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"Sahras Family and Friends" Der Wagenknecht-Parteitag ist ein Hochamt der Harmonie

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Viel Applaus für Sahra Wagenknecht, sie ist das verbindende Element des BSW.

Viel Applaus für Sahra Wagenknecht, sie ist das verbindende Element des BSW.

(Foto: REUTERS)

Eine "Linke 2.0" will das Bündnis Sahra Wagenknecht keinesfalls sein, ist es ein bisschen aber doch. Mit einem Unterschied: Kontroversen gibt es beim ersten Parteitag des BSW nicht, nicht mal Fragen.

Zuerst fällt auf, was beim ersten Parteitag des Bündnis Sahra Wagenknecht alles anders ist. Vor dem Tagungsort wehen keine Parteifahnen, im Foyer gibt es keine Büchertische, auch keine Stände von parteiinternen Strömungen wie der Antikapitalistischen Linken oder dem Forum Demokratischer Sozialismus, wie das bei Linken-Parteitagen üblich ist. Es fehlt auch das Chaos, das 2013 den ersten Parteitag der AfD geprägt hat. Denn einen Fehler von Parteigründungen wiederholt das BSW nicht: Es will "kontrolliert wachsen", wie Amira Mohamed Ali, zusammen mit der Namensgeberin Vorsitzende des BSW, im Interview vor dem Parteitag sagte.

Zum ersten Parteitag, auf dem der Parteivorstand komplettiert werden, das Europawahlprogramm verabschiedet und die Kandidatenliste für die Europawahl gewählt werden soll, können deshalb alle Mitglieder kommen, es ist kein Delegiertenparteitag, sondern eine Mitgliederversammlung. Weniger als 450 Mitglieder hat das Bündnis, was kein Zufall ist: "Die Zahl 450 erklärt sich mit der Größe des Veranstaltungsorts in Berlin, an dem wir unseren ersten Parteitag haben - dort passen nicht viel mehr Menschen rein", sagte Mohamed Ali.

Das Tagungszentrum liegt an der Karl-Marx-Allee im Berliner Stadtteil Friedrichshain, so als wolle das BSW ein letztes Mal auf die Wurzeln der Partei aufmerksam machen, die sich eigentlich nicht als "links" oder "rechts" definieren will - wobei Oskar Lafontaine dieses Ziel am Ende etwas vergessen macht, als er in der Abschlussrede die neue Partei als klar links definiert - und alle anderen als mehr oder weniger "rechts". Wie auch immer: Man hat sich in Feindesland gewagt: Friedrichshain ist eine Hochburg der Grünen, die Wagenknecht vor wenigen Monaten als die "inkompetenteste, heuchlerischste, verlogendste und, bezogen an dem realen Schaden, den sie anrichten, aktuell die gefährlichste Partei, die wir im Bundestag haben", bezeichnete.

"Wie ein Familienunternehmen"

Auf ihrer Rede vor dem Parteitag betont Wagenknecht, wie verschieden die Mitglieder ihrer Partei seien, sie kämen aus der Linkspartei, aus anderen Parteien oder seien bisher parteilos gewesen. Aber es ist klar, dass der alte Wagenknecht-Flügel der Linken die neue Partei dominiert. Ein Kandidat für den erweiterten Parteivorstand weist in der Vorstellungsrunde darauf hin, er sei ein ehemaliger Mitarbeiter von Sahra Wagenknecht, ein anderer stellt sich als ihr persönlicher Referent vor. Auf der Europaliste kandidieren eine ehemalige Büroleiterin von Wagenknecht und der Ehemann von Parteichefin Mohamed Ali, die Schlussrede am Abend hält Wagenknechts Mann Lafontaine. Europa-Spitzenkandidat Fabio De Masi, der eine kämpferische Rede hält, ist ebenfalls ein ehemaliger Wagenknecht-Mitarbeiter, Generalsekretär Christian Leye war bis 2021 in ihrem Wahlkreisbüro beschäftigt. "Wie ein Familienunternehmen", witzelt ein Beobachter auf der Pressetribüne. "Sahras Family and Friends."

Viel ist im Saal von Mut die Rede - vom Mut, den man haben müsse, um sich zum Bündnis Sahra Wagenknecht zu bekennen. Man dürfe seine Meinung äußern, sagt Wagenknecht ntv, "aber man muss damit rechnen, dass man ziemlich unter Druck gerät". Für eine offene Gesellschaft, für eine Demokratie sei dies kein erträglicher Zustand. Es klingt fast, als müssten die Delegierten damit rechnen, draußen verhaftet zu werden. Der Stimmung im Saal entspricht das nicht. Die ist nicht ängstlich, sondern freudig erregt.

Spott für Ampel, Grüne und Baerbock

In ihrer Rede wirft Wagenknecht der Politik insgesamt Abgehobenheit vor. Mit Blick auf die Bauernproteste sagt sie, die Ampel lebe "in einem Paralleluniversum", überhaupt habe Deutschland die "dümmste Regierung Europas". Auch später, im Interview mit ntv, sagt Wagenknecht über die Klimapolitik der Bundesregierung, sie verstehe nicht, "wie Politiker so dumm sein können, solche Fehler zu machen".

