Wieduwilts Woche

Wieduwilts Woche Nachrichtenvermeidung strafft die Haut

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Der Schauspieler Klaus Kinski 1964 in einer Drehpause beim Zeitunglesen. "Selfcare" gab es damals noch nicht.

Der Schauspieler Klaus Kinski 1964 in einer Drehpause beim Zeitunglesen. "Selfcare" gab es damals noch nicht.

(Foto: imago stock&people)

Überall steht dasselbe und alles ist immer so negativ: Viele Menschen vermeiden inzwischen Medien. Es ist schick geworden, uninformiert zu sein.

Es ist Freitag und, uff, es ist alles wieder sehr anstrengend: Joachim Gauck sagt im Radio, die Deutschen sollen mehr an den 17. Juni denken. Immer sollen wir irgendwas! Die CDU will am Wochenende ihren Kurs finden. Na, wenn schon! Im Mittelmeer sind womöglich Hunderte Migranten ertrunken, berichten die Agenturen. Schrecklich, man fühlt sich ja so hilflos, fast wie diese Leute im Schiff!

Ich glaube, ich bin nachrichtenmüde - und damit bin ich nicht allein. Die Menschen verlieren das Interesse an Nachrichten, jeder zehnte versucht sogar aktiv, den Nachrichtenkonsum zu vermeiden - das ist das Ergebnis des gerade erschienenen Digital News Report 2023. Gerade einmal 52 Prozent der erwachsenen Internetnutzer hierzulande sind demnach äußerst oder sehr an Nachrichten interessiert, fünf Prozentpunkte weniger als im Vorjahr. "News avoidance" nennt die Wissenschaft das, die Vermeidung von Nachrichten.

Journalismus ist aber auch ein schwieriges Produkt. Früher war es noch etwas attraktiver: An der Uni war es schick, mit dicken zusammengerollten Zeitungen im Rucksack herumzulaufen. Man bekam "Zeit", "Süddeutsche" und "F.A.Z." alle zwanzig Meter von irgendeinem anderen Studenten aufgedrängt und musste dann immer dran denken, das Probeabo nach zwei Wochen abzubestellen. Dennoch war es ein Statussymbol. Bei mir war es erst die "Süddeutsche", dann die "F.A.Z.", gelesen wurden diese Batzen freilich nur sporadisch. Heute ist es wie mit der Plattensammlung: Das ehemals weithin sichtbare Distinktionsmerkmal ist in die digitale Unsichtbarkeit verschwunden. Ob wer liest oder nicht, kann man ihm nicht ansehen.

"Wer sagt euch eigentlich, was ihr schreiben sollt?"

"Es steht überall immer dasselbe", sagte mir kürzlich ein Bekannter beim Kaffeekränzchen und setzte nach: "Wer sagt euch eigentlich, was ihr schreiben sollt?" Ich versuchte mich nicht an meinem Törtchen zu verschlucken und fragte ihn, wie er sich das vorstelle. Die Redaktion tritt zusammen, die Tür fliegt auf und der Regierungssprecher gibt die Losung des Tages aus? "Nein", sagte der Bekannte, so meine er das natürlich nicht, aber es stünde ja wirklich überall dasselbe. Er interessiere sich viel mehr für Crypto, aber darüber schrieben wir ja nie etwas. (Was nicht stimmt.)

Wie so viele Missstände hat die Pandemie auch diesen beschleunigt: Besonders das Thema Covid-19 habe die Menschen ermüdet - Sie erinnern sich, das war dieses Virus neulich mit den Toten, Masken und Querdenkern. Außerdem, sagen viele Befragte, zögen einen die Nachrichten mental herunter. Sogar Journalisten räumen Ermüdungserscheinungen ein, manche sagen es dezent nach einer langen Woche, andere schreiben es in einem Essay für die "Washington Post".

Die Pandemie hat uns alle zerzaust zurückgelassen, auch den Journalismus. Das liegt auch an Menschen wie Jan Josef Liefers, die in der Pandemie ihre eigene Überforderung nach außen stülpten und die mediale Vielfalt in Deutschland kurzerhand mit der DDR verglichen. Nichtlesen als Akt der Rebellion - die Leute vom 17. Juni wären stolz auf Liefers.

