Person der Woche

Person der Woche Die Europawahl wird zum Spektakel der Splitterparteien

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Bei der Europawahl gilt keine Prozenthürde. Darum dürften die Deutschen in Rekordzahlen Kleinstparteien wählen. Die versprechen zum Teil Extremismus, aber auch wilde Dinge, vom Weltraumfahrstuhl über die Bierpreisbremse bis zum ewigen Leben. Ein lukratives Geschäft.

Bei der Europawahl steht ein überraschend wildes Ergebnis bevor. Nach neuen Umfragen dürften 20 bis 25 Prozent der Deutschen Klein- und Neuparteien wählen. So etwas hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Auf den Wahlzetteln sind 35 Parteien und politische Vereinigungen für die Wahl am 9. Juni zugelassen. Ungewöhnlich viele von ihnen werden gute Chancen haben, ein Mandat zu erobern. Denn seit 2014 gibt es in Deutschland bei Europawahlen keine Fünf- oder Drei-Prozent-Hürde.

Durch den Wegfall der Sperrklausel reichten 2019 bereits 0,7 Prozent der Stimmen, um einen Sitz für Deutschland zu bekommen. So kamen Volt mit 249.098 und die Piraten mit 243.302 Stimmen zu jeweils einem Abgeordnetenmandat. Fünf Jahre zuvor schaffte es "Die Partei" sogar mit nur 184.709 Stimmen zum Einzug.

Diesmal dürften Prognosen zufolge sogar 15 bis 18 Parteien ins Parlament einziehen. Die innenpolitische Unruhe sei ein Motiv für viele Wähler, gegen die klassischen Parteien einmal Protest zu zeigen, heißt es. Zudem sorge die erstmalige Absenkung des Wahleintrittsalters auf 16 Jahre für zusätzliche Impulse, unkonventionell zu wählen.

Favorit unter den Neuen ist das BSW

Schon beim letzten Mal entsandten erstaunliche 14 verschiedene Parteien aus Deutschland Abgeordnete ins Europaparlament. Die meisten die CDU (23), gefolgt von Bündnis 90/Die Grünen (21) und der SPD (16). Die AfD kam auf 11 Sitze, die nur in Bayern antretende CSU auf 6 Sitze. Die Linke und die FDP sicherten sich je 5 Sitze.

Neben diesen im Bundestag vertretenen Parteien schafften es auch sieben kleine Formationen ins Europäische Parlament: Jeweils zwei Abgeordnete entsandten die Freien Wähler und "Die Partei". Auf jeweils ein Mandat kamen Piraten, Tierschutzpartei, die Familien-Partei, ÖDP und Volt. Der Pirat, die Vertreter von ÖDP und Volt sowie einer der beiden "Die Partei"-Abgeordneten traten der Grünen-Fraktion im Europaparlament bei.

Die Freien Wähler schlossen sich der liberalen Fraktion an. Der Tierschutz-Vertreter schloss sich der Linken-Fraktion an - bis rauskam, dass er in den 1990er Jahren der NPD angehört hatte. Der Familienparteipolitiker schließlich verstärkte die konservative EVP-Fraktion.

Favorit unter den Neuen ist das im Januar gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Den Umfragen zufolge könnte das BSW zwischen 5 und 7 Prozent erreichen und damit sogar FDP und Linkspartei deutlich überflügeln. Das würde mindestens fünf Mandaten entsprechen. Die Freien Wähler werden von Demoskopen bei 3 Prozent taxiert. Auch die Gruppierungen Volt, Tierschutzpartei, ÖDP und Piraten gelten als aussichtsreich.

Weltraumfahrstühle für alle

Doch diesmal könnten auch kuriose Parteien den Einzug schaffen - etwa solche mit außergewöhnlichen Wahlversprechen. Die vegan ambitionierte "V-Partei" will kostenloses Bahn- und Busfahren für alle, Jobräder für alle und zusätzlich das bedingungslose Grundeinkommen, ebenfalls für alle. Die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) verspricht zur Europawahl die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Mit der MLPD, der Sozialistischen Gleichheitspartei und der Deutschen Kommunistische Partei sind gleich drei linksextremistische Parteien zugelassen. Die rechtsextreme NPD-Nachfolgepartei tritt unter dem Namen "Die Heimat" an.

Die libertäre "Partei der Vernunft" will das Ende des bisherigen Geldsystems einläuten: Der Euro würde abgelöst von freiem Marktgeld ohne staatliches Monopol und von beliebig vielen Anbietern. Die Partei Menschliche Welt fordert im Parlament überparteiliche Kurse für Meditation und Yoga, um Denken und Handeln der verantwortlichen Politiker auf das Wohlergehen aller auszurichten.

Bisher vertrat der Jurist Patrick Breyer die Piratenpartei im Europaparlament, nach der Wahl könnte es Anja Hirschel sein.

Bisher vertrat der Jurist Patrick Breyer die Piratenpartei im Europaparlament, nach der Wahl könnte es Anja Hirschel sein.

(Foto: picture alliance / Goldmann)

Auch die Piratenpartei, die im Europaparlament eine halbwegs seriöse Adresse beim Datenschutz ist und mit der Ulmer Informatikerin Anja Hirschel antritt, hat einen Hang zum Visionären: Im Wahlprogramm macht sie sich stark für einen "Weltraumfahrstuhl". Das Programm liest sich wie aus einem Science-Fiction-Film entnommen. Die Piraten fordern "interplanetare Reisen, Planetenverteidigung, Weltraumbergbau, Produktion im Weltraum, Kolonisierung anderer Planeten" und Ähnliches mehr. Die Piraten versprechen, solche Projekte würden "die Entwicklung radikal neuer Technologien und Materialien anregen".

Das ambitionierteste Wahlversprechen gibt freilich die "Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung" ab. Sie setzt sich für massive Medizinforschung ein, um die menschliche Lebenserwartung signifikant zu erhöhen. Im ersten Schritt verheißt die neue Partei "einem 60-Jährigen 20 zusätzliche Lebensjahre". Europa müsse man "als Wirtschaftsstandort stärken und den Weg für eine florierende Longevity-Industrie" öffnen. Auf ihren Plakaten und ihrer Website fragt die Partei ihre Wähler "Wo willst Du in 800 Jahren leben?", denn wenn man ihr folge und losforsche, dann sei der Himmel offen: "Wenn wir das schaffen, könnten Menschen unbegrenzt lange leben."

Ab 2029 ist Schluss mit dem Spektakel

Angesichts der exzentrischen Programme hat es die Satire-Truppe "Die Partei" diesmal nicht leicht, sich mit ihren unernsten Vorschlägen abzuheben: So hat die Partei um Ex-"Titanic"-Chefredakteur Martin Sonneborn und Schriftstellerin Sibylle Berg "das Einser-Abi für alle" eine "Bierpreisbremse" plus "Dönerpreisbremse (Bier+Döner mit alles=5 Euro)" eine Zweistaaten-Lösung für Deutschland (Ost und West) ins Europawahlprogramm geschrieben. Für die Verballhornung der Politik hat Sonneborn seit zehn Jahren ein Abgeordnetenmandat. Zuletzt reichte es sogar für zwei Sitze, wobei sein Kollege Nico Semsrott Anfang 2021 aus der "Partei" austrat.

Für die eine oder andere Kleinpartei dürfte Geld ein Motiv zum Engagement sein. Denn alle zugelassenen Parteien bekommen schon ab 0,5 Prozent der Stimmen eine Wahlkampfkostenerstattung. Dann überweist der Bund jährlich 1,13 Euro pro Stimme (erst ab vier Millionen Stimmen wird der Betrag auf 0,93 Euro reduziert). Zusätzlich gibt es 0,45 Euro für jeden Euro, den sie als Zuwendung (Mitglieds- oder Mandatsträgerbeitrag oder rechtmäßig erlangte Spende) erhalten haben. Manche Splitterpartei kann - wenn sie sparsam Wahlkampf betreibt - tatsächlich mehr Geld rausbekommen, als sie ausgegeben hat.

Ob nun Überzeugungen, wilde Fantasien oder Geld die Motivation für Kleinparteienpolitiker ist - das diesjährige Splitter-Spektakel wird sich in Zukunft so kaum mehr wiederholen. Ab der Europawahl 2029 wird es wieder eine Sperrklausel geben, konkret eine Zweiprozenthürde für den Sprung ins Europaparlament. Anlass ist ein entsprechender Beschluss des EU-Rates aus dem Jahr 2018, um die völlige Zersplitterung des Parlaments zu verhindern. Danach wären Sperrklauseln zwischen 2 und 5 Prozent möglich. Deutschland hat sich am unteren Schwellenwert orientiert, um auch in Zukunft noch viele Parteien ins Parlament zu lassen. Andererseits dürfte die Zwei-Prozent-Hürde die Zahl der Parlamentsparteien aus Deutschland schon deutlich reduzieren. Es sei denn, der Weltraumfahrstuhl, das ewige Leben oder die Yoga-Kurse für Politiker faszinieren dauerhaft Millionen.

Quelle: ntv.de

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