Wagenknecht schimpft auf "verwöhnte Jungpolitiker" und den "aufgeblasenen Moralismus dieser angeblichen Fortschrittskoalition". Weite Strecken ihrer Rede hält sie in spöttischem Unterton. Über die jüngste Zusage der Bundesregierung, das Luftabwehrsystem Iris-T an Saudi-Arabien zu liefern, sagt sie: "Die Raketen tragen immerhin den weiblichen Namen Iris, so viel Feminismus muss im Hause Baerbock offenbar sein, und wenn in den Rüstungsverträgen gegendert wird, dann ist die grüne Welt in Ordnung."

Wagenknecht fordert Massendemonstrationen "für ein Ende der unsäglichen Ampel"

Kritik übt sie auch an der AfD. Überhaupt ist das BSW sehr bemüht, seine antifaschistische Grundhaltung zu betonen. Die Schriftstellerin und Publizistin Daniela Dahn sagt als Gastrednerin, das Datum des Parteitags, der Holocaust-Gedenktag, sei bewusst gewählt worden. Sahra Wagenknecht habe sie gebeten, über die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zu sprechen, und das tut sie auch. "Von diesem Parteitag geht unmissverständlich das Engagement für Antirassismus und Antifaschismus aus", betont Dahn.

Den aktuellen Umfrageerfolg der AfD erklärt Wagenknecht so: "Nachdem man den Leuten jahrelang eingehämmert hat, dass alles Vernünftige rechts sei", wundere man sich, dass eine rechte Partei erstarke. Das sei "nicht Ergebnis einer genialen Politik in der AfD-Zentrale", sondern einer falschen Politik in Berlin. Über die jüngsten Demonstrationen gegen Rechtsextremismus sagt sie: "Jetzt gehen die Ampel-Politiker selbst auf die Straße und demonstrieren gegen die Ergebnisse ihrer eigenen Politik." Das sei "eine Scheinheiligkeit". Dann ergänzt sie, dass sich auch "viele, viele Menschen" an den Demonstrationen beteiligten, weil sie Angst vor einem Erstarken der AfD hätten. Diese Angst habe sie auch, aber wer die AfD wirklich schwächen wolle, sollte auch für politische Forderungen demonstrieren, etwa für einen Mindestlohn von 14 Euro, für bezahlbare Energie und gegen Wirtschaftssanktionen gegen Russland - "und am besten gleich für Neuwahlen und ein Ende der unsäglichen Ampel", dafür bräuchten wir eigentlich Massendemonstrationen".

Auf die Rede folgen zweieinhalb Minuten Applaus, Standing Ovations, Jubel. "Wir sind keine Linke 2.0, und das muss auch für unseren Umgang miteinander gelten", hatte Wagenknecht gesagt. "Lasst uns eine Partei des Miteinander werden, nicht der Intrigen." Diese Sorge scheint unbegründet, der Parteitag ist ein Hochamt der Harmonie. Bei den offenen Abstimmungen gibt es so gut wie keine Gegenstimmen, es gibt keine Kampfkandidaturen, keine kontroverse Debatte und nicht eine einzige echte Frage an die 20 Personen auf der Europa-Liste, an die Kandidaten für den stellvertretenden Parteivorsitz oder den erweiterten Parteivorstand, der aus zwölf Männern und zwei Frauen besteht. Von den 14 Personen erhalten nur drei weniger als 90 Prozent Zustimmung - das schlechteste Wahlergebnis hat Thomas Geisel, ehemaliger Oberbürgermeister von Düsseldorf und ehemaliges SPD-Mitglied. Zusammen mit Fabio De Masi ist er Spitzenkandidat für die Europawahl. Im Parteivorstand wollten ihn nur 66 Prozent der anwesenden BSW-Mitglieder sehen.

Im Zweifel für Russland

Kritik ist hier undenkbar. Schon vor dem Parteitag hatte ein Mitglied dem Schweizer Fernsehen ein kurzes Interview gegeben, auf die Frage, wie er Sahra Wagenknecht finde, sagt er: "ganz hervorragend". Eine sympathische alte Dame zeigt sich ebenfalls ganz begeistert von der Parteigründerin, sie war Mitglied der Linkspartei und macht bei "Aufstehen" mit, Wagenknechts gescheitertem Bewegungsprojekt, das aber offenbar als Basis für die Bearbeitung der ersten Mitgliedsanträge als Netzwerk funktioniert. Rasch breitet die 88-Jährige ihre politischen Grundüberzeugungen aus: Politik müsse für den Bürger gemacht werden, die DDR sei im Gegensatz zur Bundesrepublik konsequent antifaschistisch gewesen und die USA seien grundsätzlich schlimmer als Russland.

So deutlich sagt das in der Halle natürlich niemand, auch wenn Daniela Dahn die EU eine "transatlantische Filiale der USA" nennt. De Masi fordert, der Anschlag auf die North-Stream-Pipelines, "dieser staatsterroristische Akt", müsse endlich aufgeklärt werden. Vermutlich niemand im Saal zieht auch nur in Erwägung, dass Russland für den Anschlag verantwortlich sein könnte. Im Zweifel für Russland: Eine Kandidatin für die Europawahl behauptet, die Ukraine sei ein Land, "das politische Gegner verfolgt und tötet". Als Thomas Geisel sagt, in Europa drehe sich alles nur noch um das geopolitische Ziel, Russland zu demütigen, kriegt auch er Beifall.

Quelle: ntv.de

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