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Irre schwierig zu schalten Mercedes 710 SS - nicht nur auf der Mille Miglia fancy

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Kleine Spielerei mit dem Smartphone. Der millionenschwere Mercedes 710 Supersport sieht auch auf dem Telefondisplay fesch aus.

Kleine Spielerei mit dem Smartphone. Der millionenschwere Mercedes 710 Supersport sieht auch auf dem Telefondisplay fesch aus.

(Foto: Mercedes)

Sie denken, Dinge wie Kickdown und Kompressoraufladung sind Features der Neuzeit? Von wegen, hatte Mercedes schon in den 1920er Jahren. ntv.de saß am Steuer des 710 Supersport mit Aufladung und steuerte den Vorkriegs-Benz im Rahmen der Mille Miglia in Richtung Rom.

Mercedes-Oldtimer sind Teil unseres Straßenbildes, gar keine Frage. Aber Fahrzeuge der Vorkriegsära? Schwierig. Motorisierte Kutschen heißt es oft von Halbwissenden, seien Autos aus dieser Epoche, unglaublich kompliziert zu fahren und vor allem zu warten. ntv.de wollte diesem Befund auf den Grund gehen (bis auf die Sache mit der Wartung) und hat dazu einen 710 Supersport mit Roots-Gebläse entführt.

In der Halle wird geschoben, hier darf der große Sechszylinder vorübergehend ruhen.

In der Halle wird geschoben, hier darf der große Sechszylinder vorübergehend ruhen.

(Foto: Mercedes)

Und wo kann man Autos aus den 1920er Jahren idealerweise über eine richtig lange Strecke bewegen? Natürlich, auf der ganz grob gesagt von Brescia über Rom und die Toskana wieder zurück nach Brescia führenden Mille Miglia, wo das Starterfeld aus Vehikeln besteht, die zwischen den Jahren 1927 und 1957 zugelassen sein müssen. Und es ist auch noch vorgeschrieben, welche Modelle genau an den Start dürfen - nämlich nur solche, die an der zeitgenössischen Mille teilgenommen haben.

Freilich hätte es auch Spaß gemacht, den betagten Kompressor-Benz ganz in Ruhe auf der Schwäbischen Alb spazieren zu fahren, aber Mercedes zog die berühmte Rallye vor, die in Form einer Neuauflage seit fast 50 Jahren alle zwölf Monate abgehalten wird auf der Originalroute - mit den Autos eben, die damals mitfuhren.

Also gebe ich mich dem Abenteuer hin, mache allerdings keine 1600 (das ist die Distanz der kompletten Mille), sondern nur wenige Hundert Kilometer mit. Ich teile mir das Cockpit mit Marcus Breitschwerdt, dem Chef der Mercedes-Benz Heritage. Natürlich überlasse ich ihm das Feld nicht komplett als Beifahrer, sondern bestehe nach vorheriger kurzer Probefahrt darauf, das große Holzsteuerrad mitunter selbst bewegen zu dürfen. Ist ja wohl klar.

Roter Teppich für noble Autos: Der Mercedes 710 Supersport rollt an den Start der Mille Miglia.

Roter Teppich für noble Autos: Der Mercedes 710 Supersport rollt an den Start der Mille Miglia.

(Foto: Mercedes)

Der offene Sportler mit knapp 100 Jahren auf dem Buckel hat es in sich. Die Baureihe W06 mit der etwas sperrig klingenden Zusatzbezeichnung "27/170/225 PS" (sie gibt die Steuerklasse an sowie die Leistung ohne und mit Kompressor-Aktivität) ist mit Vorsicht zu genießen. Also 225 PS bietet der offene Bolide - darüber kann man heute nur müde lächeln, war 1930 aber irrwitzig stark. Und da die Leistung einem 7,1 Liter großen Reihensechszylinder mit riesigem Einzelzylindervolumen entstammt, entwickelt die Maschine schon im unteren Drehzahlbereich mächtig Drehmoment, nämlich 453 Newtonmeter bei gerade 1900 Umdrehungen.

Dieses Drehmoment macht mir das Leben mit dem Kompressor ein bisschen einfacher. Denn: Schalten wird hier zur fast unmöglichen Angelegenheit. Zumindest, wenn man sie geräuschlos erledigen will. Stichwort umsynchronisiertes Getriebe. Der erste Gang lässt sich im Stand noch ohne Knirschen einlegen, danach wird leises Schalten zur Kunst. Doppeltes Kuppeln beim Hochschalten nach Lehrbuch - kann man machen. Aber dann das richtige Match von Drehzahl und Tempo finden? Das wird zum Geschicklichkeitsspiel. Aber gut, nach ein bisschen Training gelingt zumindest das Hochschalten so gut, dass das Getriebe überleben kann.

Vorkriegs-Benz macht knapp 200 km/h

Hier rollen die Mechaniker den 710 Supersport zur technischen Abnahme.

Hier rollen die Mechaniker den 710 Supersport zur technischen Abnahme.

(Foto: Mercedes)

Andererseits muss man eben gar nicht so oft schalten dank des machtvollen Aggregats unter der gigantischen Haube. Der 710 ist so lang übersetzt, dass der zweite Gang auf der Landstraße in der Regel locker reicht. Und wenn das Herunterschalten (hier gefühlvoll mit Zwischengas) partout nicht gelingen will, muss man bloß kurz anhalten, um wieder aus dem Stand anzufahren.

