Kommentare

Das darf man doch wohl singen Grüner Angriff auf deutsche Spießer-Ohren

Baerbock und Habeck singen in dem Video übrigens nicht.

Baerbock und Habeck singen in dem Video übrigens nicht.

(Foto: ntv / Screenshot)

Die Grünen wagen es, "(K)ein schöner Land" zu trillern, so schön schräg, wie unsere Republik nun einmal ist. Prompt wird in sozialen Medien gezetert. Nicht wenige Deutsche leben in dem Irrtum, Anspruch auf Perfektion zu haben. Dabei ist doch "Authentizität" gerade en vogue.

"Die Grünen planen neuen Angriff auf das Eigentum", liest man dieser Tage und Wochen immer wieder so oder so ähnlich, selbst in jenen Medien, die ansonsten gerne militante Vergleiche als Übertreibung tadeln, wenn etwa vom "Krieg gegen das Coronavirus" die Rede ist. Wie gut, dass die Partei von Annalena Baerbock und Robert Habeck noch nicht regiert, die armen Multimillionäre dieses Landes abzockt, um die Kohle direkt an faule Säcke umzuverteilen oder an Latte-Macchiato-Säufer im Prenzlauer Berg weiterzureichen, damit sich Letztere ein Lastenfahrrad kaufen können, wenn nicht gar ein zweites. Denn sind die Grünen erst einmal an der Macht, wird, so viel ist klar, gewiss ein Trend zum Zweit-Lastenfahrrad einsetzen.

Doch Spaß beiseite. Zu ernst ist die Lage in diesem schönen Land in einer Zeit, in der die Grünen - strategisch unklug - noch vor dem "neuen Angriff auf das Eigentum" eine schwere Attacke auf deutsches Liedgut anzettelten, die dazu führen könnte, dass der "neue Angriff auf das Eigentum" ausfallen muss. Denn wer votiert schon für eine Partei, die nicht einmal einen Profi-Chor auf die Beine stellen kann? Oder wie es der in TV und auf Twitter omnipräsente Jan Böhmermann fragend und zugleich feststellend formulierte: "Vielleicht WOLLEN die Grünen gar nicht gewählt werden!?"

Sie haben es sicher mitbekommen, die Baerbocksche Partei lässt diverse Personen in einem Wahlwerbespot "Ein schöner Land" auf die Melodie von "Kein schöner Land" trällern, was eine Minute Zeit hergibt - und schon steppt nicht der Bär dazu, sondern flippt der Twitter-Mob aus. Da weissagen die rechten Spießer: Wer so mies singt, kann nur wollen, dass Deutschland flöten geht. Und die linken Spießer bekennen sich zum Fremdschämen, nur weil der Spot nicht auf die Erwärmung der Erde, sondern die der Herzen älterer Damen und Herren abzielt, die mit deutschem Volksliedgut noch etwas anfangen können. Der woke politische Nachwuchs besteht hingegen auf klaren Botschaften. Er möchte, dass den Leuten zwischen Füssen und Flensburg, Trier und Cottbus eingebläut wird: Wählt ihr nicht die Grünen, geht die Welt unter!

"Igitt" und "Cringe"

Die Folge ist ein - wie immer bei Twitter - sehr kurzer Aufstand, weil die Partei in dem Video ihr wahres Gesicht zeigt, um nicht zu sagen: ihre wahren Gesichter. Nun wissen wir: Sie ist im Kern auch erzkonservativ. Ihre Vorstellung von Inklusion schließt Kirche, Heimat, Bauern und sogar das Grillen ein. Letzteres wollen die Grünen, so jedenfalls suggeriert es der Spot, offenbar ebenso wenig verbieten wie das Wurstessen. "Es regt sich Aufbruch weit und breit - auf neuen Wegen - bleiben nicht stehen - in dieser Zeit." Grillen für den Aufbruch! Die subtile Botschaft lautet: Es geht um die Wurst!

Vor allem aber wollen die Grünen Deutschland mitteilen: Wir sind Volkspartei. Und zwar nach einer Definition von "Volk", die zu unseren politischen Anliegen passt. (Die man natürlich auch ablehnen kann.) Zu diesem Volksverständnis gehören auch Menschen, die nicht perfekt sind, kein astreines Deutsch sprechen und nicht so gut singen können wie Karel Gott oder Heino. Nicht jeder potenzielle Wähler ist ein junger Hipster mit grünen Flausen im Kopf, sondern es gibt auch alte und sehr alte Leute mit grauen Flusen auf dem Kopf, die die Melodie, wenn nicht sogar den Text von "Kein schöner Land" im unverfälschten Original auswendig können. Die sollen, was auf Twitter offenkundig nicht verstanden wurde, mit dem Spot angesprochen werden. Die Stimmen der Lastenfahrradfahrer in Berlin-Kreuzberg und von FFF-Aktivisten sind den Grünen doch so oder so sicher.

Wie so oft zeigen die Erwiderungen in den sogenannten sozialen Medien mehr über die Leute, die den Furor entfachen, als über diejenigen, die hinter dem Auslöser der Aufregung stehen. Dem grünen Ausflug ins Traditionelle schleudert die ach so witzige Twitter-Gemeinde ein freudloses "Igitt" und haufenweise "Cringes" entgegen. Ein Teil der Wählerschaft der Grünen beharrt darauf, progressive, emanzipatorische Avantgarde zu sein und kann mit einem noch so zarten Hauch an Patriotismus nichts anfangen.

Wink mit dem Zaunpfahl?

Ansonsten sind die Reaktionen typisch deutsch: In diesem Land herrscht ein unerfüllbarer Anspruch auf unbedingte Perfektion. Jeder Fehler, den immer nur die anderen machen, wird zum "Debakel", zum "Total-" oder gleich zum "Staatsversagen" erklärt. Abweichung von der Norm wird gerne auch von denen gegeißelt, die sonst "Authentizität" loben. Sobald jedoch echte und ungestylte Menschen mehr oder weniger schief singen oder brummen wie die charmante Sarah Wiener, hören Spaß und Verständnis auf.

Da spielt keine Rolle, dass das mindestens 181 Jahre alte Original dank des Rheinländers Anton Wilhelm von Zuccalmaglio überliefert ist, dessen Familie höchstwahrscheinlich ein sehr frühes Beispiel von Einwanderung aus Italien in deutsche Lande ist. Er veröffentlichte 1840 eine Sammlung mit Volksliedern, also acht Jahre vor Beginn der bürgerlichen Revolution in Deutschland. Na, wenn das kein Wink mit dem Zaunpfahl der parteieigenen Agentur "Neues Tor 1" ist, die den Spot erfunden hat.

Die hat erreicht, was sie wollte: Man redet über die Grünen und hört sich die Botschaft an, auch wenn sie schräg gesungen ist. Oder gerade deshalb. Der Agentur sei für den nächsten Anschlag auf deutsche Spießer-Ohren die melancholisch-düsteren Werke aus dem Liederzyklus "Die Winterreise" Franz Schuberts empfohlen, die gut zur Untergangsstimmung in der Republik passen. Am Brunnen vor dem neuen Tor 1 da steht ein Lindenbaum. Ich träumt in seinem Schatten den süßen Traum von der Kanzlerschaft. So ungefähr. Denn das wird man doch wohl noch singen dürfen.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen