Stellenabbau und Abwanderung Wird 2024 das Jahr der Deindustrialisierung?


Etliche Unternehmen bereiten laut BWA-Chef Harald Müller längst im großen Stil Produktionsverlagerungen ins Ausland vor.
(Foto: picture alliance / Frank May)
Deutsche Unternehmen blicken mit Sorge auf 2024. Als Wirtschaftsstandort verliert Deutschland an Attraktivität. Während einige Unternehmen sich gezwungen sehen, ihre Mitarbeiter zu entlassen, kehren andere Deutschland den Rücken.
Hohe Steuern, wachsende Energiekosten und eine bremsende Bürokratie. Die deutsche Wirtschaft steht vor einigen Schwierigkeiten. Darüber hinaus locken gerade die USA mit saftigen Subventionen. Der Geschäftsführer der Bonner Wirtschaftsakademie (BWA), Harald Müller, hat 2024 deswegen zum Jahr der Deindustrialisierung ernannt. "Die Deindustrialisierung Deutschlands ist in vollem Gange", zitiert ihn das Branchenportal produktion.de. Aus Gesprächen mit Vorständen, Geschäftsführern und Betriebsräten weiß er: Die Verunsicherung in weiten Teilen der Wirtschaft ist groß. Etliche Unternehmen bereiten längst im großen Stil Produktionsverlagerungen ins Ausland vor. "Es geht nicht mehr um die Frage ob, sondern nur noch um die Frage wie und wie schnell", stellt Müller fest. Er rechnet damit, dass ganze Wirtschaftszweige schon bald ins Ausland abwandern werden.
Seiner Einschätzung nach sind "falsche Weichenstellungen in der Energiepolitik" der Hauptgrund für die Entwicklung. Einige Branchen sind von dem Abwanderungstrend ganz besonders betroffen. Dazu zählt Müller die chemische und die metallverarbeitende Fabrik und die Automobilproduktion mit ihren Zulieferern. Gerade letztere hat bereits mit etlichen Ankündigungen, Stellen zu streichen, von sich reden gemacht. Ein Überblick:
Autozulieferer
· Bosch
Der Automobilzulieferer stellt weltweit rund 1200 Stellen bis 2026 im Auto-Software-Geschäft zur Disposition, davon etwa 950 in Deutschland. Auch bei der Antriebssparte an den baden-württembergischen Standorten Stuttgart-Feuerbach und Schwieberdingen sollen bis Ende 2025 bis zu 1500 Jobs wegfallen. In der Steuergeräte-Sparte streicht der Konzern bis zu 500 Stellen an seinen deutschen Standorten in der Verwaltung und Entwicklung, ebenfalls bis Ende 2025.
· Continental
Der Autozulieferer baut seine kriselnde Autosparte um und streicht weltweit Tausende Jobs, vor allem in der Verwaltung. In der Forschung und Entwicklung seien davon im Zuge eines Effizienzprogramms 1750 Arbeitsplätze betroffen. Zudem bezifferte Continental den im Herbst angekündigten Personalabbau, der überwiegend die Verwaltung betrifft, auf 5400 Stellen. Ob damit auch insgesamt 7150 der gut 203.000 Mitarbeitenden das Unternehmen verlassen, hängt von alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten beim Konzern ab. 40 Prozent der wegfallenden Arbeitsplätze sind in Deutschland angesiedelt. Dem Sparkurs fallen auch zwei Fabriken in Hessen zum Opfer. Die Standorte Schwalbach und Wetzlar sollen bis Ende 2025 geschlossen werden.
· Webasto
Nach einem Gewinneinbruch will der bayerische Autozulieferer mindestens jede zehnte Stelle streichen. "Ein Stellenabbau im zweistelligen Prozentbereich ist voraussichtlich unvermeidbar", sagte Vorstandschef Holger Engelmann. Ende Dezember hatte Webasto 16.000 Mitarbeiter.
· ZF Friedrichshafen
Der Gesamtbetriebsrat des Autozulieferers ZF befürchtet für die kommenden Jahre einen großen Stellenabbau in Deutschland. Betroffen seien mindestens 12.000 Arbeitsplätze, erklärten die Betriebsräte. 10.000 davon könnten demnach bis 2028 wegfallen. Die Zahlen habe der ZF-Vorstand vor Weihnachten präsentiert. Das Unternehmen aus Friedrichshafen am Bodensee wollte die Zahl nicht kommentieren. Zu Spekulationen werde man sich nicht äußern, sagte Personalchefin Lea Corzilius und warnte vor Panikmache.
Chemiebranche
· BASF
Der Chemieriese verschärft den Sparkurs am Stammsitz Ludwigshafen. Wie viele Stellen gestrichen werden sollen, gab BASF bisher nicht bekannt. Fest steht schon jetzt: Der BASF-Stammsitz Ludwigshafen wird kleiner werden, soll aber auf lange Sicht der größte Produktionsstandort des Konzerns bleiben. Vor einem Jahr hatte der scheidende Konzernchef Brudermüller bereits harte Einschnitte angekündigt, um das Unternehmen wetterfest zu machen. Ihnen sollten weltweit 2600 Stellen zum Opfer fallen, knapp zwei Drittel davon in Deutschland. Der Konzern zählte zum Jahresende weltweit rund 112.000 Beschäftigte. In Deutschland 51.400, davon 38.700 in Ludwigshafen.
· Evonik
Der Spezialchemiekonzern reagiert mit einem forcierten Abbau von Stellen auf die Branchenkrise. Evonik will bis 2026 bis zu 2000 der aktuell rund 33.000 Arbeitsplätze streichen, rund 1500 davon in Deutschland.
· Lanxess
Der Kölner Spezialchemiekonzern will angesichts schwacher Geschäfte im Zuge seines Sparprogramms weltweit 870 Stellen abbauen, davon 460 Stellen in Deutschland.
Familienunternehmen
· Kärcher
Der Reinigungsgerätehersteller Kärcher will seinen Geschäftsbereich Kärcher Municipal von Reutlingen nach Lettland verlagern. Etwa ein Viertel der Stellen des Spezialfahrzeugherstellers sind davon betroffen.
· Miele
Der Haushaltsgeräte-Hersteller will bis zu 2700 von 23.000 Stellen streichen. Allein am Standort Gütersloh sind 700 Beschäftigte betroffen, weil die dortige Produktion von Waschmaschinen fast komplett nach Polen verlegt wird. Grund für die Maßnahme bei Miele sei der "weltweite Einbruch der Nachfrage nach Hausgeräten sowie die drastischen Preissteigerungen auf der Kostenseite", so das Unternehmen. "Ich bin seit 1999 im Unternehmen, und wir haben seitdem mehrere sehr herausfordernde Phasen erlebt. Aber nicht mal die Finanzkrise von 2008/09 hat sich bei uns so gravierend bemerkbar gemacht", so schildert der Konzernchef von Miele, Markus Miele, die aktuelle Lage im Interview mit der "Zeit". Jede Sparte des Haushaltsgeräte-Herstellers sei betroffen. "Von den verkauften Stückzahlen her haben wir im vergangenen Jahr das gesamte Wachstum von mehr als fünf Jahren verloren."
· Stihl
Das Traditionsunternehmen Stihl aus Baden-Württemberg ist für seine Motorsägen bekannt. Es hat bereits sein Neubauprojekt in Ludwigsburg auf Eis gelegt und erwägt nun eine Ansiedlung in der Schweiz. "Die Mitarbeiter in der Schweiz verdienen mehr Geld, aber die Gesamtkosten, die sich aus Abgaben, Steuern, Energiekosten und so weiter zusammensetzen, führen dazu, dass die Produktion in der Schweiz mittlerweile tatsächlich günstiger ist als in Deutschland", sagt Aufsichtsratsvorsitzender Nikolas Stihl in der ARD. In einer aktuellen Pressemitteilung hat das Unternehmen angekündigt, dass das Unternehmen künftig in Rumänien Akkus für die Geräte von Stihl herstellen will. Das Werk wird 700 Mitarbeiter beschäftigen. Mit der Entscheidung stärkt das Unternehmen einen weiteren Standort außerhalb von Deutschland. Aktuell hat Stihl etwa 6.000 Mitarbeiter in ganz Deutschland.
· Viessmann
Das Familienunternehmen Viessmann hat Anfang des Jahres den Verkauf seiner Klimasparte einschließlich der zukunftsträchtigen Wärmepumpen an den US-Konzern Carrier Global abgeschlossen. Für die mit Abstand größte Unternehmenssparte mit rund 12.000 Beschäftigten haben die Nordhessen 20 Prozent des Kaufpreises von zwölf Milliarden Euro in Form eines Aktienpakets erhalten. Der Verkauf des deutschen Wärmepumpen-Marktführers mitten in der angestrebten Heizwende hatte im April vergangenen Jahres politisches Aufsehen erregt. Mit dem Deal geht das Kerngeschäft des 1917 gegründeten Heizungsbauers Viessmann im rund fünfmal so großen Carrier-Konzern auf.
Laut der Deutschen Industrie- und Handelskammer investieren Unternehmen immer häufiger aus Kostengründen lieber im Ausland. "Das ist ein alarmierendes Signal und zeigt, dass Deutschland als Produktionsstandort wieder attraktiver werden muss", teilt der Verband kürzlich mit und verwies auf eine Umfrage unter rund 1900 Unternehmen. 35 Prozent der Firmen mit Investitionsplänen im Ausland nannten Kostenersparnisse als ihr Hauptmotiv. "Einen solch hohen Wert gab es zuletzt im Jahr 2008", sagte Ilja Nothnagel, Mitglied der DIHK-Hauptgeschäftsführung. Eigentlich seien Auslandsinvestitionen immer auch dem Standort Deutschland zugutegekommen, so Nothnagel. "Doch das Blatt ist dabei, sich zu wenden: Immer mehr Betriebe investieren mittlerweile im Ausland, weil für sie der Standort Deutschland zu teuer und kompliziert ist. Die wandern auf Kosten des Standorts Deutschland ab."
Sowohl Wirtschaftsminister Robert Habeck als auch Finanzminister Christian Lindner hatten den Standort Deutschland zuletzt als nicht mehr wettbewerbsfähig bezeichnet. Die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP haben allerdings unterschiedliche Vorstellungen, wie am besten auf die Misere reagiert werden sollte.
Quelle: ntv.de, mit dpa/rts