"Collinas Erben" forschen nach Hertha hat großes Pech mit dem Regelwerk
24.01.2023, 12:02 Uhr (aktualisiert)

Für Hertha geht der Blick in der Tabelle nach unten.
(Foto: IMAGO/Sven Simon)
Hertha BSC trifft am 16. Spieltag der Fußball-Bundesliga früh, doch zuvor war der Ball im Toraus. Dennoch entbrennt eine Diskussion darüber, ob der VAR überhaupt eingriffsberechtigt war. Nach dem Topspiel zwischen Leipzig und Bayern haben Referee Daniel Siebert und RB-Coach Marco Rose derweil einen bemerkenswerten Dialog vor laufenden Kameras.
Nach dem Schlusspfiff der Partie zwischen dem VfL Bochum und Hertha BSC (3:1) mochte der Berliner Trainer Sandro Schwarz mit einer Szene aus der 11. Minute noch nicht abschließen. Beim Stand von 0:0 erzielte Lucas Tousart für die Gäste aus der Hauptstadt ein Tor, doch diesen Treffer annullierte Schiedsrichter Martin Petersen nach einem Eingriff seines Video-Assistenten Daniel Schlager. Der Grund bestand darin, dass der Ball im Vorfeld der Torerzielung im Toraus gewesen war. Schwarz war dennoch nicht einverstanden mit der Entscheidung, weil er der Ansicht war, dass dieser Tatbestand zu einer bereits abgeschlossenen Angriffsphase der Hertha gehörte und der VAR diese Phase deshalb gar nicht hätte überprüfen dürfen. "Das Tor hätte gegeben werden müssen", war er überzeugt.
Tatsächlich liegen die Dinge nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. Nach einem weiten Ball der Hertha aus der eigenen Hälfte hatte der Bochumer Keven Schlotterbeck im Zweikampf mit Jean-Paul Boetius zunächst den Ball unkontrolliert in Richtung der eigenen Torauslinie geköpft. Boetius erreichte den Ball - ob vor oder hinter der Linie, war in diesem Moment noch nicht zweifelsfrei klar, Referee Petersen ließ jedenfalls weiterspielen - und flankte ihn in den Bochumer Strafraum, fand dort jedoch keinen Mitspieler. Der Bochumer Saidy Janko lief zum Ball, bedrängt von Derry Scherhant, und nach einem kurzen Ballkontakt verlor er ihn einige Meter vor dem Strafraum dann auch an den Herthaner. Nach vier weiteren Stationen traf Tousart ins Tor.
Herthas annulliertes Tor: regeltechnisch verzwickt
Regeltechnisch ist dieser Vorgang etwas komplizierter, als man es vermuten könnte. Das hängt damit zusammen, dass der VAR nach einer Torerzielung nur diejenige Angriffsphase überprüfen darf, die unmittelbar vor dem Treffer lag. Und nicht die gesamte, womöglich mehrere Minuten lange Spielphase seit der letzten Spielunterbrechung, nach der es einen oder mehrere Ballbesitzwechsel gegeben haben kann. Überprüft wird, ob die Mannschaft, die das Tor erzielt hat, in dieser Angriffsphase vor dem Treffer eine Regelwidrigkeit begangen hat - etwa ein Foul, ein Handspiel oder ein strafbares Abseits - oder ob der Ball zwischenzeitlich die Seiten- oder die Torauslinie überschritten hat, ohne dass der Schiedsrichter es wahrgenommen hätte.
Entscheidend war beim Spiel in Bochum die Frage, ob Jankos kurzer Ballkontakt eine Angriffsphase der Hertha beendet und nach der Eroberung des Balles durch Scherhant eine neue Angriffsphase begonnen hatte. Wenn ja, hätte VAR Schlager nur die Sequenz zwischen dieser Balleroberung und der Torerzielung überprüfen dürfen - dass der Ball vorher im Toraus war, wäre dann unerheblich gewesen. Aufschluss gibt diesbezüglich das Handbuch der obersten Regelhüter des International Football Association Board (IFAB) für die Video-Assistenten.
Warum Jankos Ballkontakt keine Ballkontrolle war
Darin heißt es unter anderem: "Eine Angriffsphase endet, wenn das verteidigende Team kontrollierten Ballbesitz erlangt, etwa wenn ein Verteidiger den Ball klärt, ohne unter Druck zu sein, oder ihn klar kontrolliert und sich mit ihm bewegt oder ihn passt." Zudem wird klargestellt: "Eine bewusste, aber unkontrollierte Ballberührung ist kein kontrollierter Ballbesitz." Regeltechnisch betrachtet heißt das: Weil Janko in Bedrängnis und nur einmal kurz am Ball war, sich nicht mit ihm bewegte und ihn auch nicht passte, sondern gleich an Scherhant verlor, hatte er keinen kontrollierten Ballbesitz. Damit war eine durchgehende Angriffsphase der Hertha gegeben, in deren Verlauf der Ball die Torauslinie überschritten hatte. Deshalb überprüfte der VAR zu Recht auch, ob der Ball im Toraus war, und griff ein, weil das der Fall war. Es war also korrekt, das Tor abzuerkennen und das Spiel mit einem Eckstoß fortzusetzen, weil Schlotterbeck den Ball ins Toraus befördert hatte.
Dass nicht nur Sandro Schwarz, sondern auch die Fußballexperten Dietmar Hamann und Erik Meijer im Studio des Fernsehsenders Sky die Szene gleichwohl völlig anders bewerteten und die Entscheidung des Schiedsrichters falsch fanden, hatte weniger regeltechnische als vielmehr fußballerische Gründe: Janko habe den Ball, so argumentierten die Ex-Profis, sehr wohl kontrolliert, aber auf eine technisch schlechte Art und Weise - und ihn deshalb verloren. Eine nachvollziehbare Argumentation, doch diese Unterscheidung wird in der Regelauslegung so nicht getroffen: Schon gegnerischer Druck und eine auch dadurch verursachte schlechte Ballverarbeitung führen dazu, dass nicht von kontrolliertem Ballbesitz ausgegangen wird. Das macht die Bewertung letztlich auch einfacher.
Kein Foul an Kimmich vor Leipziger Ausgleichstor
In spielentscheidenden Situationen richtig lag auch Schiedsrichter Daniel Siebert in der Auftaktpartie des 16. Spieltags zwischen RB Leipzig und dem FC Bayern München (1:1). Nach einer halben Stunde annullierte er beim Stand von 0:0 ein Tor für die Gäste von Leon Goretzka, weil sich Mathijs de Ligt in der Entstehung des Treffers im Abseits befunden und André Silva klar in dessen Möglichkeiten, den Ball zu erreichen, beeinträchtigt hatte, indem er ihn am Arm hielt. Ebenso korrekt war es, Silvas Körpereinsatz gegen Joshua Kimmich vor dem Leipziger Ausgleichstor durch Marcel Halstenberg in der 52. Minute nicht als ahndungswürdig zu bewerten.
Zwar hatte Silva im Zweikampf ein wenig seinen Arm gegen Kimmichs Schulter eingesetzt, doch der Münchner war anschließend allzu widerstandslos zu Boden gegangen. Nicht einmal Kimmich selbst plädierte nach dem Spiel auf Foul, gleiches gilt für Bayern-Trainer Julian Nagelsmann. Unmittelbar nach dem Treffer war allerdings Goretzka laut bei Siebert vorstellig geworden und dafür zu Recht verwarnt worden. Der Unparteiische traf seine Entscheidung, den Zweikampf als regelkonform zu bewerten und das Tor zu geben, sichtlich mit Überzeugung. Sie fügte sich auch gut in seine allgemeine, für dieses Spiel angemessen großzügige Linie bei der Zweikampfbewertung.
Siebert und Rose leben Fair-Play vor
Dass der Schiedsrichter aus Berlin, der auch bei der WM in Katar im Einsatz war, Dayot Upamecano in der 66. Minute nach einem Foulspiel am enteilenden Dominik Szoboszlai lediglich die Gelbe Karte zeigte, war ebenfalls angemessen. Zwar roch es in dieser Situation ein wenig nach einer "Notbremse", doch Siebert selbst erläuterte im Fernsehinterview im Anschluss an das Spiel nachvollziehbar, warum aus seiner Sicht der Münchner Verteidiger keine offensichtliche Torchance vereitelt hatte: Die Distanz zum Tor sei noch recht groß gewesen, außerdem sei Upamecanos Teamkollege de Ligt im Vollsprint auf dem Weg zu Szoboszlai gewesen, um mit einigen Erfolgsaussichten den Leipziger zu stören.
Sieberts Ausführungen lauschte der Leipziger Trainer Marco Rose, der den Referee anschließend in dessen Beisein lobte: "Besser kann man es nicht erklären. Hervorragend argumentiert. Auch ich habe es jetzt verstanden." Anschließend begründete der Unparteiische gegenüber dem Coach, warum er ihn nach 84 Minuten verwarnt hatte: Rose hatte deutlich protestiert und sich dabei ein Stück aufs Spielfeld begeben. "Du kannst vielleicht abwinken, ich verstehe die Emotionen", sagte Siebert. "Du kannst das hinter der Bande machen. Aber dadurch, dass du auch auf dem Feld standest, kamen wir nicht drumherum, dir eine Gelbe Karte zu geben."
Rose akzeptierte auch diese Erklärung und nannte die Verwarnung "total berechtigt", bevor er kurz umriss, was ihn während des Spiels konkret gestört hatte. Ein fairer und von gegenseitiger Wertschätzung getragener Dialog zwischen dem Übungs- und dem Spielleiter, in dem wohltuend ruhig und sachlich Argumente und Erläuterungen ausgetauscht wurden. Nach emotionalen Spielen mag das vielleicht nicht immer vor laufender Kamera möglich sein, aber diese Transparenz des Schiedsrichters und der aufrichtige, respektvolle Umgang miteinander ist grundsätzlich allemal zur Nachahmung empfohlen.
(Dieser Artikel wurde am Montag, 23. Januar 2023 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de