Wo man nach den Sternen greift Ausfahrt im neuen Rolls-Royce Phantom
16.10.2017, 16:11 Uhr
Rolls-Royce hat den Phantom neu aufgelegt. Optisch wirkt der Brite dennoch vertraut.
Rolls-Royce-Besitzer sind zu bedauern. Von ihrem Platz aus – meist auf einem Fondsessel – haben sie nur mäßige Aussicht auf die prachtvolle Kühlerfigur ihres Wagens. Die Kraft und die Herrlichkeit des "besten Autos der Welt" erlebt man besser hinterm Lenkrad.
Downsizing und Plattformstrategie, Leichtbau und ein Spitzentempo von über 250 km/h – worauf andere Hersteller inzwischen viel Wert legen, ist für Rolls-Royce vollkommen belanglos. Groß, schwer, handgefertigt aus edelsten Werkstoffen und für die meisten Zeitgenossen unerschwinglich – auch die achte Generation des Modells Phantom erfüllt das, was man von ihr erwartet.
Genau genommen gibt es sogar eine bescheidene Form von Downsizing am Phantom, denn der mächtige und kantige Kühlergrill – seit jeher Ausdruck von Kraft, Eleganz und Selbstbewusstsein, auch des Besitzers - ist eine Idee schlanker geworden und sein abgerundeter Rahmen fließt harmonisch in die Gesamtstruktur hinein. Etwas weniger als zuvor gibt es auch bei der Fahrzeuglänge. 5,98 Meter für die Version mit gestrecktem Radstand bewahren die Chauffeure chinesischer Kunden davor, für den Betrieb des Wagens einen Lkw-Führerschein vorweisen zu müssen.
Absage an Plattform-Konzepte
Eigenständigkeit und Manufaktur-Konzeption sind bedeutende Markenwerte für Rolls-Royce. "Wir haben uns bewusst davon verabschiedet, irgendwelche Plattformen oder Bodys zu benutzen, weil es aus Sicht unserer Kunden auch gar nicht anders sein kann", sagt Firmenchef Torsten Müller-Ötvös. "Wenn schon Rolls-Royce, dann absolut eigenständig." Vor rund fünf Jahren haben Designchef Gilles Taylor und sein Team mit den ersten Skizzen für die Karosserie begonnen. Sie ist in der "kurzen" Variante 5,76 Meter lang, bei 3,55 Metern Radstand. In fließender Harmonie präsentiert sich das Heck des neuen Phantoms.
Ein weicher Schwung nimmt an der Oberkante des Fensters – wo jetzt die Antennenfinne sitzt – Anlauf und gleitet elegant herunter bis zu den Rückleuchten. Gegenläufig öffnende Fondtüren bleiben Kennzeichen des Spitzen-Rolls. Wer zu den Auserwählten gehört, den Innenraum betreten zu dürfen, kann nach den Sternen greifen. Über ihm wölbt sich der größte Funkel-Himmel, der je in einer Limousine zu beobachten war. Ein Glasfaserkabel ist in genau 1344 zarte Fäden aufgefächert, jede LED-Quelle ist einzeln ansteuerbar, um individuelle Muster auf den Dachhimmel zaubern zu können.
Wie Rolls-Royce den Begriff "Kunst am Bau" definiert, ist nicht nur an der handgemalten "Coach-Line" zu erkennen, die auf Wunsch an den Flanken des Fahrzeugs angebracht wird. "The Gallery" lautet das Konzept der Armaturenbrettgestaltung, wo auf der Beifahrerseite hinter einer transparenten Glasfläche individuelle künstlerische Hervorbringungen aus Holz, Edelmetall oder anderen erlesenen Materialien ihren Platz finden. Monitore für die Überwachung und Steuerung vieler Sicherheits- und Komfortfunktionen werden dadurch nicht überflüssig.
Nur keine Mühe aufkommen lassen
Auch wenn mittlerweile BMW-Motorentechniker das Zepter führen, bleibt das Maß "Sechs-Dreiviertel-Liter" als ur-traditionelle Größe für den Hubraum englischer Luxus-Karossen erhalten. Bis 1998 wurde die Leistung von Rolls-Royce-Fahrzeugen werksseitig pauschal mit "ausreichend" angegeben, heute weiß man es genauer: Auf zwölf Zylinder verteilt werden in dem aufgeladenen Aggregat 571 PS zubereitet, was einem Zuwachs von rund 110 Pferdestärken entspricht. Gleichzeitig stieg das Drehmoment auf 900 Newtonmeter.
Der 2,5-Tonnen-Trumm wird damit in 5,3 Sekunden auf 100 Stundenkilometer beschleunigt, und zwar "mühelos", wie der Hersteller gern betont. Wer die britische Verbrauchsangabe von Meilen je Gallone auf festlandeuropäische Maßeinheiten umrechnet, kommt auf etwa 14 Liter auf 100 Kilometer. Hybridantrieb ist keine Option für Rolls-Royce. "Entsprechend der vorgestellten Studie Vision 100 denken wir, dass die künftige Stoßrichtung der Marke klar in Richtung eines elektrischen Antriebs geht und es keine Zwischenschritte wie Hybridantrieb braucht", sagt Müller-Ötvös.

Der Himmel unter dem Himmel eröffnet sich für Reisende in einem Rolls-Royce Phantom erst in der zweiten Reihe.
"Effortless", mühelos, ist ein zentraler Begriff des Marketing-Vokabulars bei Rolls-Royce. Dass die Bereitstellung von 571 PS ohne Anstrengung Vortrieb gewährleistet, ist leicht vorstellbar. Der Tritt aufs Gaspedal lässt dem Auslöser noch einen Wimpernschlag Bedenkzeit, ob die folgende Urgewalt der Beschleunigung tatsächlich gewünscht ist. Doch "effortless" dient auch als Begründung für den Verzicht auf technische Merkmale. Ein einstellbares Fahrwerk und verschiedene Dämpfungsmodi hätten, so die Erklärung, den unangestrengten Charakter höchst komfortabler Beförderung womöglich beeinflussen können. Niemand muss oder kann etwas einstellen, alles funktioniert automatisch und das auch gleich mit den voluminösesten Luftfederungs-Bälgen, die je im Pkw-Bau Verwendung fanden.
Tiefenentspannt am Volant
Die Besonderheit einer Selbst-Fahrt im Phantom geht nicht allein von der Tatsache aus, stets die wohl berühmteste Kühlerfigur der Automobil-Geschichte im Blickfeld zu haben. Das bewusst etwas altbackene Design des Lenkrades, das zwar einen etwas dickeren Kranz bekommen, aber immer noch einen Durchmesser von 42 Zentimetern hat, trägt ebenfalls einen gehörigen Teil dazu bei. Hinzu kommt, dass die Lenkunterstützung enorme Kräfte entfalten muss, um die Vorderräder mit dem rund 310 Kilogramm schweren Zwölfzylinder dazwischen beweglich zu halten. An Sensibilität und Präzision fehlt es der Lenkung nicht, wohl aber an Rückmeldung und der Fähigkeit, ein Gefühl von Nähe zur Fahrbahn aufzubauen. Die in der Entwicklungsphase intensiv diskutierte Idee eines Allradantriebes wurde wieder verworfen, weil sie zusätzliche 80 bis 90 Kilogramm ungefederte Masse auf die Vorderachse geladen hätte.
Dass der Wagen sich dennoch recht wendig anfühlt, ist den bis zu einem Einschlagwinkel von drei Grad mitlenkenden Hinterrädern zu verdanken. Den seidenweichen Lauf des Sechsdreiviertelliter-Zwölfzylinders erlebt man dagegen am anschaulichsten im Stand: Deckel öffnen und eine Münze hochkant auf die Domstrebe über der Motorabdeckung stellen.
Derjenige, der das Gehalt des Chauffeurs bezahlt, sollte deshalb stets darauf achten, dass der Fahrer genügend Schlaf bekommt. Die Überlandfahrt mit dem Phantom ist nämlich derart mühelos (da ist es wieder!), dass Müdigkeitserscheinungen fast unausweichlich sind. Tiefenentspannt genießt man die Geräuscharmut hinter sechs Millimeter dickem Verbundglas, das gelegentliche Surren eines der rund 100 elektrischen Stellmotoren oder die lautlose Tätigkeit von 48 sogenannten Controllern, die als Steuereinheiten die elektronischen Segnungen in der Balance halten.
Profane Kategorien wie Sparsamkeit sind den Rolls-Royce-Kunden von jeher fremd und angesichts der zu erwartenden Stückzahlen kann als gesichert gelten, dass die Phantoms auch bei einem CO2-Ausstoß von 319 Gramm je Kilometer den Klimawandel nicht verschärfen werden. Exakt 446.250 Euro sind in Deutschland für den Phantom "von der Stange" zu entrichten, der selbst ohne verwirklichte Sonderwünsche übliche Luxus-Vorstellungen bei Weitem übertrifft. Mit verlängertem Radstand werden daraus 535.500 Euro. Das Bemühen der BMW-Tochter, "die Marke hochgradig exklusiv zu halten", wie es Müller-Ötvös ausdrückt, darf also als gelungen angesehen werden.
Quelle: ntv.de