Auf ins Achtsamkeitsnirwana

Der Zeitgeist hilft dabei, die bequeme Ignoranz zu Selfcare zu veredeln: In der glückverpflichteten Wohlfühlgesellschaft sind Nachrichten nun eine Challenge auf dem Weg ins vogelstraußige Achtsamkeitsnirwana. Wer heute hektisch durch die Nachrichten klickt, dem werfen die Mitmenschen schnell Doomscrolling vor, also das Hüpfen von Schrecken zu Schrecken. Angeblich kann das posttraumatische Belastungsstörungen auslösen. Nachrichtenvermeidung strafft dagegen die Haut, vermute ich.

Es ist auch ein karriereförderliches Charaktermerkmal, sich nicht mehr über das Weltgeschehen zu informieren. Auf LinkedIn hat die Dummheit bekanntlich ein Netzwerk gefunden, hier verkauft man jeden durch den Schädel taumelnden Halbgedanken als Vision. Dort postete kürzlich ein Mann in Kurzarmhemd und Kassengestell ein Bild von der durchgestrichenen "Tagesschau", denn er konsumiere keine Nachrichten mehr. Er macht etwas mit Leadership und Mindset und bekam für seinen Beitrag viel Applaus. "Endlich sagt es jemand", lautete der Tenor vieler Kommentare, oft von Menschen verfasst, die gleichfalls etwas mit Leadership, Mindset und Selfcare machen. Es ist schick geworden, uninformiert zu sein.

"Konstruktiver Journalismus" statt Nörgelei

Bohrt man etwas nach, ob als Forscher oder Mitmensch, zeigt sich: Der Nachrichtenkonsum geht zurück, aber er verlagert sich oft auf Promis und Halbpromis, die das Weltgeschehen in Videos und Podcasts munter aufbereiten - freilich, indem sie für andere den Nachrichtenkonsum und auch das Denken übernehmen.

Das bedeute freilich auch, dass Menschen wie der geschasste "Bild"-Chef Julian Reichelt an Einfluss gewinnen: Vom klassischen Journalismus verstoßen, senden sie auf eigenem Kanal vor allem Meinung, Angst und Häme, also das, was digital so schön knallt. Reichweite ist hier alles, Geld muss er nicht verdienen. Beobachter gehen inzwischen fest davon aus, dass Reichelt vom Milliardär Frank Gotthardt finanziert wird. Kein Wunder, dass Influencer ein Traumberuf ist - und Journalist nicht mehr: Die Bewerberzahlen gehen zurück.

Die Branche ist aufgescheucht, mehr als ohnehin schon. Selbst Journalistikprofessoren erwärmen sich auf einmal für Konzepte, die sich so gut anfühlen wie ein drinnen noch ein bisschen weicher Schokomuffin: "Konstruktiver Journalismus" heißt das dann, der fokussiert sich, einfach gesagt, auf die Erfolgsgeschichten, also Projekte, die gut geklappt haben - anstatt an dem herumzunörgeln, was gerade schiefgeht.

Informiertsein für die Firma

Andere konzentrieren sich auf den ultra-interessierten Rest: Fachliche Newsletter versorgen für teils enorm hohe Preise diejenigen, die sich in einer bestimmten Nische auskennen müssen. Damit spart man sich den Batzen Papier samt Feuilleton, hat man ja eh immer ungelesen weggeworfen. Die Gebühren zahlt die Firma, der Verband, das Institut. Das Auf-dem-Laufenden-sein galt als Bürgerpflicht und schnürt nun zu einem Teil der werktäglichen Arbeitszeit: Informiertsein gern, aber nur für die Firma.

Was soll schon schiefgehen? Die Welt dreht sich weiter, auch wenn keiner zuschaut. Die wirklich wichtigen Dinge erreichen einen ja doch irgendwie. Oder? Gut: Das Grundgesetz geht irgendwie schon davon aus, dass sich die Menschen aktiv informieren wollen. Die freie politische Presse sei für eine moderne Demokratie "unentbehrlich" meinte das Bundesverfassungsgericht, ja sogar "schlechthin konstituierend".

Aber, mal ehrlich - was wissen diese Karlsruher Richter schon von Mindset, Leadership und Selfcare?

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen