Grüne Megacity Neom in der Wüste Saudische "Apollo-Mission" lockt deutsche Firmen an
05.11.2022, 06:50 Uhr
Eine Zeichnung von "The Line": Die Linien-Stadt soll einmal 170 Kilometer lang, aber nur 200 breit sein.
(Foto: picture alliance / abaca)
Für 500 Milliarden US-Dollar will Saudi-Arabien mitten in der Wüste eine grüne Stadt für neun Millionen Menschen bauen. Ein reizvolles Projekt, auch für deutsche Firmen. Eine akzeptable Chance oder schlicht eine teure Fantasie eines Kronprinzen?
Mitten in der Wüste von Saudi-Arabien soll eine riesige, grüne Stadt entstehen. Die ersten Baumaßnahmen haben begonnen: Bagger und Planierraupen sind eingetroffen, an einigen Stellen wird schon betoniert, an anderen Stellen steht bereits der Stahl. Planungsteams mit Tausenden von Menschen arbeiten an der Megacity "Neom". So schildert es Alexander Rieck im ntv-Podcast "Wirtschaft Welt & Weit". Er ist als Direktor und Gründer des internationalen Architekturbüros Lava aktiv an der Errichtung der Stadt beteiligt.
Die Pläne für den Nordwesten von Saudi-Arabien erscheinen utopisch: Auf einem Gelände, das etwa so groß ist wie Belgien, soll unter anderem ein Gebäudekomplex entstehen, der als "The Line" bezeichnet wird. Wie mit dem Lineal gezogen soll sich das Bauwerk über eine Länge von 170 Kilometern erstrecken - nur 200 Meter breit, aber mit 500 Metern Wolkenkratzer-hoch.
Stadt ohne Autos
In dem gigantischen Komplex aus Beton und Glas sollen einmal neun Millionen Menschen leben. Weit mehr als eine Million Menschen werden bereits zum Jahr 2030 erwartet - ohne Straßen und Autos, stattdessen mit Pools, Sportstadien, kurzen Wegen, öffentlichen Verkehrsmitteln und einer grünen Lunge aus endlich vielen Bäumen und Grünpflanzen: Neom soll die weltweit erste Stadt sein, die komplett auf erneuerbare Energien setzt und keine CO2-Emissionen mehr produziert.

Neom aus der Luft: Noch besteht die Utopie aus nicht mehr als ein paar Containerbauten in der Wüste.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
"Neom ist sowas wie eine Apollo-Mission", konstatiert Alexander Rieck - und vergleicht das Wüstenprojekt in "Wirtschaft Welt & Weit" mit der amerikanischen Mond-Mission. Es würden unglaublich viele Energien und Expertisen zusammengezogen, um es wahr werden zu lassen. Auch für den Nahostforscher Sebastian Sons hat das Projekt Signalwirkung: "Selbst wenn nur zehn oder zwanzig Prozent von Neom umgesetzt werden, ist das noch immer historisch für Saudi-Arabien."
Lukrativer Markt
Doch will Kronprinz Mohammed bin Salman dem Klimawandel mit Neom wirklich den Kampf ansagen oder geht es hier schlicht um Greenwashing, wie manche Experten behaupten? Der Bausektor gehört zu den schmutzigsten Wirtschaftszweigen der Welt. Gerade die Herstellung von Stahl und Beton frisst Unmengen natürlicher Ressourcen und verursacht einen sehr hohen Ausstoß von CO2. Und die 500 Milliarden US-Dollar, die Saudi-Arabien für die Finanzierung garantiert, stammen in erster Linie aus dem Geschäft mit dem Öl.
Dennoch ist das Königreich für deutsche Wirtschaft ein lukrativer Absatzmarkt. Saudi-Arabien importiert Maschinen, Fahrzeuge, Fahrzeugteile und chemische Erzeugnisse - und bald auch deutsches Know-how? "Saudi-Arabien hat Interesse daran, mit einem ehrlichen Partner aus der deutschen Wirtschaft in Neom Industrien anzusiedeln", erklärt der am Projekt beteiligte Architekt Rieck. Das Königreich wolle enger mit Deutschland kooperieren.
Die ersten deutschen Unternehmen sind vom Potenzial der grünen Utopie überzeugt. Thyssenkrupp und Volocopter engagieren sich bereits bei dem auf Jahrzehnte angelegten Bauvorhaben in der Wüste. Und auch Bundeskanzler Olaf Scholz hat bei seinem Besuch im September Interesse an einer Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen bekundet. Vor allem, um abseits des saudischen Öls neue Energiepartnerschaften aufzutun. Ein Wunsch, der auf Gegenseitigkeit beruht: Das Land habe verstanden, dass die Ölquellen nicht für immer sprudeln, sagt Nahostforscher Sons. Deshalb setze Saudi-Arabien nun vor allem auf Solarenergie und Wasserstoff.
Interessant ist Neom für deutsche Unternehmen nicht nur, weil Solarenergie in naher Zukunft zum Spottpreis von einem Cent pro Kilowattstunde zu haben sein soll. Auch die Nähe zum Suezkanal macht den Standort für Deutschland logistisch interessant. Genauso wie die Tatsache, dass in der Megacity von morgen nicht mehr das jahrhundertealte und strenge Recht der Sharia gelten soll, sondern Gesetze, die sich eher an westlichen Demokratien orientieren.
Menschenrechte in Saudi-Arabien
Mit 81 Hinrichtungen an einem Tag, wie im März 2021 in Saudi-Arabien geschehen, wird die deutsche Industrie in Neom also womöglich nicht konfrontiert. Dennoch bleibt vor allem die Menschenrechtsperspektive ein großes Risiko für interessierte Unternehmer. Kronprinz Mohammed bin Salman zieht seine Vision von der klimaneutralen Megacity knallhart und gegen alle Widerstände durch. Beduinen in der Wüstenregion klagen über Zwangsräumungen und Verhaftungen. Sogar von der vertuschten Ermordung eines Kritikers ist die Rede.
Er wäre nicht der erste Vorfall dieser Art: Der regierungskritische Journalist Jamal Khashoggi war vor vier Jahren im saudischen Generalkonsulat in Istanbul von saudischen Sicherheitskräften ermordet worden - nach Informationen von US-Geheimdiensten im Auftrag des Kronprinzen.
Ein Signal an die Welt
Nahostforscher Sebastian Sons glaubt, dass der Kronprinz genau dieses Image mit Neom abschütteln will und wir gerade seinen Versuch beobachten können, die saudische Gesellschaft großflächig zu transformieren. Neom steht symbolisch für ein neues Saudi-Arabien. "Dahinter steckt politisches Kalkül", ist sich Sons sicher. "Neom soll ein Zugpferd sein, um die Macht des Herrschers zu legitimieren und zu konsolidieren." Und es sei ein Signal an die Welt, um zu zeigen, wozu das Königreich fähig ist.
Übrigens: Das asiatische Olympia-Komitee hat neulich erst beschlossen, dass 2029 die Asien-Winterspiele in Neom stattfinden sollen. Spätestens dann müsste ein Teil von Neom fertig sein.
Was muss Deutschland tun, um in der Wirtschaftswelt von morgen noch eine wichtige Rolle zu spielen? Von wem sind wir abhängig? Welche Länder profitieren von der neuen Weltlage? Das diskutiert Mary Abdelaziz-Ditzow im ntv-Podcast "Wirtschaft Welt & Weit" mit relevanten Expertinnen und Experten.
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Quelle: ntv.de