Politik

Russlands Genozid in der Ukraine Warum ich Putin hasse

Bei ihrem Abzug aus dem Großraum Kiew haben russische Soldaten Hunderte Menschen ermordet. Das Bild wurde am 2. April auf einer Schnellstraße in Butscha aufgenommen.

Bei ihrem Abzug aus dem Großraum Kiew haben russische Soldaten Hunderte Menschen ermordet. Das Bild wurde am 2. April auf einer Schnellstraße in Butscha aufgenommen.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Meine Muttersprache ist Russisch, ich komme von der Krim - ich bin einer von denen, die Putin in der Ukraine angeblich schützen will. Was seine Soldaten bringen, ist nicht Schutz, sondern Vernichtung.

Ich bin nicht der Held dieser Geschichte, aber sie fängt mit mir an. 1993, kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion, kam ich auf der Krim zur Welt - in Sewastopol, der Heldenstadt. Den Titel hatte Sewastopol nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten, weil die Stadt sich im Kampf gegen die Deutschen, wie schon im Krimkrieg zwischen Russland und dem Osmanischen Reich Mitte des 19. Jahrhunderts, in die russischen Geschichtsbücher eingeschrieben hatte - obwohl beide Verteidigungsleistungen eigentlich Heldentaten der Stadtbevölkerung und nicht des russischen Militärs waren, wie das oft vom russischen Staat verkauft wird.

Sewastopol war und ist der Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte, auch 1993 war das so, zwei Jahre nach der Unabhängigkeit der Ukraine, einem Land, in dem ich mich wohlfühlte und als Jugendlicher meine Journalistenkarriere begann - damals als ein auf die Bundesliga fixierter Sportjournalist.

Als Wladimir Putin im März 2014 meine Halbinsel unter Verweis auf einen angeblich notwendigen Schutz für die russischsprachige Bevölkerung vor einem "faschistischen Putsch" in Kiew annektierte, gehörte ich zu der Minderheit in Sewastopol, die gegen diesen groben Völkerrechtsbruch war. Allein stand ich mit dieser Haltung aber nicht. Einer von denen, die wie ich die schwierige Entscheidung trafen, die Krim zu verlassen, war der Seemann Wladyslaw. Die Hälfte des Jahres verbrachte er auf den Ozeanen dieser Welt, die andere Hälfte war er zu Hause. Ich kannte ihn über einen Kommilitonen, Sohn eines russischen Offiziers, der später an zentraler Stelle an der Krim-Annexion beteiligt war. Näher kennengelernt haben wir uns erst, als ich bereits in Kiew wohnte und er sich in der nordwestlichen Vorstadt Irpin eine Wohnung kaufte. Es war eine Investition, der noch mehrere dieser Art folgten: Es war abzusehen, dass Irpin irgendwann von der Hauptstadt eingemeindet wird, das Geld schien damit gut angelegt.

Die Wochenenden im Corona-Sommer 2020 haben wir oft auf der neuen Promenade von Irpin verbracht, die von der nun zerstörten Eisenbahnbrücke überquert wird, auch in der nördlichen Nachbarstadt Butscha, die unmittelbar neben Irpin liegt. Nicht selten tranken wir dabei Bier und Cognac. Wladyslaw erzählte mir schon damals, warum er die Wohnungen in Irpin gekauft hatte: "Bald werden sie richtig teuer sein, die kann man gut vermieten. Und im schlimmsten Fall kommen die Russen nicht hierher - es ist ja das rechte Dnipro-Ufer." Wladyslaw nahm die russische Gefahr viel ernster, als ich es jemals tat. Nur die Möglichkeit eines Angriffs von Belarus aus zog er nie in Betracht. Zudem absolvierte er eine militärische Ausbildung, obwohl er das nicht hätte machen müssen: "Irgendwann werden sie angreifen, zum Beispiel um die Wasserversorgung der Krim zu ermöglichen. Es gäbe viele Gründe. Und ich will dann kämpfen." Das war im August 2020, die Mitarbeiter des Wehramtes in Odessa hielten ihn für verrückt.

"Ich weiß nicht mehr, wie ich das geschafft habe"

Nach Beginn der russischen Invasion am 24. Februar wäre Wladyslaw als einer der Ersten an die Front einberufen worden. Er war jedoch als Seemann in den USA und wird erst in den nächsten Wochen zurückkehren. Viele seiner Angehörigen, deren Ausreise er organisieren wollte, blieben in Irpin. Mir liegt das Tagebuch von Weronika vor, einer engen Freundin seiner Cousine Walerija, von ihrer Flucht in den ersten März-Tagen, als Butscha bereits zur Hölle wurde und die Gegend die gefährlichste im ganzen Bezirk Kiew war. Die Brücke von Irpin war bereits zerstört; sie zu umfahren, hätte zu lange gedauert und wäre schlicht zu gefährlich gewesen. Zwei Männer aus Kiew sagten jedoch zu, Weronika, Walerija und Anastassija, eine Freundin der beiden, abzuholen. Die zerstörte Brücke mussten sie allerdings selbst überqueren, bis dorthin schafften die Männer es mit ihrem Auto nicht.

"Wir hören die Kanonade der seltsamen Explosionen und Schüsse gerade aus der Richtung, in die wir gehen. Diesmal sind sie sehr nah, ich habe Todesangst", schreibt Weronika in ihrem Tagebuch. Unter den drei Frauen hatte sie die Rolle der Anführerin übernommen, sie durfte deshalb keine Angst zeigen. "Ich verschiebe die Tränen auf später. Wir gehen unter der zerstörten Brücke und eigentlich ist alles um uns herum völlig vernichtet. Es sieht aus wie der schlimmste Film über die Apokalypse. Wir wollen über die Trümmer auf die andere Seite und nebenbei helfen wir, angekommene humanitäre Hilfsgüter dorthin zu bringen. Den Fluss überqueren wir über mehrere leicht ins Wasser getauchte Rohre. Ich weiß nicht mehr, wie ich das geschafft habe. Und ich weiß nicht, warum ich nicht gestürzt bin."

Irpin am 2. März. Zivilisten überqueren die zerstörte Brücke - vermutlich an der Stelle, über die auch Weronika und ihre Freundinnen die Stadt verließen.

Irpin am 2. März. Zivilisten überqueren die zerstörte Brücke - vermutlich an der Stelle, über die auch Weronika und ihre Freundinnen die Stadt verließen.

(Foto: picture alliance/dpa/EUROPA PRESS)

Sie schafften es auf die andere Seite, aber es war unklar, ob die Männer wirklich kommen würden. Die Frauen überlegten, zu Fuß nach Kiew zu gehen. Das hätte etwa anderthalb Stunden gedauert und wäre sehr gefährlich gewesen. Doch das Auto kam, brachte sie nach Kiew, von wo Weronika, Walerija und Anastassija mit dem Zug über Lwiw nach Polen fuhren. Mittlerweile sind sie in der Nähe von München untergekommen. Wladyslaws Vater blieb in Irpin, er floh erst um den 10. März herum, als die Kämpfe dort noch einmal zunahmen. "Wie er das schaffte, weiß ich aus der Entfernung nicht", schreibt Wladyslaw mir. "Aber es war ein Glück, dass wir Wohnungen gekauft haben, die so nahe Richtung Kiew lagen."

Russland muss diesen Krieg verlieren

Nach allem, was Wladyslaw weiß, sind seine Wohnungen nicht zerstört. Überprüfen kann er das nicht, sein Vater will in den nächsten Tagen ins befreite Irpin reisen. "Das ist jetzt nicht das Wichtigste", sagt Wladyslaw. Dass russische Soldaten auch in seinen Wohnungen geplündert haben, ist jedoch wahrscheinlich - für Irpin und Butscha ist das leider eher die Regel als eine Ausnahme.

2020 und 2021 war ich bei Wladyslaws Silvesterpartys, zuletzt war ich im Herbst 2021 bei ihm. Als ich gestern die schrecklichen Bilder aus Irpin und Butscha sah, musste ich kurz weinen - ich wusste von Bekannten aus Borodjanka, einer weiteren Kiewer Vorstadt etwas weiter außerhalb, was in der Gegend los war, aber ich konnte nicht glauben, dass es wirklich so grauenvoll war. Doch genauso grauenvoll war es. Ich bin froh, dass Wladyslaws Familie in relativer Sicherheit ist. Aber noch immer kann ich kaum glauben, dass an Orten, an denen wir so viel Spaß hatten, faktisch ein Genozid stattfand. Wie sonst soll man nennen, was die russische Armee dort getan hat?

Wladyslaw und ich teilen das gleiche Schicksal. Wir kommen aus einer russischsprachigen Stadt auf der Krim, fühlen uns aber als Ukrainer. Menschen wie wir sind es, von denen Putin behauptet, er wolle sie schützen, schon zum zweiten Mal. Tatsächlich zerstört er unsere Leben - wie die von vielen anderen, denen es noch weitaus schrecklicher ergeht als Wladyslaw, Weronika oder mir.

Ich muss zugeben: Ich hasse ihn. Im Namen meiner Muttersprache, im Namen meiner russischsprachigen Kultur, im Namen der Geschichte meiner Großeltern, die als Kinder den Zweiten Weltkrieg in Sewastopol verbrachten, begeht er schwerste Kriegsverbrechen gegen mein Land. Das darf nicht verziehen werden. Solange Putin an der Macht ist, solange Russland dieses Regime nicht überwunden hat, darf die zivilisierte Welt nicht zu normalen Beziehungen mit Russland zurückkehren. Denn dies ist nicht nur Putins Krieg, diese Barbarei hat breite Unterstützung in der russischen Bevölkerung. Russland muss diesen Krieg verlieren, damit die Ukraine vor diesem Aggressor gerettet wird. Aber es ist nicht nur das: Russland muss diesen Krieg auch verlieren, wenn es überhaupt noch eine Zukunft haben soll.

Quelle: ntv.de

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