Collinas Erben

"Collinas Erben" auf Spurensuche Der VAR und die ärgerliche Erklärung des Unerklärlichen

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Das Spitzenspiel der Fußball-Bundesliga zwischen Eintracht Frankfurt und Borussia Dortmund wird dominiert vom Ärger. Ein Fehler des Schiedsrichters wird nicht mithilfe des VAR korrigiert - weil dieser die falschen Kameraperspektiven sichtet. Ein Lapsus, der sich hätte vermeiden lassen.

"Kurz und nicht sonderlich entspannt" sei die Nacht für ihn gewesen, bekannte Sascha Stegemann am Sonntagmorgen freimütig in der Sport-1-Sendung "Doppelpass", der er via Skype zugeschaltet war. Der Unparteiische hatte am Abend zuvor das Topspiel zwischen Eintracht Frankfurt und Borussia Dortmund (1:2) geleitet und dabei wenige Minuten vor der Halbzeitpause eine falsche Entscheidung getroffen, die potenziell spielentscheidend war, aber keinen Eingriff von VAR Robert Kampka nach sich zog: Beim Stand von 1:1 blieb das klare Stoßen von Karim Adeyemi gegen den Frankfurter Jesper Lindström im Dortmunder Strafraum ungeahndet, die Gastgeber bekamen nicht den fälligen Strafstoß zugesprochen. Da Lindström in zentraler Position wenige Meter vor dem Tor eine offensichtliche Torchance hatte und ein Stoßen kein Vergehen im Kampf um den Ball ist, wäre außerdem eine Rote Karte für Adeyemi fällig gewesen.

Bereits nach dem Schlusspfiff hatte Stegemann im Sky-Interview seinen Fehler unumwunden eingeräumt. "Wenn ich jetzt die Bilder mit den entsprechenden Kameraperspektiven sehe, dann muss man klar konstatieren, dass es einen Strafstoß für Eintracht Frankfurt hätte geben müssen", sagte er. Es habe "einen klaren Impuls mit beiden Händen" gegeben, der ausreichend gewesen sei, um Lindström zu Fall zu bringen. Auf dem Feld habe er "aber kein klares Foul erkennen" können, "keinen klaren Impuls, sondern nur einen normalen Körperkontakt". Das habe er auch dem VAR übermittelt. Dieser habe die Entscheidung überprüft und "als nicht klar und offensichtlich falsch eingestuft". Daher habe es auch keine Empfehlung von Kampka gegeben, sich die Bilder im On-Field-Review noch einmal anzusehen.

Was hinderte den VAR am Eingriff?

Kaum jemand, der die Fernsehbilder gesehen hat, dürfte diese Entscheidung nachvollziehen können - zumindest nicht den Entschluss des Video-Assistenten, von einem Eingriff abzusehen. Fehlwahrnehmungen auf dem Rasen können gerade bei einem ungünstigen Blickwinkel des Referees passieren, aber vom VAR, der auf mehrere Kameraperspektiven zugreifen kann, wird zu Recht erwartet, dass er eine für jeden Fernsehzuschauer erkennbare, mithin offensichtlich falsche Entscheidung auch als solche identifiziert und den Schiedsrichter daraufhin an den Monitor am Spielfeldrand schickt, damit dieser seinen Fehler anschließend korrigiert. Doch warum tat Robert Kampka das dann nicht? Was hinderte ihn an der Intervention?

Stegemann bemühte sich im "Doppelpass" um Aufklärung und legte offen, wie der Prozess im Kölner Video-Assist-Center ablief. Nicht, um sich zu rechtfertigen oder eine Ausflucht zu suchen - dass die Entscheidung falsch gewesen sei und ihm leidtue, betonte er ausdrücklich -, sondern um zu erklären, was viele unerklärlich finden. Demnach schaute sich Kampka auf seinem Hauptmonitor die vier Kameraperspektiven des "Standard-Setups" an, das auf einem sogenannten Splitscreen dargestellt ist. In keiner dieser vier Perspektiven sei für ihn Adeyemis Körpereinsatz eindeutig als regelwidriges Stoßen und somit als Foulspiel zu erkennen gewesen. Deshalb sei der VAR zu dem Schluss gekommen, dass keine klare Fehlentscheidung vorlag.

Der Prüfprozess wurde zu schnell abgeschlossen

Als die "Doppelpass"-Runde darauf mit Unverständnis reagierte und auf die Bilder verwies, die in der Live-Übertragung zu sehen waren, präzisierte Stegemann: Die vier Kameraeinstellungen, die dem VAR im "Standard-Setup" vorgelegen hätten, seien andere gewesen als jene, die das Fernsehen gezeigt habe. Dazu muss man wissen: Den übertragenden Sendern steht derselbe Bilderpool zur Verfügung wie dem VAR, er setzt sich aus mehr als 20 verschiedenen Kameraperspektiven zusammen. Sogenannte Operatoren - die neben dem VAR sitzen und keine Unparteiischen des DFB sind, sondern spezialisierte Mitarbeiter des Anbieters der VAR-Technologie - versorgen die Video-Assistenten mit den Bildern und schalten ihnen bei Bedarf weitere Kameraeinstellungen aus dem Pool zu.

Kampka hätte also nach der Sichtung der ersten vier Perspektiven weitere Bilder aus anderen Blickwinkeln anfordern und anschauen können. Doch darauf verzichtete er, wohl weil er nicht erwartete, dass diese ihn zu einem anderen Ergebnis führen könnten. Ein Fehler, wie auch Stegemann befand, als er sagte, der Überprüfungsprozess in Köln sei zu schnell abgeschlossen worden und damit zulasten der Gründlichkeit und Sicherheit gegangen. "Wenn man die Programmbilder sieht" - also die Kameraeinstellungen, die Sky bei der Live-Übertragung zeigte -, müsse man "zu einem anderen Ergebnis kommen" als der VAR, so der Unparteiische, der in Dortmund sein 122. Bundesligaspiel leitete.

Das Fernsehen zeigte aussagekräftigere Bilder

Das heißt: Sky strahlte aussagekräftigere Perspektiven aus dem gemeinsamen Bilderpool aus, als sie dem Video-Assistenten im "Standard-Setup" vorgelegt wurden. Das ist zunächst einmal nichts Ungewöhnliches, schließlich verfügen Bildregisseure beim Fernsehen oft über langjährige Erfahrungen in ihrem Beruf und sind damit im Vorteil. Allerdings hätte auch der VAR davon profitieren können, denn auf einem der Monitore in Köln ist das Programmbild des übertragenden Senders zu sehen - ohne Ton, weil die Video-Assistenten nicht durch den Kommentator abgelenkt oder beeinflusst werden sollen. 40 Sekunden nach Adeyemis Foulspiel spielte Sky von dieser Szene die zweite verlangsamte Wiederholung ein, in der das Vergehen am deutlichsten zu sehen war. Da war die Partie noch unterbrochen, das heißt: Der Prüfprozess in Köln lief noch.

Hätte Kampka - oder sein Assistent Markus Häcker - in diesem Moment einen Blick auf den entsprechenden Monitor geworfen und vielleicht auch noch die dritte, ebenfalls eindeutige Wiederholung gesehen, dann wäre das Ergebnis der Überprüfung im Video-Assist-Center mit hoher Wahrscheinlichkeit anders ausgefallen. Der VAR hätte sich diese Kameraeinstellungen auch noch einmal selbst auf seinen Hauptmonitor schalten lassen und ansehen können, um ganz sicherzugehen. Das aber wurde versäumt, und das war fatal. Warum die Fehlentscheidung nicht erkannt wurde, lässt sich so zwar erklären, aber begreiflicher wird sie dadurch nicht.

Wie der DFB den VAR verbessern will

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Jochen Drees, der Projektleiter der Video-Assistenten, sagte unlängst, er ärgere sich über "eine solche Ansammlung von Fehlern, weil wir doch viel Zeit und Mühe investieren in die Aus- und Weiterbildung". Dem "Kicker" zufolge soll deshalb die Winterpause, die aufgrund der WM in Katar deutlich länger dauert als sonst, dazu genutzt werden, die Video-Assistenten intensiver zu schulen. Demnach sollen beispielsweise Spielszenen mit einem Online-Tool bewertet werden und Workshops mit Ex-Profis stattfinden, um die praxisbezogene Auslegung von Zweikämpfen zu verbessern. Darüber hinaus gibt es offenbar Überlegungen, verstärkt mit festen Teams aus Schiedsrichtern und VAR zu arbeiten. Die Kommunikation und die Bewertung von Spielvorgängen lassen sich so zweifellos verbessern und harmonisieren.

Ein guter, richtiger und notwendiger Ansatz angesichts der Tatsache, dass die Kritik an den Video-Assistenten nicht verstummen will - was übrigens kein rein deutsches Problem ist: In anderen europäischen (Top-)Ligen gibt es ähnliche, teilweise sogar noch schärfer geführte Debatten. Sascha Stegemann ist es derweil hoch anzurechnen, dass er nach einem für ihn extrem schwierigen Spiel ohne Umschweife seinen Fehler benannt und analysiert hat. Auch im "Doppelpass", wo seit dieser Saison an jedem Sonntag ein Unparteiischer oder ein Schiedsrichter-Funktionär zugeschaltet wird, um Rede und Antwort zu stehen. Was angesichts der häufig nach Skandalen dürstenden Runde dort eine echte Herausforderung ist.

Quelle: ntv.de

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