Politik

Viele Ukrainer kehren zurück Wenn die Gefahr des Krieges weniger wiegt

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Der Bahnhof in Lwiw ist ein Ort, an dem sich Menschen verabschieden - und in letzter Zeit auch wieder begrüßen.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Trotz der verheerenden Nachrichten über mutmaßliche Kriegsverbrechen steigt wieder die Zahl der Ukrainer, die in ihr Heimatland zurückkehren. Für sie wiegt die Gefahr eines Krieges weniger schwer als die, von der Familie getrennt zu sein oder nicht mitkämpfen zu können.

In den ersten Tagen nach Kriegsausbruch in der Ukraine zeigen herzzerreißende Bilder Szenen am Hauptbahnhof in Kiew, wo sich Familien von ihren Vätern und Söhnen verabschieden. Junge Paare küssen sich mit Tränen in den Augen, Mütter umarmen ihre Söhne, Väter drücken ihre Kinder noch einmal. Während wehrpflichtige Männer das Land nicht verlassen dürfen, sind seit Beginn des Krieges mehr als 4 Millionen Menschen geflohen. In den letzten Tagen zeichnet sich jedoch ein neues Bild ab: Immer mehr Menschen wollen in ihre Heimat zurückkehren.

Besonders deutlich wird das in der Grenzstadt Lwiw. Dort verlassen immer noch weit mehr Bürger das Land, berichtet die "New York Times". "Zu Beginn des Krieges verließen zehnmal so viele Menschen das Land wie zurückkamen", sagte Yurii Buchko, der stellvertretende Militärverwalter in Lwiw, in einem Interview mit der Zeitung. Doch in den letzten Tagen scheint sich etwas geändert zu haben. "Die Statistiken haben sich in letzter Zeit stark verändert", so Buchko. An manchen Tagen sei die Hälfte der Menschen, die die Grenze überqueren, auf dem Weg zurück in die Ukraine - die meisten von ihnen Frauen und Kinder.

"Ich muss nach Hause gehen"

Denn wie die Bilder aus Kiew am Hauptbahnhof zeigen, sind seit dem 24. Februar Tausende, wenn nicht Millionen von Familien auseinandergerissen worden. Die kurzfristige Entscheidung, männliche Familienmitglieder zurückzulassen, als der Krieg ausbrach, war für viele Frauen und Kinder die einzige Lösung. Es war auch eine erzwungene kurzfristige Entscheidung - eine Entscheidung, die viele jetzt zu überdenken scheinen. "Das Bedürfnis, bei Söhnen und Ehemännern zu sein, die in der Ukraine geblieben sind, spielt bei dieser Entscheidung zweifellos eine große Rolle", sagt Albert Scherr, Leiter des Instituts für Soziologie an der Pädagogische Hochschule Freiburg mit dem Schwerpunkt in der Migrations- und Fluchtforschung, ntv.de.

So ist Lilia Shuba zu Beginn des Krieges aus der Ukraine geflohen, jetzt aber zurückgekehrt, wie die Zeitung "Politico" berichtet. "Zu Hause ist es immer besser", sagt die Lehrerin der Zeitung. "Wir sind vor einer Woche abgereist, und jetzt kehren wir zurück. Mein Mann hat sich freiwillig zur Armee gemeldet, und es ist niemand in unserem Haus." Zhanna Sinitsyna sieht das genauso: "In meiner Seele ist Mykolaiv meine Heimat", sagte die 49-Jährige der "Washington Post" auf dem Weg zurück in die Ukraine. "Und ich muss nach Hause gehen."

"Hebt die Waffen"

Ein zweiter Aspekt zieht die Ukrainer zurück in ihre Heimat. Die inzwischen fast täglichen Videoansprachen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sind ein kommunikatives Meisterwerk - eindrucksvolle Appelle und Worte aus Kiew, von einem in Militärgrün gekleideten Staatsoberhaupt, senden ein klares Signal an die Landsleute: Hebt die Waffen und schließt euch dem Kampf an.

Menschen, die geflohen sind, stehen nun vor einer Gewissensentscheidung. Denn im Prinzip sagt der Präsident mit diesem nationalistischen Narrativ: "Wer diesem nationalistischen Ruf nicht folgt, ist ein Verräter - ein Feigling, der sich seiner Pflicht entzieht", erklärt Scherr.

Aus diesem Grund beschloss die 52-jährige Lehrerin Vira Lapchuk, zurückzukehren, wie die "Washington Post" berichtet. Nach Beginn des Krieges floh die Lehrerin zu ihrem Sohn nach Polen. Doch nach einer Woche wurde ihr klar, dass sie zurückkehren musste. "Ich habe keine Angst", sagte Lapchuk der Zeitung, obwohl sie "Verzweiflung" für ihre Stadt und ihr Land empfindet. Sie habe aber das Bedürfnis, ihre Schüler in dieser Zeit zu unterstützen.

"Ein ungeheuer moralisches, persönliches Dilemma"

Und das, obwohl Nachrichten aus Butscha grausame, wenn auch noch mutmaßliche, Kriegsverbrechen von russischer Seite zeigen. Doch nicht überall sieht es so aus: In Kiew kehrt das Leben teilweise zur Normalität zurück. Auch in Lwiw geht der Alltag trotz des Krieges weiter: "Die Menschen haben jetzt verstanden, wie der Krieg ist und dass man trotz des Krieges in der Ukraine, in Lwiw, bleiben und leben kann", so Buchko gegenüber der "New York Times".

Hinzu käme die Erkenntnis, dass der Krieg doch länger dauern würde als zunächst angenommen. "Zu Beginn des Krieges dachten oder hofften wir, dass dieser Krieg eine Woche oder vielleicht ein paar Tage dauern würde", sagte Buchko der Zeitung. "Jetzt sehen wir, dass er wahrscheinlich nicht Monate, sondern mehrere Jahre dauern wird. Und damit müssen wir leben."

Natürlich weiß niemand, wie lange dieser Krieg dauern wird. Aber wenn der Krieg wirklich jahrelang anhält, müssten sich die Ukrainer im Ausland auf eine langfristige Flüchtlingssituation einlassen - unter der Bedingung, dass sie von ihren Familien wie Ehemännern oder Vätern getrennt sind. "Aus der Perspektive von Frauen, deren Männer im Krieg kämpfen, ist es nicht einfach zu sagen: 'Mein Mann bleibt im Krieg zurück und ich gehe nach Europa und entkomme der Gefahr'", sagt Scherr.

"Dies ist für die Betroffenen ein ungeheuer moralisches, persönliches Dilemma", sagt Scherr. Denn bei dieser Entscheidung gibt es kein Richtig oder Falsch. Es sei eine Situation, in der soziale Verpflichtungen, moralische Erwägungen, nationalistische Appelle und individuelle persönliche Verantwortung eine Rolle spielen. "Man kann wirklich niemandem wünschen, einer solchen Situation ausgesetzt zu sein."

Quelle: ntv.de

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