Wirtschaft

Neue Grundsicherung, alte Lücken Mit welchen Problemen Arbeitsvermittler kämpfen

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Hohe Mieten können den Arbeitsanreiz zusätzlich senken.

Hohe Mieten können den Arbeitsanreiz zusätzlich senken.

(Foto: picture alliance / CHROMORANGE)

Der Großteil der Bürgergeld-Empfänger wirkt bei der Arbeitssuche mit. Bei den schwarzen Schafen fehlt es den Behörden bisher allerdings nicht nur an Sanktionsmöglichkeiten. Ein Kontrolleur schildert die Schwachstellen - auf beiden Seiten des Systems.

Die Bürgergeld-Reform geht in den Augen von Mitarbeitern der Jobcentern grundsätzlich in die richtige Richtung. Doch jetzt kommt es für die Arbeitsvermittler darauf an, ob sie künftig das richtige "Werkzeug" an die Hand bekommen. Außerdem haben sie mit weiteren Schwachstellen zu kämpfen, die die Bundesregierung bisher nicht in den Blick nimmt. Ein Mitarbeiter der Fachaufsicht für Jobcenter, der selbst jahrelang in der Arbeitsvermittlung tätig war, schildert ntv.de die seiner Ansicht nach zentralen Stellschrauben der Grundsicherung.

Kunden müssen zum Termin kommen - wirklich

Das demnach größte Problem soll die Bürgergeld-Reform tatsächlich beheben: "Die Kunden müssen zum Termin im Jobcenter erscheinen", sagt der Arbeitsagentur-Mitarbeiter*. "Wir können nur mit den Leuten arbeiten, wenn wir sie sehen." Die Zahl der Verweigerer ist gering, insgesamt werden nur wenige Sanktionen ausgesprochen, die meisten davon jedoch für versäumte Termine.

Auch der Bundesrechnungshof hat gerade erst kritisiert, dass ein Teil der Bürgergeld-Empfänger monate- oder sogar jahrelang nicht erreichbar ist. Die Mitarbeiter der Jobcenter sollen das künftig deutlich schärfer sanktionieren können, bis hin zum Totalentzug der Leistungen. "Spätestens dann kommen die Leute", meint der Aufseher. Der Großteil der Jobcenter-Beschäftigten hatte sich laut einer Umfrage schärfere Sanktionen gewünscht.

Entscheidend sei nun allerdings, dass nicht zu viele Ausnahmen formuliert werden, bei denen ein Fernbleiben nicht sanktioniert wird, fordert der Kontrolleur. Aus seiner Sicht wären nur Krankheit und fehlende Kinderbetreuung ein triftiger Grund, nicht zum Termin zu erscheinen.

Zu wenige Ärzte zur Kontrolle

Bei Krankheitsfällen klafft laut dem ehemaligen Arbeitsvermittler eine weitere Lücke. Das Budget der Jobcenter sei zu niedrig, um etwa mehr Amtsärzte zu beschäftigen, die Leistungsempfänger untersuchen können, die sich in Dauerschleife krank melden. Andererseits mangelt es an Bewerbern, da Mediziner andernorts deutlich mehr verdienen können als im öffentlichen Dienst.

Unnötige Fördermaßnahmen

An anderer Stelle fließt in den Augen des Aufsehers dagegen unnötig Geld. Wird das Budget für die Förderung von Arbeitssuchenden nicht voll ausgeschöpft, kritisiere das Arbeitsministerium, die Jobvermittler würden nicht alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Leistungsbezieher in Arbeit zu bringen. In der Folge böten Arbeitsvermittler ihren Kunden teils unnötige, unwirksame Maßnahmen an. "Ich kann nicht jeden qualifizieren", sagt der ehemalige Vermittler. "Das ist ein Trugschluss." Für zielführende Qualifizierungsmaßnahmen ist das Budget seiner Einschätzung nach mehr als ausreichend.

Ein Vermittler für 400 Arbeitslosengeld-Empfänger

Nicht ausreichend sei hingegen der Betreuungsschlüssel in den Arbeitsagenturen, die für die Empfänger von Arbeitslosengeld I verantwortlich sind. Während in den Jobcentern festgelegt ist, wie viele Bürgergeld-Empfänger ein Arbeitsvermittler betreut, würden in den Arbeitsagenturen teils 400 Arbeitslose von einer Person betreut. Dabei sei der Arbeitsmarkt komplexer und der Betreuungsaufwand pro Kunde entsprechend größer geworden, betont der frühere Arbeitsvermittler. So seien etwa ganze Arbeits- und Wirtschaftsbereiche neu entstanden, beispielsweise durch die Transformation zu erneuerbaren Energien oder in der Autoindustrie.

Anteil schwer Vermittelbarer wächst

Und auch die Kundenstruktur hat sich verändert, berichtet der Aufseher. "Der Anteil der Arbeitslosen, die einen deutlich höheren Begleitungsbedarf haben, ist stark gestiegen." Leichter vermittelbare Arbeitssuchende fänden heute schneller einen neuen Job, weil die Arbeitgeber infolge des Fachkräftemangels in den vergangenen Jahren ihre Anforderungen gesenkt haben. Übrig blieben zunehmend die Bewerber, bei denen der Aufwand größer ist, um sie fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Gleichzeitig wachsen dem Kontrolleur zufolge mehr Kinder von Leistungsempfängern nach, die das Sozialsystem gar nicht erst verlassen.

Hohe Mieten senken Arbeitsanreiz

Eine entscheidende Rolle spielen dabei in seinen Augen die stark gestiegenen Mieten. Denn diese verschärfen den vermeintlich fehlenden Arbeitsanreiz: die relativ geringe Differenz zwischen Erwerbseinkommen im Niedriglohnsektor und den Bürgergeld-Sätzen. So ist es in Großstädten inzwischen schwer geworden, Wohnungen mit einer Warmmiete unter 1000 Euro zu finden. "Wenn das Jobcenter die Miete übernimmt, muss ich mir keine Gedanken über die Miete machen", sagt der frühere Arbeitsvermittler. Auch ein Zwangsumzug in eine günstigere Wohnung drohe inzwischen viel seltener, da diese kaum zu finden sind.

Wer für eine Vierzimmerwohnung für eine vierköpfige Familie 1500 bis 1800 Euro warm bezahlen muss, rechnet eher nach, ob sich ein Niedriglohn-Job als Alleinverdiener lohnt. Wenn mit dem Bürgergeld weitere Sozialleistungen wie das vergünstigte Nahverkehrsticket und vor allem Zuschüsse für Kinder wie kostenloses Mittagessen, für Klassenfahrten oder auch Nachhilfe entfallen, beträgt das Netto-Mehreinkommen durch Erwerbstätigkeit teils nur noch wenige Hundert Euro - bei einem ungleich stressigeren Alltag, wenn Berufstätigkeit und Kinder unter einen Hut gebracht werden müssen. Wenn Eltern in der Folge nicht alles geben, um den Leistungsbezug zu verlassen, leben sie ihren Kindern allerdings vor, "dass es auch ohne Arbeit geht", bedauert der frühere Arbeitsvermittler.

Das Jobcenter übernimmt die Kosten für Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe. Bisher wird im ersten Jahr des Bürgergeld-Bezugs die Angemessenheit der Unterkunftskosten allerdings nicht geprüft. Medienberichten zufolge möchte Schwarz-Rot die Kosten künftig von Anfang an deckeln: auf das Anderthalbfache einer Angemessenheitsgrenze, wie die "Süddeutsche" schreibt.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Arbeitsagentur plädiert angesichts fehlender Arbeitsanreize dafür, die verschiedenen Sozialleistungen - etwa auch Wohngeld oder Kinderzuschlag - in der Grundsicherung zu bündeln. "Wir schlagen vor, diese Leistungen in ein System zu integrieren, in dem Sozialleistungen dann gleichmäßig abgeschmolzen werden, aber auf eine Art und Weise, dass sich mehr Arbeiten immer lohnt. Wer 100 Euro mehr verdient, verliert zwar 70 Euro an Sozialleistungen, hat aber auf jeden Fall 30 Euro mehr zur Verfügung", sagt IAB-Forscher Enzo Weber.

Nach Berechnungen des IAB würde ein solcher 30-prozentiger Selbstbehalt zu zusätzlicher Erwerbstätigkeit von umgerechnet einer sechsstelligen Zahl an Vollzeitstellen führen. Das rechnet sich auch für den Staat: "Wenn 100.000 Arbeitslose in einem Jahr in die Erwerbstätigkeit kommen, bringt das dem Staat insgesamt drei Milliarden Euro an Einsparungen und neuen Einnahmen", so Weber. Denn dann sinken nicht nur die Sozialausgaben, sondern der Staat erhält zusätzliche Steuern und Abgaben.

Die Zuverdienstgrenzen sind bisher kein Thema bei der Bürgergeld-Reform. Diese dürfte aber nicht abgeschlossen sein, sondern in eine nächste Runde gehen.

*Name ist der Redaktion bekannt

Quelle: ntv.de

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