Belarus in Russlands Krieg würde daher bedeuten, dass es dem Kreml gelungen sei, Lukaschenkos Handlungsspielraum auszuschalten und die Oberhoheit über Belarus zu erlangen.

Gegenwärtige Situation nicht "sehr dramatisch"

Bereits Ende 2022 und Anfang 2023 seien ähnliche Truppenbewegungen an der ukrainischen Grenze zu beobachten gewesen, schreibt das ISW. Auch damals sei dies mit dem Zweck verbunden gewesen, die Stationierung ukrainischer Streitkräfte entlang der Kriegsschauplätze zu dehnen und ihre Operationen zu stören, womit wiederum russische Operationen unterstützt wurden. Möglicherweise führe Belarus erneut derartige Aktivitäten durch, um die begrenzten ukrainischen Streitkräfte in der Nähe der ukrainischen Staatsgrenze zu Belarus zu fixieren und so die russische Kampagne zu unterstützen, die darauf abzielt, die ukrainischen Streitkräfte im gesamten Gebiet zu schwächen.

"Der Kreml übt Druck auf Belarus aus und Lukaschenko agiert im Sinne Russlands", sagte Oberst Markus Reisner im Interview mit ntv.de zu Wochenbeginn. Die Aktivitäten erinnerten die Ukraine daran, dass auch von diesem Nachbarn Gefahr drohen könne. "Die belarussischen Streitkräfte haben begonnen, mechanisierte Einheiten aus dem Südraum von Belarus an die Grenze zu verlegen. Die Ukraine kann dies nicht einfach ignorieren, sie muss somit Zehntausende Soldaten an der belarussischen Grenze vorhalten."

General a.D. Walter Feichtinger schätzte die gegenwärtige Situation nichtsdestotrotz als nicht "sehr dramatisch" ein. Zwar habe sich Lukaschenko in der Vergangenheit als Russland-hörig gezeigt, aber gleichzeitig sei er stets bemüht gewesen, sein Land aus dem Krieg herauszuhalten, sagte Feichtinger im Gespräch mit ntv.

Kleinere Überfälle möglich

Mehr zum Thema

Der Ukraine kommt derweil entgegen, "dass der Grenzraum von weitläufigen Sumpflandschaften geprägt ist. Die sogenannten Prypjatsümpfe stellen ein massives Hindernis dar. Ein etwaiger Vorstoß müsste zwangsläufig über diesen Raum erfolgen", sagte Reisner. Und Analyst Konrad Muzyka schreibt auf X, die Ukraine habe "viele Gebiete entlang ihrer Grenze zu Belarus stark befestigt und vermint, was bedeutet, dass ein Angriff von Belarus aus nur mit einer überwältigenden Anzahl von Kräften erfolgreich sein könnte. Minsk ist derzeit nicht in der Lage, eine solche Streitmacht aufzubringen."

Man gehe daher davon aus, dass die Ukraine in erster Linie höchstens kleinere Überfälle befürchten müsse, die darauf abzielten, ein begrenztes Gebiet einzunehmen, um eine Verlegung ukrainischer Streitkräfte aus anderen Regionen zu erzwingen. "Obwohl die Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios gering ist, kann es nicht völlig ausgeschlossen werden", so der Direktor von Rochan Consulting.

Quelle: ntv.de, fzö

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen