
Des einen Freud, des anderen Leid? Über Dreadlocks wird derzeit viel diskutiert.
(Foto: picture alliance / GES/Gwendolin Schmidt)
Die Ausladung der Musikerin Ronja Maltzahn durch Fridays for Future entfacht eine Debatte über Sinn und Unsinn kultureller Aneignung. Dabei geht es nicht nur um ihre Frisur. Denn die Frage, wie verschiedene Kulturen aufeinander wirken, ist deutlich komplexer.
Die Empörung war vorprogrammiert. "Es ist für uns nicht vertretbar, eine weiße Person mit Dreadlocks auf unserer Bühne zu haben", schreiben die Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future Hannover. Gerichtet ist die Nachricht an Musikerin Ronja Maltzahn, die eigentlich beim "globalen Klimastreik" vor rund einer Woche auftreten sollte und nunmal - das ist offensichtlich - weiß ist und Dreadlocks trägt.
Aufhänger des Shitstorms war dabei nicht nur der, bestenfalls als unglücklich zu bezeichnende Tonfall a lá "Schneid dir die Haare ab, dann darfst du spielen". Vielmehr ging es den zahlreichen Kommentatoren um die Sache an sich. Die Frage, ob ein weißer Mensch mit Dreadlocks dem "antikolonialistischen und antirassistischen Narrativ", wie es Fridays for Future ausdrückt, entgegensteht, wurde als absurd erklärt, manch einer witterte gleich den neusten Auswuchs einer "woken" Verbotsideologie. Dabei ist die Debatte um kulturelle Aneignung, denn darum geht es letztendlich, keinesfalls so einfach abzuspeisen, wie es einigen scheint.
Der Vorwurf gegen Maltzahn ist nicht neu. Kim Kardashian musste sich aufgrund ihrer "Cornrows"-Flechtfrisur bereits ähnliche Vorwürfe gefallen lassen. Auch Justin Bieber wurde, nachdem er sich mit verfilzten Haaren ablichten ließ, kulturelle Aneignung nachgesagt. Insbesondere in den USA kocht das Thema seit Jahren immer wieder hoch, aber auch hierzulande wird nicht erst seit der Ausladung durch Fridays for Future diskutiert, wer was tragen oder tun darf - und wer nicht.
Bei kultureller Aneignung geht es um Macht
Kulturelle Aneignung, das meint die Übernahme von Aspekten einer Kultur in die andere. Nun existieren einzelne Kulturen nicht unter Glaskuppeln: Die globalisierte Welt lebt vom Austausch, gesellschaftliche Eigenheiten lassen sich heutzutage kaum noch separieren. Wir nutzen arabische Zahlen, gehen zum Yoga-Kurs und tanzen zur Musik von Künstlerinnen und Künstlern aus aller Welt. Treibt man kulturelle Aneignung auf die Spitze, dürften Deutsche demnach kein Hummus mehr essen, sondern es wären nur noch Sauerkraut und Kartoffeln am Esstisch erlaubt - oder?
Man kann es sich einfach machen und die Debatte so schnell ad absurdum führen. Es lohnt sich allerdings ein zweiter Blick. Denn worauf das Konzept der kulturellen Aneignung eigentlich hinaus will, ist das Machtgefälle zwischen den Kulturen. Der Vorwurf: Allzu oft macht sich eine dominante Gruppe, die in unserer Gesellschaft nunmal die der Weißen ist, Symbole, Mode oder andere Merkmale einer marginalisierten Kultur zu eigen. Um sich damit zu schmücken, diese zu kommerzialisieren, kurzum, daraus (ungefragt) Nutzen zu ziehen.
So verkleiden sich jedes Jahr an Karneval Menschen als Native Americans, ziehen sich zur allgemeinen Belustigung den passenden Lendenschurz an, präsentieren sich mit Federschmuck und geben bestenfalls noch entsprechende Laute von sich. Das ignoriert nicht nur jede historische Korrektheit, immerhin ist die indigene Kultur von enormer Vielfalt geprägt, sondern es werden Stereotype von Menschen reproduziert, deren Degradierung als "Wilde" eine kollektive Abschlachtung durch die europäischen Kolonialisten zur Folge hatte - der Grundstein des heutigen Nordamerikas, indem die Nachfahren indigener Völker noch immer Diskriminierung erfahren.
Die Last der Diskriminierung
Der Kulturtheoretiker Greg Tate nennt das in seinem gleichnamigen Buch: "Everything but the Burden" ("Alles, außer die Last"). Demnach übernehmen weiße Menschen kulturelle Aspekte anderer, außer die damit verbundene "Last" der Diskriminierung zu tragen. Denn wer von anderen als "weiß" gelesen wird, profitiert von den gesellschaftlichen Verhältnissen. Man läuft nicht Gefahr, aufgrund der Hautfarbe im Alltag diskriminiert zu werden, deswegen keine Wohnung zu finden oder von rassistischen Polizeikontrollen betroffen zu sein. Bedienen sich diese ohnehin privilegierten Menschen dann auch noch an Dingen, für die Nicht-Weiße Nachteile erleben, ist das aus Sicht vieler Kritiker kulturelle Aneignung.
Im Fall der Dreadlocks beschreibt das der Journalist Malcolm Ohanwe auf Twitter wie folgt: "Viele schwarze Menschen in Deutschland, die mit ihrem krausen Haar Dreadlocks trugen, wurden in der Schule mit Tierlauten angesprochen, angespuckt, als Affe beleidigt. Deswegen kann es für sie verletzend sein, jemanden zu sehen, der Dreads einfach als Kunst-Accessoire trägt."
Auch wenn Dreadlocks bereits vor Tausenden von Jahren von Menschen auf der ganzen Welt getragen wurden, ist ihre heutige Verbreitung auf die jamaikanischen Rastafaris der 1930er zurückzuführen. Ihre Filzlocken stellten damals eine Abgrenzung zum importierten Schönheitsideal der weißen Kolonialmacht dar. Aus dieser Zeit stammt auch der sich aus der weißen Reaktion abgeleitete Name: "Dread", zu Deutsch "Furcht".
Für Ohanwe spielt es jedoch eine untergeordnete Rolle, welches Volk die Frisur zuerst trug. "Spannender ist, warum tun es so viele weiße Pop-Musiker? Die orientieren sich sehr wohl an Schwarzen Vorbildern und assoziieren mit den Haaren Kiffen, 'Freiheitlichkeit' und Leichtigkeit". In anderen Worten: Alles, außer die Last.
Dass sich weiße Menschen die Haare aber grundsätzlich nicht verfilzen lassen sollten, findet die Afrikanistin und Ethnologin Maimouna Jah dennoch falsch. "Aber wenn sie die Frisur Dreadlocks nennen, dann müssen sie sich auch auf den Kampf, den diese Bewegung getragen hat, beziehen - oder zumindest Stellung dazu beziehen", sagt sie im Deutschlandfunk. Denn Dreadlocks sind ein Symbol des Widerstands, auf den sich viele schwarze Menschen noch heute beziehen. Zugleich ist die Meinung schwarzer Menschen zu dem Thema ganz sicher nicht unisono.
Die "eine" Kultur?
Das führt zu einem Problem, welches dem Konzept der kulturellen Aneignung obliegt. In westlichen Gesellschaften wie in den USA erleben sicherlich alle schwarzen Menschen auf irgendeine Weise Diskriminierung. Die äußert sich bei einem Barack Obama jedoch anders als bei einer in Armut lebenden Familie aus der Bronx. Die Annahme, es gäbe eine einheitliche schwarze Kultur, entbehrt daher jeder gesellschaftlichen Komplexität. "Damit wird ethnische Zugehörigkeit essenzialisiert, das bedeutet, es wird unterstellt, schwarze Menschen würden einzig und allein aufgrund ihrer Hautfarbe bestimmte Eigenschaften miteinander teilen", schreibt der Soziologe Jens Kastner im Deutschlandfunk. Das widerspricht nicht nur dem "antirassistischen Narrativ" von Fridays for Future, es besteht laut Kastner die Gefahr einer Rückkehr zur Kategorisierung von Menschen und damit der Stärkung rassistischer Stereotype.
Der Soziologe Lars Distelhorst versucht, den Widerspruch zu lösen. Er sieht in dieser unterkomplexen Darstellung von Kultur eine strategische Notwendigkeit. "Wenn ich gegen Rassismus protestieren will, muss ich die Begriffe betonen, die ich eigentlich abschaffen will", sagt er dem "Spiegel". Nur eine politische Gruppe habe demnach auch Handlungsspielraum, individuell lasse sich keine Veränderung voranbringen.
Genau diese Individualisierung ist es, die kulturelle Aneignung so angreifbar macht. Es schützt keinen schwarzen Menschen vor rassistischen Polizeikontrollen, wenn sich Maltzahn die Haare abrasiert. Wenn Yoga-Kurse aus vermeintlicher Rücksichtnahme als anmaßend erklärt werden, wie an einer kanadischen Universität geschehen, sorgt das nicht nur für breites Unverständnis, sondern scheint auch über das eigentliche Ziel hinauszuschießen.
Kulturelle Aneignung ist ein strukturelles Problem
"Verzicht ist eine nette, individuelle Geste, aber kulturelle Aneignung ist ein strukturelles Problem", betont Distelhorst. Ihm geht es in der Debatte auch darum, über Beutekunst in europäischen Museen zu sprechen, die bis heute nicht zurückgegeben wurde. Auch kritisiert er Pharmakonzerne, "die auf der Suche nach traditionellem Wissen, das sie patentieren können und mit dem sie verdienen, über den asiatischen oder afrikanischen Kontinent rasen."
Wenn die dominante Gruppe Profit aus den kulturellen Errungenschaften anderer schlägt, wird es also problematisch. Die Antwort darauf ist allerdings nicht, dass sich Kulturen voneinander abkapseln. Das wäre auch gar nicht möglich. Im Idealfall sollte am Ende eine kulturelle Anerkennung, eine gegenseitige Wertschätzung auf Augenhöhe stehen. Dafür müssten sich aber auch die Strukturen ändern, in denen unsere gesellschaftlichen Machtverhältnisse manifestiert sind. Forderungen, die sich aus dem Konzept der kulturellen Aneignung ergeben, sind daher: Die eigenen Privilegien hinterfragen und auf Stimmen aus entsprechenden Communitys hören.
Natürlich sind Weiße, die Dreadlocks tragen, noch lange keine schlechten Menschen. Nur was für sie rein ästhetischen Wert besitzt, ist für andere ein tieferer Ausdruck der eigenen Identität. Darüber sollten sie sich zumindest bewusst sein. Die Selbstreflexion ist häufig unbequem - und löst nicht selten eine Abwehrreaktion aus. Im Fall von Fridays for Future ist der Shitstorm inzwischen abgeflaut, die Debatte wird aber weitergehen. Wie sie geführt wird, bleibt abzuwarten. Der Journalist Paul Starzmann bemerkte dazu vor einigen Tagen auf Twitter: "Wie vehement jetzt viele die Dreadlocks einer weißen Frau verteidigen - so viel Support der Mehrheitsgesellschaft dürften sich manche Schwarze auch im Kampf gegen Rassismus wünschen."
(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 03. April 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de