Doch den größten Spaß macht es, den Kompressor zu aktivieren. Wie das geht? Einfach per Kickdown - also das Gaspedal über den deutlich spürbaren Druckpunkt hinaus niederdrücken. Dann klingt der Riesen-Reihensechser mit Königswellen zum Nockenwellenantrieb infernalisch, lässt heulend-sirrend seine Drehzahl steigen und schiebt mit urgewaltiger Vehemenz. Und erreicht Geschwindigkeiten, die das Fahrwerk kaum verarbeiten kann. Merkt man, wenn der um die zwei Tonnen wiegende Mercedes beim Überrollen einer Bodenwelle einfach mal unverhofft furchteinflößend versetzt. Laut Datenblatt macht der Bolide rund 200 Sachen - kaum vorstellbar, wie er dann noch beherrschbar sein soll.

Pioniergeist war und ist die Stärke von Mercedes

Mühsam durch die Kurve - man muss schon enorme Kräfte aufbringen, um den fast 100 Jahre alten Mercedes zu lenken.

Mühsam durch die Kurve - man muss schon enorme Kräfte aufbringen, um den fast 100 Jahre alten Mercedes zu lenken.

(Foto: Mercedes)

Das Bremspedal für die per Gestänge angesteuerten Trommeln befindet sich übrigens auf der rechten Seite und das Gaspedal in der Mitte, daran gewöhnt man sich aber schnell. Und der dicke Echtholzkranz alias Lenkrad muss auf Dauer wohl einen dicken Bizeps machen.

Ob lange Fahrten im 710 empfehlenswert sind, sagt einem dann die Lunge. Denn Unterhaltungen gelingen lediglich mit tiefem Luftholen und Anschreien gegen den Fahrtwind.

Aber Marcus Breitschwerdt und ich müssen gar nicht viel reden während der Fahrt, sind uns sowieso einig: Beispielsweise darüber, dass Innovationskraft und Pioniergeist schon immer die Stärken von Mercedes-Benz waren. Welches in größerer Serie gebaute Fahrzeug hatte vor 100 Jahren schon eine per Kickdown betätigte Kompressoraufladung?

Gleiches gilt für den Viertaktmotor mit Benzindirekteinspritzung wie beim 300 SL obligatorisch - ebenfalls bei der diesjährigen Mille Miglia in mehrfacher Ausführung dabei. Auch Sicherheits- und Komfortfeatures wie elektronisches Antiblockiersystem (erstmals 1978 in der S-Klasse) oder der aktive Tempomat (1999) waren Innovationen, die anfangs lediglich bei Mercedes zur Verfügung standen.

Der Mercedes EQXX ist ebenso ein Hingucker wie der betagte 710 Supersport mit Kompressor. Seine Innovation besteht in der hohen elektrischen Reichweite von mehr als 1000 Kilometern.

Der Mercedes EQXX ist ebenso ein Hingucker wie der betagte 710 Supersport mit Kompressor. Seine Innovation besteht in der hohen elektrischen Reichweite von mehr als 1000 Kilometern.

(Foto: Mercedes)

Und heute? Mercedes hat vorsorglich das alltags- und langstreckentaugliche sowie offenbar obendrein auch noch zuverlässige Concept EQXX auf die begleitende "1000 Miglia Green" mitgenommen als neuzeitlichen Hingucker. Hier startete etwa ein Dutzend elektrisch angetriebener Fahrzeuge verschiedener Fabrikate. Diese Autos legten eine ähnliche Strecke analog zur klassischen Mille zurück, um zu zeigen, was in der Zukunft möglicherweise State of the Art sein wird. Kein Kandidat außer dem spacig aussehenden Benz schafft allerdings über 1000 Kilometer mit einer einzigen Akkuladung und kann die Mille Miglia demnach locker mit einem einzigen Ladestopp unterwegs bestreiten.

Die Stromlinienform beschert dem EQXX maximale Effizienz. Was er bei der Mille Miglia zu suchen hat? Mit der grünen Variante des Autorennens haben die Verantwortlichen das richtige Format für den lautlosen Benz geschaffen.

Die Stromlinienform beschert dem EQXX maximale Effizienz. Was er bei der Mille Miglia zu suchen hat? Mit der grünen Variante des Autorennens haben die Verantwortlichen das richtige Format für den lautlosen Benz geschaffen.

(Foto: Mercedes)

Nur zu schade, dass zumindest auf der ersten Etappe der Mille keine Ladestation auf der Route lag. Nicht, dass ein kleiner Umweg problematisch wäre - aber den äußerst bunten Konvoi der Mille Miglia mit Fahrzeugen aus vier Jahrzehnten will man sich als Autoenthusiast keinesfalls entgehen lassen. Und der Umstand, dass man hier Autos verpasst, schmerzt neben der chronischen Schlaflosigkeit. Denn die rund 400 teilnehmenden Autos bekommt man einfach nicht alle zu Gesicht. Weder beim Start in der Messehalle von Brescia noch beim Mittagsstopp welcher Etappe auch immer.

Dafür habe ich den Kompressor-Mercedes ganz gut kennengelernt auf dem ersten Teilstück. Nur der Umgang mit dem anspruchsvollen Vierganggetriebe ohne jegliche Synchronisierung will noch einmal trainiert werden. Vielleicht ja beim Date mit dem noch älteren und weniger leistungsstarken Mercedes Typ 400? Dann aber wirklich auf der Schwäbischen Alb. To be continued.

Quelle: ntv.de

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